In der dritten Lehrrede geht es um das Verhalten zu Gott (Spr 3,1-12), in der vierten um das Verhalten zum Nächsten (Spr 3,21-34). Erneut begegnen wir der Abfolge von Gottes- und Nächstenliebe. Zwischen die beiden Lehrreden wurde ein Lobpreis über die Weisheit eingeschoben:
3. Lehrrede:
Verhalten zu Gott (3,1-12): "Mit ganzem Herzen vertrau auf den HERRN, bau nicht auf eigene Klugheit!" (V. 5)
Lob der Weisheit (3,13-20):
"Selig der Mensch, der Weisheit gefunden."
4. Lehrrede:
Verhalten zum Nächsten (3,21-34): "Sinne nichts Böses gegen deinen Nächsten, der friedlich neben dir wohnt!" (V.29)
Theologische Grundlegung der Weisheit
Vergleicht man die beiden Lehrreden miteinander, so tritt der Unterschied zwischen dem Verhalten gegenüber Gott und dem Nächsten deutlich hervor. An erster Stelle steht das Vertrauen auf Gott, an zweiter Stelle das angemessene Verhalten gegenüber dem Nächsten. Diese Reihenfolge von erstem und zweitem Gebot ist für das rechte Verständnis der Bibel von grundlegender Bedeutung. Auch Jesus spricht vom ersten Gebot der Gottesliebe und vom zweiten Gebot der Nächstenliebe (Mk 12,28-34). Wird die Reihenfolge vertauscht, gerät die biblische Botschaft in eine Schieflage.
Als Zweites fällt auf, dass das geforderte Vertrauen auf Gott ohne Maß sein soll, während sich die dem Nächsten zu gewährenden Wohltaten nach den eigenen Möglichkeiten zu richten haben. Der Weisheitslehrer fordert den Schüler zu einem Vertrauen auf Gott auf, bei dem er ganz von sich selbst absehen soll. Deutlich sind die Anspielungen an das "Höre Israel!" (Dtn 6,4-9). Es geht um ein bedingungsloses Vertrauen:
5 "Mit ganzem Herzen vertrau auf den HERRN,
bau nicht auf eigene Klugheit!
6 Erkenne ihn auf all deinen Wegen,
dann ebnet er selbst deine Pfade.
7 Sei nicht weise in deinen (eigenen) Augen,
fürchte den HERRN und meide das Böse!"
Die uns bereits aus dem Prolog bekannte theologische Grundlegung der Weisheit (1,7: "Die Furcht des HERRN ist Anfang der Erkenntnis") wird in unserer Lehrrede entfaltet und konkretisiert: Das vorbehaltlose Vertrauen auf JHWH geht der "eigenen" Weisheit voraus; denn wahre Weisheit ist immer eine von JHWH erworbene Weisheit: "Sei nicht weise in deinen (eigenen) Augen!" Man erlangt sie in der Haltung der Gottesfurcht: "Fürchte den HERRN und meide das Böse!"
Ein solches vorbehaltloses Vertrauen auf Gott, so verspricht unser Weisheitslehrer, führt zu Gesundheit und Wohlergehen (V. 2: "Schalom"):
8 "Das ist heilsam für deine Gesundheit
und erfrischt deine Glieder.
9 Ehre den HERRN mit deinem ganzen Vermögen,
mit dem Besten von dem, was du erntest!
10 Dann füllen sich deine Scheunen im Übermaß,
deine Fässer laufen über von Most."
Führt Gottvertrauen zu bleibendem Wohlergehen (Schalom)?
Ist das nicht allzu naiv gedacht und wird es nicht von der alltäglichen Erfahrung widerlegt? "Es gibt Gerechte, denen ergeht es, wie es Frevlern ergeht, und es gibt Frevler, denen ergeht es, wie es Gerechten ergeht", gibt Kohelet, ein anderer Weisheitslehrer des Alten Testaments, zu bedenken (Koh 8,14). Und ist nicht auch das Buch Ijob ein einziger Protest gegen diese allzu optimistische Sicht auf das gerechte Handeln Gottes? In der alttestamentlichen Forschung wird gerne von eine Krise der Weisheit gesprochen. Gemeint ist damit, dass eine frühe optimistische Weisheitstheologie, die von einem weitgehend ungebrochenen Zusammenhang von gutem und gerechtem Tun auf der einen Seite und einem dem entsprechenden guten Ergehen auf der anderen Seite ausgeht, in eine Krise geraten sei; Zeugnis dieser Krise seien die Bücher Ijob und Kohelet.
Auch der Weisheitslehrer des Buches der Sprichwörter scheint nicht naiv zu sein, wenn er im unmittelbaren Anschluss an seine Verheißungen den Schüler darauf hinweist, dass er auf dem Weg der Weisheit und des Gottvertrauens mit Schwierigkeiten zu rechnen hat. Es wird nicht alles glatt laufen; nicht, weil Gottes Macht beschränkt wäre, sondern weil Gott mit uns Menschen etwas vorhat, das uns bisweilen unverständlich erscheint und das wir gerne ablehnen. Der Weisheitslehrer fordert seinen Schüler auf, auch das Unangenehme und scheinbar Unverständliche, das ihn im Leben treffen wird, anzunehmen und zu verstehen. Es handelt sich um eine Erziehungsmaßnahme Gottes. Der Gedanke wird nicht zuletzt dadurch betont, dass der Schüler in der Rede erneut direkt angesprochen wird:
11 "Die Zucht / Erziehung (mûsar / paideia) des HERRN, mein Sohn, verachte nicht,
und sei nicht abweisend gegenüber seiner Zurechtweisung.
12 Denn wen der HERR liebt, den weist er zurecht,
wie ein Vater seinen Sohn, den er gern hat."
Die Welt ist in der Weisheit
Dass es demjenigen, der Gott vertraut, immer und überall gut gehen wird, widerspricht unserer Erfahrung. Will man dieses weisheitliche Axiom nicht als eine gut gemeinte, pädagogisch motivierte rhetorische Übertreibung ansehen, sondern ihm einen Wahrheitsgehalt zusprechen, müssen wir genauer hinsehen und über die Erfahrung hinaus ins reine Gewahrsein gehen. Erfahrung richtet sich immer auf Gegenstände und Zustände: Besitz, Gesundheit, angenehme Gefühle, Schmerzen, Langeweile, Zerstreuung, Wohlergehen (Schalom). Diese kommen und gehen. Sie haben keinen Bestand. Identifiziert man das Glück mit der Anwesenheit von angenehmen und der Abwesenheit von unangenehmen Erfahrungen, wird es kein bleibendes Glück geben, so sehr man sich auch darum bemühen mag.
Anders sieht die Sache aus, wenn wir aus der gegenstandsbezogenen Erfahrung und Wahrnehmung aussteigen und ins reine Gewahrsein unserer selbst gehen; uns also nicht mehr auf das Wahrgenommene, sondern auf den Wahrnehmenden ausrichten; nicht mehr auf den Inhalt des Bewusstseins, sondern auf das Bewusstsein selbst. Wenn wir die Aussagen über die Weisheit wirklich ernst nehmen, gelangen wir am Ende an genau diesen Punkt. Denn die Weisheit ist "vor aller Zeit", vor allen geschaffenen Dingen; sie ist ewig. In ihr hat Gott alles erschaffen. Im unmittelbaren Anschluss an die dritte Lehrrede wird genau dies gesagt: "Der HERR hat die Erde in Weisheit gegründet und in Einsicht den Himmel befestigt" (Spr 3,19). So müssen wir also genau genommen sagen: Nicht die Weisheit ist in der Welt, sondern die Welt ist in der Weisheit. Denn bereits vor Erschaffung der Welt war die Weisheit bei Gott und in ihr hat Gott alles geschaffen, was ist (Spr 8,22-31).
Die Weisheit ist also kein Gegenüber und kein Teil dieser Welt; sie ist nichts von alledem, was geschaffen wurde, zugleich aber ist alles in ihr enthalten. So kann man sagen: Sie ist alles und nichts. Sie ist ewig und kann nicht zerstört werden; sie ist Throngefährtin (páredros) Gottes (Weish 9,4) und der Raum bedingungsloser Annahme von allem, was ist – reine Liebe: "Du liebst alles, was ist, und verbscheust nichts von dem, was du gemacht hast; denn hättest du etwas gehasst, so hättest du es nicht geschaffen" (Weish 11,24). "Sich ihr anvertrauen", ist gleich gleichbedeutend mit "sich Gott anvertrauen". Deshalb ist es kein Widerspruch, wenn der Weisheitslehrer in der zweiten Lehrrede den Schüler dazu aufruft, sich vorbehaltlos der Weisheit zuzuwenden (Spr 2,1-6), und in der dritten Lehrrede den Schüler auffordert, "mit ganzem Herzen auf den HERRN zu vertrauen" (Spr 3,5). Ausdrücklich wird gesagt, dass es nicht um menschliche Weisheit geht, sondern um die Weisheit "die von Gott kommt" (Spr 2,6).
Von der Erfahrung zum reinen Gewahrsein
Damit löst sich das zuvor angesprochene Paradox: Wie kann der Weisheitslehrer seinem Schüler ein dauerhaftes Glück versprechen, wenn doch alles, was ihm in der Welt zustößt, vergänglich und der menschlichen Verfügungsgewalt nur in sehr beschränktem Maße unterworfen ist? Die Antwort lautet: Weil die Weisheit, um die sich der Schüler bemühen soll, all dem voraus- und zugrundeliegt. Sie ist in ihrem Ursprung reines Gewahrsein ihrer selbst: "Als die Urmeere noch nicht waren, wurde ich geboren, als es die Quellen noch nicht gab, die wasserreichen. […] Als er den Himmel baute, war ich dabei, als er den Erdkreis abmaß über den Wassern" (Spr 8,24.27).
Wenn es dem Schüler gelingt, in dieses vorgeschöpfliche Wissen zu gelangen, in das reine Gewahrsein, das aller Erfahrung voraus- und zugrundeliegt, dann verschwinden die Dinge und wechselvollen Ereignisse dieser Welt nicht, doch sie verlieren ihre alles bestimmende Macht. Dann fällt auch die Zucht des HERRN nicht aus der Liebe heraus:
"Die Zucht des HERRN, mein Sohn, verachte nicht, und sei nicht abweisend gegenüber seiner Zurechtweisung. Denn wen der HERR liebt, den weist er zurecht, wie ein Vater seinen Sohn, den er gern hat" (Spr 3,11f).
Das Besondere des christlichen Glaubens besteht vor dem Hintergrund des hier Gesagten darin, dass die präexistente Weisheit Fleisch angenommen und unter uns Menschen gewohnt hat (Joh 1,14). Ihre überaus enge Verbindung zu Gott wird in den einschlägigen alttestamentlichen Texten vor allem mit den Begriffen "geboren aus" und "geschaffen" umschrieben. Hier hat die christliche Tradition eine Vereindeutigung vorgenommen, wenn Jesus Christus, "Gottes Kraft und Gottes Weisheit" (1 Kor 1,24), von sich selbst sagt: "Ich und der Vater sind eins" (Joh 10,30). Von diesem Gott, der "im Geist und in der Wahrheit anzubeten ist" (Joh 4,24), bekennt Paulus auf dem Areopag: "In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir" (Apg 17,28).