Die Tragödie der SterblichkeitNachruf auf Carl Hegemann

Am 9. Mai 2025 ist Carl Hegemann im Alter von 76 Jahren überraschend gestorben. Mit ihm verlieren wir einen herausragenden Dramaturgen und Intellektuellen.

Carl Hegemann
Carl Hegemann als Laudator für Alexander Wewerka zum Kurt-Wolff-Preis 2023© Amrei Marie/Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Es war René Pollesch, der den Kontakt zwischen Carl Hegemann und mir herstellte. Und so saß mir plötzlich, der Doktorandin, die über Christoph Schlingensiefs Künstlerdrama forschte, einer der größten Dramaturgen der deutschsprachigen Theaterszene gegenüber – am Computerbildschirm, denn wir befanden uns mitten im Corona-Lockdown. Die Welt stand still, die Theater waren geschlossen, und vielleicht hatte Hegemann deshalb Zeit, sich meiner Fragen anzunehmen. Aus dem kurzen Videotelefonat, das wir vereinbart hatten, wurde ein mehrstündiges Gespräch, dem noch viele weitere folgen sollten. Nicht nur berichtete mir Hegemann ausführlich und offen über seine symbiotische Zusammenarbeit mit Schlingensief, er erzählte mir auch davon, wie es ihn überhaupt ans Theater verschlagen hatte.

Carl Hegemann, 1949 geboren, wuchs in Paderborn auf, der "katholischen Stadt schlechthin": "praktisch monokulturell katholisch und monokulturell CDU". Der Vater ging nicht in die Kirche, weshalb es der Mutter oblag, Carl und seine Schwester im katholischen Glauben zu erziehen. Dass sie, die fromme Protestantin, ihn also in Dingen unterrichtete, die sie selbst nicht praktizierte, fand er befremdlich. "Da kommen ja einem als kleines Kind schon philosophische Fragen." Als Jugendlicher fühlte er sich fehl am Platz, er passte nicht hinein und litt an "dieser katholischen, den Nationalsozialismus nicht richtig überwunden habenden Geschichte". Er habe so früh Doppelmoral, Verlogenheit und Brutalität kennengelernt, dass es ihm die Schulzeit verleidete. Kein Wunder, dass er sich als junger Mann der Jugend- und Studentenrevolte anschloss: Er wurde zu einer Hauptfigur der Paderborner 68er-Bewegung.

Am Theater war nichts so, wie es sonst war

Zum Studium ging er an die Goethe-Universität nach Frankfurt am Main, wo er die Fächer Philosophie, Soziologie und Literaturwissenschaft belegte. Hegemann, ein begabter Student, erhielt bald einen Lehrauftrag. "Ich durfte bei den Philosophen Negative Dialektik unterrichten. Machte sonst auch keiner, weil das out war. Adorno war vollkommen out Ende der Siebzigerjahre!" Das Referendariat – er hatte zunächst auf Lehramt studiert – trat Hegemann nicht an, vielmehr entschied er, sich seiner Dissertation zu widmen. 1979 wurde er mit einer Studie über Fichte und Marx promoviert. Die Doktorarbeit mit dem Titel "Identität und Selbst-Zerstörung" wurde 2017 im Berliner Alexander Verlag neu aufgelegt. Statt jedoch die akademische Laufbahn fortzusetzen, zog es Hegemann ans Theater. Bereits in seiner Heimatstadt hatte er sich mit Theaterleuten angefreundet und die Westfälischen Kammerspiele, um mit Foucault zu sprechen, als Heterotopie erlebt: "Das war ein Ort, an dem war nichts so, wie es sonst in Paderborn war."

Kurz nach seiner Promotion schloss er sich dem Tübinger Zimmertheater an, wirkte dort als Dramaturg, Schauspieler und Mädchen für alles. Aber auch die Hölderlin-Stadt wurde Hegemann zu eng. 1980 gründete er das "Frankfurter Kurorchester", eine Crossover-Band, die sowohl Franz Schubert als auch Frank Zappa spielte. Nach drei Jahren Frontmann-Dasein probierte er sich als ZDF-Redakteur aus, um schließlich wieder ans Theater zurückzukehren und mit Koryphäen wie Heiner Müller und Einar Schleef zusammenzuarbeiten. Nach Stationen in Wiesbaden, Recklinghausen und Freiburg führte es den Dramaturgen nach Berlin, wo er von 1992 bis 2017 – mit Unterbrechungen – das Programm der Volksbühne unter der Intendanz Frank Castorfs wesentlich mitgestaltete und auch mit Christoph Schlingensief und René Pollesch unvergessliche Theaterabende und -aktionen auf den Weg brachte.

Hegemann und Schlingensief bildeten ein eingespieltes, kongeniales Duo. Der Ältere lieferte dem Jüngeren die Theorie, ordnete und systematisierte dessen künstlerisches Chaos. Dass sich die beiden so gut verstanden, lag nicht zuletzt an ihrer katholischen Sozialisation.

Das Theater sollte wieder zum Ritual werden

Von 2006 bis 2014 lehrte Hegemann als Professor für Dramaturgie an der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig. Den Dramaturgenberuf verstand er als eine "dienende Tätigkeit": den Regisseuren als Ratgeber und Ohrflüsterer zur Seite zu stehen, Ideen aus ihnen hervorzukitzeln. Dafür bedürfe es Rüstzeug. "Ein Dramaturg muss an irgendetwas gründlich gearbeitet haben – das kann von mir aus auch Gartenbau sein oder die 'Kritik der reinen Vernunft'. Er muss jedenfalls etwas durchschaut haben." Für Hegemann selbst waren es die Theorien und Modelle, die er während seines Philosophiestudiums kennengelernt hatte, und die ihm fortan als Folie dienten, vor der er auch und gerade seine Theaterarbeit betrachtete. Neben dem deutschen Idealismus begeisterten ihn vor allem die US-amerikanischen Enthnomethodologen, deren Krisenexperimente er, besonders pointiert in seiner Arbeit mit Christoph Schlingensief, in den Theaterkontext überführte.

Hegemann und Schlingensief bildeten ein eingespieltes, kongeniales Duo. Der Ältere lieferte dem Jüngeren die Theorie, ordnete und systematisierte dessen künstlerisches Chaos. Begleitende Diskussionsrunden und Publikationen, die Hegemann betreute, flankierten Schlingensiefs Inszenierungen und unterfütterten sie mit philosophischem Gedankengut. Dass sich die beiden so gut verstanden, lag nicht zuletzt an ihrer katholischen Sozialisation. "Christophs Besessenheiten und seine Fixierung auf christliche Rituale konnte ich natürlich bestens nachvollziehen." Auch Hegemann trieb solcherlei um: "Ich hatte eine sehr starke Affinität zu der Vorstellung, dass das Theater sich nur retten lässt, wenn es wieder zum Ritual wird, aber nicht zu einem religiösen Ritual, sondern zu einem profanen Ritual." Es galt, so Hegemann weiter, der Kirche Konkurrenz zu machen.

Das Geheimnis nicht ruinieren

Während einer unserer Unterhaltungen kamen wir auf das Zweite Vatikanische Konzil zu sprechen. Dessen Liturgiereform bewertete Hegemann kritisch. Das Geheimnis, das zuvor in der Messe gefeiert wurde – "dass es irgendetwas gibt, das wir nicht kapieren, und dass man sich damit beschäftigt" –, sei durch die Reform völlig ruiniert worden. "Ich war am Anfang sehr für die Säkularisierung der Kirche. Es ist mir erst viel später klargeworden, dass sie sich damit praktisch ihr eigenes Grab geschaufelt hat. Übrigens genauso wie es gerade die Kunst tut: Man versucht immanent in der Gesellschaftsorganisation seinen Platz zu finden, anstatt sich als Gegeninstitution zu begreifen."

Carl Hegemann war davon überzeugt, dass unser Dasein auf der Welt genauso dramatisch verlaufe wie ein Theaterstück. Wir Menschen könnten nicht anders leben als in widersprüchlichen, konfliktreichen Verhältnissen. Und zur "Dramaturgie des Daseins" gehöre freilich auch die Tragödie der eigenen Sterblichkeit.

Im letzten Jahr erschien meine Studie über das Schlingensief’sche Theater im Druck. Als ich sie Carl nach Berlin schickte, legte ich dem Buchpaket eine "Prayerbox für unterwegs" bei. In diesem kleinen, handlichen Döschen, das vom internationalen Hilfswerk Kirche in Not vertrieben wird, befinden sich ein Zehn-Perlen-Rosenkranz, ein "Kreuz der Einheit" und eine kleine Ampulle mit Weihwasser. Ein "katholisches Flux-Kit", scherzte ich, auf die Multiples des Fluxus-Künstlers George Maciunas anspielend. Als mir Hegemann antwortete, war er in Zürich, vermutlich bei einer Theaterprobe. Das katholische Notfall-Set, schrieb er, gefalle ihm außerordentlich, er habe es jetzt immer bei sich.

Carl Hegemann war davon überzeugt, dass unser Dasein auf der Welt genauso dramatisch verlaufe wie ein Theaterstück. Wir Menschen könnten nicht anders leben als in widersprüchlichen, konfliktreichen Verhältnissen. Und zur "Dramaturgie des Daseins" gehöre freilich auch die Tragödie der eigenen Sterblichkeit. "Das ist die Einflugschneise der Transzendenz für jeden Menschen, ob er gläubig ist oder nicht. Es gibt etwas, das ist größer und stärker als wir, von dem hängen wir ab, ob wir wollen oder nicht." Wenige Wochen nach seinem 76. Geburtstag ist Carl Hegemann in Berlin an den Folgen eines Herzinfarktes gestorben.

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