Wohin geht meine Reise?Eine Lese-Erfahrung mit Jon Fosses "Ein Leuchten"

Der norwegische Dichter Jon Fosse thematisiert in seinem Werk immer wieder Religion und die Suche nach Gott. Wenn er über die Motive dieses Denkens und Schreibens über Gott Auskunft gibt, dann bezeichnet er es als "negative Mystik". Auch in seinem jüngsten Buch "Ein Leuchten" erlebt der Held, der keiner ist, eine Epiphanie. Das, was sich ihm da nähert, entzieht sich – und ist da. Andreas Main hat es gelesen – und es leuchtete.

Nadelwald im Schnee
© Pixabay

Jon Fosse hat im Dezember ein Buch veröffentlicht, das die Welt, so wie wir sie kennen, aus den Angeln heben kann. Und das, obwohl in diesem Büchlein nichts passiert. Fast nichts. Der norwegische Literatur-Nobelpreisträger erzählt von einem Mann, der aufbricht und gelangweilt und richtungslos durch die Gegend fährt, um dann mit seinem Auto auf einem Waldweg stecken zu bleiben. Er weiß: Es ist nicht vernünftig, in dieser einsamen Gegend in den Wald zu laufen. Er tut es dennoch. Es schneit, es wird dunkel. Ihm begegnet ein Leuchten.

So heißt auch dieses Buch. "Ein Leuchten" ist 77 Seiten stark. Der Verlag gibt 80 Seiten an. Ich komme auf 70. Ich habe 22 Euro auf den Tisch des Buchladens des Vertrauens gelegt. Und habe das gern getan. Wobei 31 Cent pro Seite schon sportlich sind. Aber ein Fosse-Junkie lässt sich von nichts schrecken. Auch nicht vom Preis. Und ich bekomme so viel dafür. Zwar nicht geschenkt. Aber doch: "Ein Leuchten" ist ein Geschenk.

Auch wenn natürlich die Angst aufsteigt, da könnte jemand die schnelle Mark machen wollen, wenn so ein Bändchen kurz nach der Literatur-Nobelpreis-Verleihung veröffentlicht wird. Wegen dieser Angst, meine hohe Meinung von Fosse könnte getrübt werden, habe ich die Lektüre ein wenig aufgeschoben. Anfang Dezember, vor der Nobelpreisverleihung, hatte ich im Deutschlandfunk das herausgearbeitet, was auch kluge Communio-Autoren erkannt haben, was aber im klassischen Feuilleton oftmals nicht verstanden oder ignoriert wird: die religiöse Grundierung im Werk von Jon Fosse. Wer das nach Lektüre von "Ein Leuchten" immer noch ignoriert, sollte sich einen anderen Job suchen. Aber genug der Schelte, was die Kolleginnen und Kollegen in den Kulturredaktionen betrifft. Sie spiegeln eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung wider: die Ratlosigkeit angesichts von leisen oder lauten Auf- oder Ausbrüchen des Religiösen. Spiritualität, die oft im Säuseln daher kommt, lässt sich schwerer erspüren als die Stürme der Politik oder Kirchen- und Religionspolitik. Es gibt ein edel produziertes Feature von Thomas David, der Fosse in Norwegen getroffen hat – lange vor dem Nobelpreis. Darin redet dieser auch, wiewohl sehr knapp, über seine Religiosität. Fosse geht demnach, sooft er in Oslo ist, in die dortige katholische Kirche. Auch werktags.

Kann das sein?

Die Umschlaggestaltung von "Ein Leuchten" spiegelt die Kälte dieser Novelle wider. Ein Nadelwald in einer Hügellandschaft. Es hat leicht geschneit. Oder ist es Raureif? Nebel durchzieht die Täler. Der Horizont verschwimmt im Nebel. Auch dem namenlosen Protagonisten Fosses ist es kalt. Sehr kalt. Er fragt sich, ob er den Verstand verliert, ob das, was er sieht und erlebt, real ist. Seine Gedanken verschwimmen, drehen sich im Kreis. Soll er zurückgehen? Wo ist Zurück? Und wo ist vorn? Wohin geht die Reise? Oder wohin führt ihn der Pfad?

Wohin geht meine Reise? Vor mir züngeln die Flammen. In unserer Moabiter Altbauwohnung ist es im Winter auch oft kalt, Heizen zwecklos. Doch ab und an die wohlige Wärme des Kaminofens – das hilft. Während sich also das Feuer verzehrt, lese und folge ich diesem frierenden Verirrten und Suchenden – und meine Gedanken verschwimmen mit ihm, drehen sich im Kreis wie seine. Ich bin absolut nüchtern. Und wach. Aber ich gleite in eine Traumwelt, in die Welt Jon Fosses. Seine Gedankenwelt. Ich traue mich, diesem Mann in den Wald zu folgen. Und so darf ich mit ihm einen Hauch von dem erfahren, was ihm begegnet, das zu ihm sagt: "Ich bin, der ich bin." Wobei Fosses Held immer wieder sagt oder fragt: Das kann doch nicht sein. Fragezeichen.

Ach ja, die Fragezeichen und die Punkte: In der Heptalogie, dem siebenteiligen Opus Magnum, das in Form von drei Büchern erschienen ist, gibt es keinen Punkt. Vermutlich werden in 80 Jahren Bibliotheksregale mit Promotionsarbeiten zur Zeichensetzung bei Fosse gefüllt sein. Ich habe da auch meine Theorien. Nun sind die Punkte wieder da. Es gibt Punkte in: "Ein Leuchten"! Dafür fehlen die Fragezeichen. Und das, obwohl dieses Büchlein mir wie ein einziges Fragezeichen erscheint.

Ein Buch, in dem fast nichts passiert beziehungsweise dieses Nichts entscheidend sein könnte, kann elektrisieren. Ich hätte es nicht aus der Hand legen können, ohne zu wissen, wie es ausgeht.

Offenbar stellt es Fragen, die sich viele Menschen stellen. Rund drei Monate nach dem Aufleuchten des Leuchtens am 12. Dezember 2023 ist schon die vierte Auflage im Handel. Den Leserinnen und Lesern dieser und sicher weiterer Auflagen wünsche ich: Zelebrieren Sie die Lektüre. Es muss kein Kaminofen sein. Aber: nicht nebenbei lesen! Sondern vielleicht an einem Sonntag. Für Berliner: erst ins Dominikanerkloster St. Paulus in Moabit oder nach St. Canisius in den Sonntagsgottesdienst der Jesuiten, danach frühstücken, dann Jon Fosse. Und dann wünsche ich noch etwas: dass Sie nicht anschließend in einen ICE müssen, der nicht kommt. Meiner kam, aber ich hätte ihn fast verpasst in meinem tranceartigen Lesezustand. Ein Buch, in dem fast nichts passiert beziehungsweise dieses Nichts entscheidend sein könnte, kann elektrisieren. Ich hätte es nicht aus der Hand legen können, ohne zu wissen, wie es ausgeht. Ich verrate nicht, wie dieses Nichts aussieht und was unser Mann im kalten einsamen Wald erfährt.

Annäherungen ans erfüllende Ganze

Dass ich Jon Fosse lese, habe ich indirekt COMMUNIO zu verdanken – oder genauer: Jan-Heiner Tück. Es muss Anfang 2022 gewesen sein. Ich werde noch mal suchen. Und habe es gefunden. In einer E-Mail, aus der ich zitieren darf, schreibt Tück Mitte November 2022: Fosse "hat eine Sprache für das, was ihn ergriffen hat, ohne dass er dem Unbegreiflichen zudringlich auf die Pelle rückte." Ein Impuls, der mich auf der Suche nach dem "Mönch in mir" entscheidend vorangebracht hat.

Der evangelische Theologe Karl Tetzlaff schreibt bei "Zeitzeichen": "Fosses Religiosität hat trotz seiner medial häufig erwähnten Konversion zum Katholizismus eine überkonfessionelle, höchst individuell geprägte Eigenart." Tetzlaff bringt Jon Fosses poetische Religion auf den Punkt: "Annäherungen ans erfüllende Ganze sind möglich. Darin liegt das Versprechen von Religion und Kunst, wie Fosses Werke eindrucksvoll zeigen. Sie mögen bloße "Fiktionen" sein, doch haben sie gerade "als solche ihre Wahrheit".

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