"Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding. / Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. / Aber dann auf einmal, / da spürt man nichts als sie: / sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen." Das singt die Feldmarschallin in der Oper "Der Rosenkavalier" von Richard Strauss. Ein sonderbar Ding, fürwahr. Zuweilen rast sie dahin, die Zeit, so dass wir uns fragen, wo sie nur geblieben sind, die Tage, Monate, Jahre. Und dann wieder scheint sie zu kriechen und nicht von der Stelle zu kommen. Einem Arbeitslosen, Rentner oder Kranken, der zur Untätigkeit verdammt ist, kann sie elend lang werden.
Zeit ist aber auch physikalisch gesehen ein sonderbar Ding. Albert Einstein hat Anfang des 20. Jahrhunderts herausgefunden, dass die Zeit oder genauer gesagt: unsere Uhren in der physischen Bewegung langsamer laufen als im Ruhezustand, im Flugzeug langsamer als am Erdboden, in einer Rakete wiederum langsamer als in einem Flugzeug usw. Was praktische Konsequenzen etwa für die Konstruktion von Navigationsgeräten hat, die ja ihre Signale von Satelliten im All empfangen.
Was war vor dem Anfang?
Die Zeit, ein Faszinosum schon für das Kind, das zum ersten Mal den biblischen Schöpfungsbericht hört ("Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde") und fragt: "Mama, was war vor dem Anfang?" Eine Kindheitsfrage, die einer anderen verwandt ist, die sich beim Blick in den Sternenhimmel stellt: Wo endet das Weltall, und was kommt dahinter? Wann endet die Zeit, und was kommt danach? Fragen, die uns keine Ruhe lassen und auf die es keine befriedigende Antwort gibt, da wir aus dem Denken in zeitlichen und räumlichen Kategorien offenbar nicht ausbrechen können: "Man kann sich nicht vorstellen, dass es Zeit nicht gibt." (Immanuel Kant)
Bemerkenswert ist, was der heilige Augustinus vor 1.600 Jahren über die Zeit gesagt hat: "Nie gab es eine Zeit, wo keine Zeit war." Und: "Ohne Schöpfung kann es keine Zeit geben." (Bekenntnisse, 11. Kapitel) Bemerkenswert sind diese scheinbar banalen Sätze deswegen, weil sie auch nach Einstein und im Zeitalter von "Planck"- und Hubble-Teleskopen noch gelten. Zeit ist etwas Geschaffenes. Vor dem Akt der Schöpfung (dem "Urknall") gab es weder Zeit noch Raum – noch Klang.
In der Musik der Moderne wird Zeit nicht nur als selbstverständliches Medium des Klangs vorausgesetzt, sondern selbst als Thema reflektiert, am radikalsten wahrscheinlich von dem amerikanischen Komponisten John Cage, in dessen Werken zwar nicht von Gott die Rede ist, in denen wir aber gewissermaßen an den Anfang und den Urgrund der Schöpfung erinnert werden.
Womit wir bei der Musik wären. Denn Musik ist wesenhaft ein Aufeinanderfolgen von Tönen. Selbst der kürzeste von ihnen braucht einen Zeit-Raum, in dem er erklingen kann. Musik ist genuin die Kunstform, die sich in der Dauer vollzieht. Sie ist "gegliederte Zeit". Hören wiederum ist nichts anderes als "sich der Zeit ausliefern", wie der Dirigent und Komponist Hans Zender es ausdrückte. In der Musik der Moderne wird Zeit nicht nur als selbstverständliches Medium des Klangs vorausgesetzt, sondern selbst als Thema reflektiert, am radikalsten wahrscheinlich von dem amerikanischen Komponisten John Cage, in dessen Werken zwar nicht von Gott die Rede ist, in denen wir aber gewissermaßen an den Anfang und den Urgrund der Schöpfung erinnert werden.
Ein Stück aus Stille
Im August 1952 wurde in dem Städtchen Woodstock nördlich von New York zum ersten Mal John Cages Werk "4'33" aufgeführt, ein Stück, das aus nichts als Stille besteht und für das Cage ursprünglich den Titel "Silent Prayer" (stilles Gebet) vorgesehen hatte. Die Besetzung ist laut Cage beliebig. Es kann ein Streichquartett sein, ein Schlagzeugensemble oder auch ein Chor. Das Stück bleibt, was es ist: still, und es bleibt immer gleich lang: aufregende, heitere, mitunter auch quälende 4 Minuten und 33 Sekunden lang. Bei der Uraufführung in Woodstock saß der Pianist David Tudor auf der Bühne – und rührte keinen Finger. Wobei das nicht ganz stimmt. Tudor griff zwar nicht in die Tasten seines Flügels, aber er zeigte die drei Sätze des Stücks durch Schließen und Öffnen des Klavierdeckels an: "1. Satz tacet (Schweigen), 33 Sekunden. 2. Satz: tacet, 2 Minuten, 40 Sekunden. 3. Satz: tacet, 1 Minute, 20 Sekunden." Natürlich durfte zwischen den Sätzen nicht geklatscht werden.
Nach der Uraufführung dauerte es weitere 52 Jahre, bis eine Radiostation (BBC 3) es wagte, "4‘33" erstmals zu senden, übrigens in einer "Orchesterfassung". Dazu musste die im Rundfunk übliche Notfallautomatik außer Kraft gesetzt werden, die im Fall eines "Sendelochs" dafür sorgt, dass eine vorbereitete Füllmusik oder ein vorproduzierter Ansagetext abgespielt wird. Denn Stille ist im Radio eine Störung.
Die absolute Stille ist eine Illusion. Überall knistert, rauscht und klingt etwas. Und sprechen nicht Forscher seit Pythagoras davon, dass sogar das Weltall voller Klang sei?
John Cages "4’33" eignet sich vorzüglich für vorwitzige Fragen wie: Was wollte uns der Künstler damit sagen? Und für routinierte Antworten: Cage habe eingefahrene Hörgewohnheiten durchbrechen wollen. Cage habe mit "4'33" einen Gegenakzent gesetzt zu unserer lärmenden Welt. Oder: Cage lehre uns, dass jeder Klang auf dem Hintergrund von Stille entsteht. Das alles trifft vermutlich zu, ist aber noch nicht alles. Denn was hört man im Konzertsaal, wenn "4’33" gespielt wird? Nichts? Das wäre zu einfach. Man nimmt zum Beispiel das Rascheln von Textilien wahr. Den eigenen Atem. Das Räuspern der Sitznachbarin, das Geknister von Bonbonpapier. Und man vernimmt, wie schon bei der Premiere 1952, die Schritte wütender Konzertbesucher, die den Saal verlassen, weil sie es nicht mehr aushalten (viereinhalb Minuten sind nicht nur im Radio, sondern auch im Konzertsaal eine lange Zeit!), weil sie sich um ihr Eintrittsgeld betrogen fühlen oder weil sie meinen, man mache sich über sie lustig.
John Cage berichtete einmal von einem Besuch in einer echolosen Kammer. Und selbst dort, in der Künstlichkeit fast absoluter Schalldichte, vernahm er zwei Töne, einen hohen und einen tiefen. Der zuständige Ingenieur sagte ihm: "Der hohe Ton, das ist Ihr Nervensystem, der tiefe Ihr Blutkreislauf." Cage erkannte: Die absolute Stille ist eine Illusion. Überall knistert, rauscht und klingt etwas. Und sprechen nicht Forscher seit Pythagoras davon, dass sogar das Weltall voller Klang sei?
Über 600 Jahre währende Aufführung
Von John Cage stammt auch ein Stück mit dem Titel "ASLSP". Die Buchstaben stehen für as slow as possible. Eine Art Satzbezeichnung, die angibt, wie die schmale vierseitige Partitur gespielt werden soll: so langsam wie möglich. Bei der Uraufführung 1989 in Metz spielte ein Organist das Stück in 29 Minuten. Aber da ist mehr drin, dachten sich die Verantwortlichen der Sankt-Burchardi-Kirche in Halberstadt. Sie haben mit der Aufführung des Stückes im September 2001 begonnen, als ihre Kirche 639 Jahre alt war, und sie auf eine Dauer von weiteren 639 Jahren angelegt. Zunächst war anderthalb Jahre lang nichts zu hören als der Windhauch des Blasebalgs. Der erste Orgelton wurde dann am 5. Februar 2003 angeschlagen. Immer, wenn ein Ton dazukommt oder verklingt, wird das in Halberstadt festlich begangen, zuletzt am 5. Februar 2024. Der nächste Tonwechsel wird am 5. August 2026 stattfinden. Bis dahin erklingen zweieinhalb Jahre lang die sieben Töne: c' (16'), des'(16'), d', dis', e', ais', e’’, ehe dann ein achter Ton, ein a, hinzukommt. Verklingen wird der letzte Ton im Jahr 2640.
639 Jahre, das ist eine Zeit, die die Dauer nicht nur eines einzelnen Menschenlebens, sondern auch diejenige von Staaten, Reichen und Gesellschaften weit übersteigt. Ob die Kirche St. Burchardi im Jahr 2640 noch stehen wird? Ob Cages Töne dann noch jemand hören will? Wir wissen es nicht. Auch wird die Orgel bis dahin mehrfach erneuert und saniert werden müssen. Die Kühnheit (und die ironische Vermessenheit) des Projekts von Halberstadt besteht vielleicht darin, dass es Bezug nimmt auf eine weit zurückliegende Vergangenheit (die Einweihung der Kirche im Mittelalter) und ebenso weit hinausgreift in eine entlegene Zukunft, die nicht die unsere sein wird. Zeit wird zelebriert als Rätsel und Mysterium – und zugleich aufgehoben in einer für uns individuell nicht fassbaren Dauer.
Cages Werk katapultiert uns zurück an den Anfang der Welt, als noch nichts war und allenfalls der Geist des Schöpfers über dem Wasser schwebte. Und er katapultiert uns in eine Zukunft, in der wir nicht mehr sein werden, jedenfalls nicht mehr in einer uns heute vertrauten Weise.
Zurück an den Anfang der Welt
Immer sind wir als Zuhörer eingebettet in ein großes Ganzes, in dem wir nur eine Episode sind. Über die Erfahrung der eigenen Endlichkeit, die in St. Burchardi nicht ausbleiben kann, dominiert das Gefühl einer diffusen Erhabenheit. Denn es wird etwas erfahrbar, das unseren schmalen, etwas dürftigen aktuellen Horizont umgreift. 639 Jahre, das ist eine für uns schwer greifbare Perspektive, und man mag dabei durchaus die ebenso wenig fassbaren Entfernungen der Planeten und Sterne im All mitassoziieren und mit ihnen die staunenswerte Größe einer Schöpfung, die vor uns war und nach uns sein wird.
John Cages Werke ermöglichen solche Erfahrungen zum einen durch Stille ("4‘33") und zum anderen durch überlange Dauer ("ASLSP"). Mit ihnen wolle er, wie er in einem BBC-Interview 1966 sagte, zeigen, "dass die Dinge, die geschehen, nicht den Geist auslöschen, der schon vor ihnen, ohne dass irgendetwas geschehen wäre, da war." Cages Werk katapultiert uns zurück an den Anfang der Welt, als noch nichts war und allenfalls der Geist des Schöpfers über dem Wasser schwebte. Und er katapultiert uns in eine Zukunft, in der wir nicht mehr sein werden, jedenfalls nicht mehr in einer uns heute vertrauten Weise.
"Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding", wer wollte es bestreiten. Der Gesang der Marschallin im "Rosenkavalier" endet übrigens mit den Zeilen: "Allein man muss sich vor ihr (der Zeit) nicht fürchten, / Auch sie ist ein Geschöpf des Vaters, / der uns alle geschaffen hat.