Die Psalmen 42 und 43 bilden ein einziges Gedicht in drei Strophen. Der Refrain 42,6.12 und 43,5 verbindet die beiden Psalmen und trennt die drei Strophen. Die prosaische Überschrift schreibt den Doppelpsalm der Familie Korach zu:
1 Für den Musikmeister; ein Maskil (kunstvolles Lied), von den Korachiten.
Die Familie Korach gehört nach Ex 6,21.24 zum Priesterstamm Levi. Das Familienhaupt Korach wagt in Num 16 einen Aufstand gegen Mose und Aaron, worauf ein Strafgericht über seine Familie kommt, dem aber einige Familienmitglieder entgehen (Num 16,9-11). Der berühmte Sänger Heman war Korachiter (1Chr 6,18.22) und nach 1Chr 25,1.4 Haupt einer levitischen Sängergilde. Im Psalter werden die zwölf (!) Psalmen 42-49 und 84-85, 87-88 den Korachitern zugeschrieben.
Abgrenzung und Zusammenbindung
Die ersten beiden Strophen von Ps 42 bilden den Psalm 42. Ps 43 ist eine später hinzugedichtete dritte Strophe. Der Refrain Ps 42,6.12 grenzt die beiden Strophen voneinander ab und bindet sie zusammen:
2 Wie eine Hirschkuh, die lechzen muss nach Wasserläufen,
so muss lechzen meine Seele (Kehle) nach dir, Gott.
3 Es dürstet meine Seele nach Gott, nach dem lebendigen Gott!
Wann darf ich kommen, dass ich mich sehen lasse vor dem Angesicht Gottes?
Der Beter vergleicht seinen Seelenzustand mit dem einer Hirschkuh, die mit markerschütterndem Schreien am ausgetrockneten Bachbett nach dem Wasser lechzt, das da eigentlich sein müsste (Joel 1,20). Wie die anmutige Hirschkuh auf Lebenszufuhr durch Wasser angewiesen ist, so braucht der Beter den lebendigen Gott, um leben zu können. Das hebräische Wort näfäsch bezeichnet zunächst die Kehle. Die Kehle des Beters dürstet nach Gott. Schon das griechische Alte Testament und danach das Neue übersetzen näfäsch grundsätzlich mit psyché. Psyché ist das griechische Wort für "Verlangen", "Lebenskraft", "Seele". All dies bedeutet eben auch näfäsch. Der Beter verlangt nach Gott. Er braucht ihn zum Leben, aber er ist nicht da. Der Ausdruck "lebendiger Gott" erinnert einerseits an "lebendiges Wasser" (Hld 4,15; Jer 2,13; 17,13; Joh 4,10f.) – im Hebräischen ein Ausdruck für "fließendes Wasser".
Nähe zu und Ferne von Gott
Andererseits ist ein "lebendiger Gott" eine Bezeichnung für den wahren und wirkmächtigen Gott Israels im Gegensatz zu den stummen Götzen der Heiden (Dan 6,21.27; 14,4f.). "Wann darf ich kommen?", fragt der Beter. Das "wann" drückt den zeitlichen Abstand aus, das "kommen" den räumlichen. "Sich sehen lassen vor dem Angesicht Gottes" meint das Hinaufgehen in den Tempel, die jährliche Wallfahrt nach Jerusalem, um sich dort vor Gott" sehen zu lassen" (Ex 23,17; Lk 2,41). Danach sehnt sich der Beter, denn er ist auch räumlich fern von Gott. In diesem Psalm ist die Geographie immer auch Symbol für seelische Zustände, die Nähe zu und Ferne von Gott.
4 Es wurde mir meine Träne zum Brot tags und nachts,
da man sagte zu mir den ganzen Tag: "Wo ist dein Gott?"
5 Daran will ich denken und muss ausschütten vor mir meine Seele,
dass ich hinüberzugehen pflegte im Wandelgang,
einherschritt mit ihnen zum Hause Gottes
unter Schall von Jauchzen und Dank mit der wallend erregten Menge.
Statt Lebenswasser von außen hat der Beter nur seine eignen salzigen Tränen. Sie sind sein tägliches Brot, das doch nicht nährt. Die Verzweiflung des Beters wird noch geschürt durch Stimmen, die ihm sagen: "Wo ist denn dein Gott?" Diese Stimmen treten auf jeden Fall von außen an ihn heran (V. 11: "sie"), hier aber sind es wohl auch eigene innere Zweifel. Die äußeren Stimmen von V. 11 finden hier in V. 5 Resonanz im Innern. Gott zeigt sich nicht. Er will nun vor sich seine Seele, sein Herz ausschütten. Er hat ja sonst niemanden. In der verzweifelten Gegenwart wendet sich der Beter in V. 5 an die guten Erinnerungen der Vergangenheit, als er mit frohen Scharen "hinaufwallfahrtete" nach Jerusalem. Damals war Gott ihm nahe. Die Erinnerungen von V. 5 geben ihm Kraft zur Selbstermutigung im Selbstgespräch mit seiner Seele:
6 Was solltest du niedergedrückt sein, meine Seele,
und hast dich aufgeregt meinetwegen?
Harre auf Gott, denn noch werde ich ihm danken
die Rettungen von seinem Angesicht (her).
Gottesanrede und Selbstgespräch
Die erste Strophe ist wie alle folgenden ein steter Wechsel von Gottesanrede und Selbstgespräch. Der Refrain (V. 6 und 11 sowie 43,5) nimmt hier aus V. 5 die Stichwörter "Gott", "Seele", "Dank", "Erregung" auf. Statt des frohen Festtumults von früher hat er jetzt nur inneren Seelentumult. Die frohen Vergangenheitserinnerungen haben ihn ermutigt für die bedrückende Gegenwart und so spricht er sich selber in die Zukunft ausgreifende Hoffnung zu: Harre auf Gott! Eines Tages werde ich ihm wieder danken! Dann fragt niemand mehr "Wo ist denn dein Gott?" Viermal hat der Beter in der ersten Strophe "Gott" gesagt, aber nie "mein Gott", denn das war er eben nicht. Die Zweifelstimmen in V. 4 sagten "dein Gott – er ist nicht da!". Die zweite Strophe nun kann sagen: "mein Gott!"
7 Mein Gott, über mir ist meine Seele niedergedrückt. Darum will ich an dich denken
vom Land des Jordan und der Hermongipfel aus, vom kleinen Berg!
8 Untere Flut ruft der unteren Flut zu beim Schall deiner Wasserfälle!
All deine Brandungen und deine Wellen gingen über mich hinweg.
V. 7 nimmt den Kehrvers 6 rückläufig auf: "Gott" – "Seele" – "niedergedrückt sein". Da der Kehrvers in V. 12 wiederkehrt, rahmen also diese Stichwörter die zweite Strophe. Tatsächlich entwickelt sie das Thema der niedergedrückten Seele. Der Beter denkt von Ferne an den abwesenden Gott. Das Empfinden der Ferne in der Seele wird auch durch die Geographie ausgedrückt: Der Hermon und die dort entspringenden Jordanquellen befinden sich am äußersten Nordende des Gelobten Landes – so weit weg vom Jerusalemer Tempel, wie es innerhalb des Landes möglich ist.
Noch ist er nicht der rettende Felsen geworden
Der "kleine Berg" (EÜ: "Berg Mizar", Buber: "geringe[r] Berg) ist wohl kein Eigenname, sondern meint das gewaltige Hermonmassiv, das weit größer ist (über 2.800 m) als der vergleichsweise niedrige Zionsberg (gut 700 m). Für unseren Beter aber ist der ferne Hermon nur ein "kleiner", weil von geringer Bedeutung im Vergleich zum Sehnsuchtsberg Zion, der allein für unseren Beter Größe hat. V. 8 beschreibt nun das gewaltige Naturschauspiel, das man am Hermon sehen kann: Tosende Wasserfälle stürzen auf die unteren Gewässer hinab. Die Sturzbäche des Hermonmassivs sind das Gegenbild zum ausgetrockneten Wasserlauf von V. 2. War dort der Wassermangel die Gefahr, so sind hier die Wassermengen bedrohlich. "Deine Brandungen und Wellen" sind die von Gott kommende Prüfungszeit des Beters.
9 "Tags möge entbieten der Herr seine Loyalität,
und bei Nacht sei bei mir ein Gesang für ihn" ist das Flehen zum Gott meines Lebens.
10 So will ich sagen zu Gott, meiner Steilklippe: "Warum hast du mich vergessen?
Warum muss betrübt ich daher gehen, drangsaliert vom Feind?"
11 Als Todesstoß in meinen Gebeinen schmähten mich meine Bedränger,
da sie sagten zu mir den ganzen Tag: "Wo ist dein Gott?"
In dieser bedrohlichen Situation der Gottferne will der Beter nach V. 7 an Gott denken und geht daher in V. 9 ins Futur über, um den Wunsch neuer Nähe auszudrücken. Dem dient auch, dass er nur hier im ganzen Gedicht "der Herr" sagt, den Gottesnamen aus Ex 3,14, nicht, wie sonst "Gott". Wenn Gott sich tagsüber dem Beter wieder loyal erweist, wird er nachts Lieder der Dankbarkeit singen können. "Tags und nachts" kannte der Beter nach V. 4 nur Tränenbrot. Das soll zukünftig durch Tröstungen ersetzt werden. So fleht er zum "Gott seines Lebens", der ihn wiederbeleben soll. Aber noch hat Gott ihn vergessen. Noch ist er nicht der rettende Felsen geworden, der den Beter vor den herandrängenden Wasserfluten schützen würde. Er gedenkt (V. 7), Gott vergisst (V. 10).
Die höhnischen Fragen, die ihn in V. 4 aus seinem Innern anfochten, kommen in V. 11 von außen und verstärken die Selbstzweifel. Die Frage trifft ihn tödlich bis in die Knochen, weil sie aus seinem Innern Resonanz hat. Der Beter antwortet aber nicht den Bedrängern, die ihn weiter herunterziehen, sondern Gott, den er anspricht. Der Refrain V. 12, dessen letztes Wort dieses Mal aber "mein Gott" ist (anders als in V. 6) beschließt die zweite Strophe wieder mit einem Selbstgespräch.