In Psalm 41 reflektiert ein Beter darüber, wie er aus eigener Macht einst nichts ausrichten konnte, sehr viel dagegen, als er sich auf Gottes Macht verließ. Psalm 41 gliedert sich in drei Strophen, zwischen denen je ein Scharniervers steht, der zwar keinen Refrain bildet, aber doch beide Mal den Herrn namentlich anruft und um Gnade fleht. Die erste Strophe in V. 2-4 ist eine ausgedehnte Seligpreisung. V. 5 ist Scharniervers. Die zweite Strophe, V. 6-10, ist die Klage eines Kranken und Schwachen über seine mächtigen Feinde, die die Schwäche ausnutzen wollen. V. 11 ist Scharniervers. Die letzte Strophe in V. 12-13 berichtet vom Triumph des Schwachen, den Gott ihm bereitet hat. V. 14 ist eine Doxologie (Rühmung), die einerseits Ps 41 abschließt, aber nicht nur diesen, sondern zugleich auch das I. Psalmenbuch (Ps 1–41). Auch die folgenden Bücher werden durch Doxologien voneinander getrennt (Ps 72,18-19; 89,53; 106,48).
2 Selig, wer (diese) Einsicht gewinnt am Schwachen:
Am schlimmen Tag wird ihn entrinnen lassen der Herr.
3 Der Herr wird ihn bewahren und ihn am Leben erhalten,
so dass er seliggepriesen wird im Land:
"Du kannst ihn nicht preisgeben der lebhaften Gier seiner Feinde!"
4 Der Herr wird ihn aufstützen auf dem Siechenbett, (so dass es heißt:)
"All seine Bettlägerigkeit hast du gewendet, als er krank war."
Rettung vor den "gierigen Feinden"
Die Seligpreisung formuliert eine Einsicht. Sie redet Gott noch nicht im Du an. Erst V. 5.11-13 sind Gebet im Du. Auch die Klage V. 6-10 wird Gott vorgetragen. V. 2a preist den selig, der zu einer Erkenntnis kommt. V. 2b-4 formuliert den Inhalt der Erkenntnis. Selig ist, wer einsieht, dass Gott auf der Seite des Schwachen steht, wie er einst die hebräischen Sklaven aus der Hand ihrer ägyptischen Zwingherren befreit hat. Dort, wo Menschenmacht nichts ausrichtet, zeigt sich Gottes Macht. Wer mit einem Armen oder Kranken zu tun hat, hat mit Gott zu tun, denn Gott kümmert sich um ihn.
Wie ein Krankenpfleger wird der Herr ihn aufstützen auf dem Siechenbett. Manche möchten sogar noch den Ausdruck "seine Bettlägerigkeit hast du gewendet" vom Ausschütteln und Umwenden des Bettzeugs durch den Pfleger verstehen. Das ist nicht so wahrscheinlich, kann aber mitgehört werden. Jedenfalls gewährt Gott einem Kranken pflegerische Nähe. Rettung braucht der Schwache gar nicht primär von seiner Schwachheit, sondern von den "gierigen Feinden", die wie die Geier schon über ihm kreisen.
5 Ich (selbst) sagte (einst): Herr, sei mir gnädig, heile meine Lebenskraft, denn ja, ich habe gesündigt gegen dich!
"Teufelszeug ergießt sich über ihn"
Der Beter bekennt, dass sein Lehrsatz V. 2b-4 aus eigener Erfahrung stammt. Er selbst war einst ein solcher Schwacher, dem Gott gegen gierige Feinde beistand. In den V. 6-10 trägt der Psalmist seine einstige Klage vor, die er nicht im Du zu Gott, wohl aber vor Gott geäußert hat. Er war damals in der Lage eines wehrlosen und ohnmächtigen Patienten. Der Krankenpfleger, Gott, zeigte sich vorerst nicht.
6 Meine Feinde sagen (ständig) Schlimmes von mir:
"Wann wird er sterben, dass untergeht sein Name?"
7 Und wenn einer gekommen ist, um (nach mir) zu sehen,
wird Heuchlerisches er reden,
sein Herz wird Verlogenes bei sich sammeln;
er wird hinausgehen auf die Straße, Gerede verbreiten.
8 Zusammen gegen mich flüstern miteinander all meine Hasser.
Gegen mich erdenken sie, was schlimm ist für mich:
9 "Teufelszeug ergießt sich über ihn,
und wer (einmal) daliegt, wird nicht wieder aufstehen!"
10 Sogar der Mann, mit dem ich im Einvernehmen war, auf den ich vertraute,
der mein Brot zu essen pflegte, hat mich schwer hintergangen.
Die Klage über die Feinde, die die Krankheit des Beters ausnutzen wollen, um ihn endgültig zu erledigen, zitiert zweimal direkt ihr übles Reden (V. 6 und 9). V. 6-7 zeigen, dass sie eigentlich seinen Untergang wünschen und untereinander auch offen so reden. Dagegen, wenn einer von ihnen einen Krankenbesuch macht, heuchelt er Freundlichkeit, will aber eigentlich nur nachsehen, wieweit die Krankheit schon fortgeschritten ist. Ohne jedes verbindende "und" reiht er aneinander, was sie tun: reden – sammeln – hinausgehen – verbreiten (V. 7). Diese stakkatoartige Aneinanderreihung "malt die Eilfertigkeit, mit welcher er den gesammelten Verleumdungsstoff stadt- und landkundig zu machen sucht" (Delitzsch). Sie können es nicht schnell genug nach außen tragen und möglichst schlimmer als es ist, wenn sie etwa sagen, er sei so gut wie tot und Geschäfte zum Beispiel brauche man mit ihm nicht mehr zu machen. So untergraben sie noch seine Existenz, die ja ohnehin schon gefährdet ist.
"Herr, sei mir gnädig und lass mich aufstehen"
In V. 8-10 setzt der Beter das vorige fort. Nach den Feinden kommen die gleichbedeutenden "Hasser". Zu ihnen kommt der Krankenbesucher heraus und redet mit ihnen hintenherum. Sie verbreiten flüsternd Gerüchte, die alles andere als ermutigend und aufmunternd sind. Sollte die Umgebung des Kranken ihm Mut zureden, reden sie das kaputt. Sie wollen Hoffnungslosigkeit verbreiten. Sie flüstern, weil sie unredlich sprechen, beteiligt sind aber "alle miteinander". So wollen sie ihm schaden und reden ihn in den Tod hinein, den sie ihm wünschen. "Teufelszeug" hängen sie ihm an und ahnen nicht, dass beim Schwachen und Kranken Gott selbst ist, mit dem sie sich gerade anlegen.
Am schlimmsten aber ist das Verhalten dessen, den er einst für einen Freund gehalten hatte. Dreifach steigernd nennt er ihn einen, mit dem er im Einvernehmen war (schalom), dem er sogar vertraute, ja mehr noch, den er zu sich nach Hause eingeladen hatte, den womöglich die ganze Familie kannte, selbst er hat sich abgewendet, macht gemeinsame Sache mit der Meute und verrät den ehemaligen Freund, der aber jetzt nichts mehr zu bieten hat. Der hier mit "hat mich schwer hintergangen" übersetzte Ausdruck "hat groß gemacht über mich/gegen mich die Ferse". Der bildliche Ausdruck meint wohl so etwas wie "sich von hinten anschleichen, um ein Bein zu stellen und so zu Fall zu bringen".
11 Du aber, Herr, sei mir gnädig und lass mich aufstehen, damit ich ihnen heimzahlen kann!
V. 11 ist der zweite Scharniervers. Gegen den falschen Freund und all die anderen wendet sich der Beter direkt an den einzig verbliebenen Getreuen, Gott selbst. "Herr, sei mir gnädig" wiederholt der Beter aus V. 5. Dort aber zielte er auf Heilung von seiner Krankheit. Hier nun will er die Lösung des Problems der Anfeindungen. Die Feinde sagten in V. 9 "der steht nicht wieder auf"; dagegen erbittet er nun von Gott: "Lass mich aufstehen". Wozu? Um es ihnen heimzuzahlen (hebr. schalem), vor allem dem Mann seines Schalom will er schalem/heimzahlen. Wie? Vielleicht einfach nur durch seine Genesung, die allein schon ihre sämtlichen Pläne scheitern lässt.
12 Daran habe ich erkannt, dass du Gefallen an mir gefunden hast,
dass mein Feind kein Triumphgeschrei über mich ausstoßen darf,
13 du mich aber wegen meiner Integrität aufrecht gehalten
und mich hingestellt hast vor dich auf ewig.
Jesu Verlassenheit und Gottes rettendes Handeln
Trotz aller nun schon länger anhaltenden Bemühungen ist den Feinden noch immer kein Triumph gegönnt. Vielmehr ging es mit dem Kranken aufwärts. Daran erkennt er nun rückblickend, dass Gott auf seiner Seite steht, ja dass sich der Lehrsatz aus V. 2b-4 auch an ihm bewahrheitete: Gott steht beim Armen, und wer sich mit dem Schwachen anlegt, bekommt es mit Gott zu tun. So steht er wieder aufrecht und kann mit der Doxologie schließen:
14 Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels, von Ewigkeit und bis in Ewigkeit! Amen! Ja, Amen!
Die Doxologie schließt einerseits den Psalm selbst ab: die fünfmalige Nennung des Gottesnamens wird mit "Herr, Gott" in V. 14 zur Siebenerreihe vervollständigt (die Zahl sieben bedeutet Vollständigkeit, hier also: vollständige Gottesgegenwart). Zugleich beschließt die Doxologie das erste Psalmenbuch (Pss 1–41). Alle Doxologien im Psalter sind vom Typ der "berakha" (Lobpreisgebet) wie das Benediktus des Zacharias (Lk 1,68) oder die Darbringungsgebete der Messe.
Jesus deutet seine Passion mit Hilfe von Ps 41, wenn er in Joh 13,18 den Tischgenossen, der den Freund hintergeht, explizit auf Judas deutet: "Das Schriftwort muss sich erfüllen: Der mein Brot isst, hat seine Ferse gegen mich erhoben." Schon Markus hatte diese Psalmstelle vor Augen, wenn er in 14,18 schreibt: "Amen, ich sage euch: Einer von euch wird mich ausliefern, einer, der mit mir isst." Davids Verlassenheit im Angesicht des drohenden Todes muss auch Jesus durchleiden, ehe Gott rettend eingreift.