"Nichts ist weniger überflüssig als die Eleganz"Barbara Vinken im Interview über eine vergessene Tugend

Die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken erklärt im Gespräch mit COMMUNIO, warum die Deutschen sich mit Eleganz schwertun, warum das Mittelalter eine überaus elegante Epoche war, warum Eleganz nichts mit Dünkel und Überheblichkeit zu tun hat, und welche größenwahnsinnigen Vorstellungen uns heute das Leben schwer machen.

Barbara Vinken
© Jan Dreer für IFK

Benjamin Leven: Das Sehnsuchtsland vieler Deutscher ist Italien. Dort scheint alles leichter zu fallen. Der Alltag, die Arbeit, die Kunst – alles ist eleganter. Wir dagegen tun uns schwer mit der Eleganz. Woran liegt das?

Barbara Vinken: Es gibt in Deutschland ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber allem Eleganten, genauso wie gegenüber Mode und Schönheit. All das gilt als äußerlich, als oberflächlich, als Tand. Wir haben den Konnex zwischen Sein und Erscheinung verloren. Wir glauben, dass die Erscheinung grundsätzlich trügerisch ist. Ich vermute, das ist ein Erbe der Reformation.

Leven: Dann wären sich die Reformatoren ja einig mit den christlichen Autoren der Spätantike, etwa Augustinus, der ja genau das der heidnischen Literatur und dem Theater zum Vorwurf macht: All das sei nichts als Illusion. Dem stellt er die reine und einfache Wahrheit des Evangeliums gegenüber.

Vinken: Gleichzeitig haben die spätantiken Autoren in der Auslegung dieses Evangeliums eine hohe Eleganz an den Tag gelegt: Sie haben raffinierte Strategien der Schriftinterpretation entwickelt. Augustinus war ein rhetorisch brillanter Autor. Obwohl er immer das Gegenteil gepredigt hat, war die Sprache, in der er das getan hat, überaus elegant. Mir fallen wenige Autoren ein, die rhetorisch so glänzend schreiben wie Augustinus. Das würde ich von Luther nicht unbedingt sagen. Da fehlt die Brillanz. Ganz anders Erasmus, der Luther stilistisch abgründig ironisch weit hinter sich gelassen hat. Luther wiederum war es ein Dorn im Auge, dass Erasmus – "ein Aal" – in der Sache letztlich nicht zu fassen gewesen ist, also die Rhetorik über den Inhalt gestellt hat.

Das Mittelalter und die Gleichberechtigung der Geschlechter

Leven: Was unterscheidet die Eleganz der christlichen Kultur von der Eleganz der heidnischen Antike?

Vinken: Ich würde sagen: der Wahrheitsanspruch. Die heidnischen Dichter waren entweder Ideologen oder sie haben jedem Wahrheitsstreben ironisch den Spiegel vorgehalten. Die christlichen Schriftsteller wollen eine Wahrheit freilegen.

"Im Mittelalter gilt die Liebe nicht mehr als Wahn und Raserei, sondern als eine heilende Stärke, aus der Gemeinschaft geboren wird."

Leven: Auf die Spätantike folgt das Mittelalter. Heute gilt der Begriff "mittelalterlich" als Synonym für alles Grobschlächtige, Brutale und Unerleuchtete – also das Gegenteil von Eleganz.

Vinken: Das ist ganz unzutreffend. In der Rede vom "finsteren Mittelalter" bezeugen wir den Sieg der Renaissancepropaganda. Die höfische Kultur des Mittelalters versucht, ein schönstes, harmonisches Zusammenleben zu erreichen, das in seiner schmucken Wohlgeordnetheit dem göttlich geschöpften Kosmos entspricht. Der Hof – mit seiner Kleidung, seiner Sprache, seinen Umgangsformen, seinen Waffenspielen und Lustbarkeiten - soll ein Abbild der Schönheit der Schöpfung sein. Im höfischen Roman wird dieses Ideal schön gefügt vor uns gestellt. Das Mittelalter versteht sich selbst als Epoche, die die Antike, was glänzende Schönheit, strahlenden Heroismus und raffinierte Verfeinerung betrifft, hinter sich lässt. Auch von der bitteren Liebe der Antike setzt man sich erlöst ab. Im Roman "Erec und Enide" von Chrétien de Troyes, entstanden 1160, ist die Gleichberechtigung der Geschlechter, die sich gegenseitig nicht ins Verderben stürzen, sondern sich Glücks- und Heilswerkzeug werden, von Anfang an gesetzt. Die Liebe gilt nicht mehr als Wahn und Raserei, sondern als eine heilende Stärke, aus der Gemeinschaft geboren wird.

Leven: Heute meint man, alles vor dem 20. Jahrhundert sei eine endlose Phase der Frauenunterdrückung gewesen.

Vinken: Das stimmt aber nicht. Das 19. Jahrhundert war allerdings ein herber Rückschlag. Nicht nur im Mittelalter, auch in der Renaissanceliteratur wird die Gleichberechtigung der Geschlechter verteidigt. Bei Baldessare Castiglioni, dem Verfasser des "Libro del Cortegiano", des "Buches vom Hofmann", einem der bedeutendsten Werke der italienischen Renaissance-Literatur, wird ein Verständnis des Geschlechterverhältnisses entwickelt, das gleichberechtigt ist, das auf ein Glück in der Gemeinschaft, ein Glück in der Welt abzielt.

Der Dandy und das unelegante 19. Jahrhundert

Leven: Als elegante Figur schlechthin gilt der Dandy. Aber taugt er als Vorbild? Man kann ja niemandem empfehlen, so zu leben wie die Dandys des 19. Jahrhunderts.

Vinken: In der Figur des Dandys tritt die Brüchigkeit des Ideals der Eleganz zutage. Der Dandy lebt in einer Gesellschaft, in der völlig unelegante Werte die Oberhand haben: in der bürgerlichen Epoche des 19. Jahrhunderts.

Leven: Was ist das Unelegante an dieser Epoche?

Vinken: Dass jeder glaubt, durch das eiserne Vertreten seines Eigeninteresses gerechtfertigt zu sein und sich nichts vergeben will. So kann kein Mensch elegant sein. Der Dandy lebt in einer Zeit, in der seine Werte überhaupt keinen Platz haben. Darauf reagiert er mit der extremen Übersteigerung der Eleganz.

Das Gemeinsame und das Spiel mit dem Vorgegebenen

Leven: Ist Eleganz etwas für diejenigen, die es sich leisten können?

Vinken: Als das wird sie heute abgetan. Die Eleganz sei ein Distinktionsmerkmal, um sich von den weniger Begüterten abzugrenzen, heißt es. Allerdings gibt es wahre Eleganz nur dann, wenn es gelingt, das Distinktionsbegehren ironisch zu brechen. Eleganz ist eine Form des Miteinanders, in der man sich über das Gemeinsame und nicht über das Trennende verständigt. Nehmen Sie eine Weinbar in Italien: Dort halten sich Leute aus ganz verschiedenen Schichten auf, ob Müllmänner oder Rechtsanwälte. Alle freuen sich, dass sie zusammen diesen guten Wein trinken. In solchen Momenten der Gemeinsamkeit gelingt es, das Bedürfnis, sich zu unterscheiden, für einen Moment aufzulösen. Nichts uneleganter als dünkelhafte Überheblichkeit, die auf Überlegenheit pocht. Es geht darum, dem Gegenüber das Gefühl zu geben, angenommen zu sein; sich zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu wissen. Nichts ist weniger überflüssig als die Eleganz.

Leven: Auch wir leben in einer Zeit, in der wir kaum Muße haben und stark vom Effizienzdenken getrieben sind. Wie kann man sich da etwas von dieser Eleganz bewahren?

Vinken: Der erste Schritt würde darin bestehen, einen Schritt zurückzutreten, aus dem Hamsterrad herauszukommen und vor allem die narzisstische Vorstellung hinter sich zu lassen, man sei unersetzbar und unverzichtbar. Man darf sich selbst nicht allzu ernst nehmen.

"Es ist der Größenwahn unserer Zeit, dass wir denken, wir müssten uns als Individuum selbst erfinden und authentisch ausdrücken."

Leven: Aus unseren gesellschaftlichen Debatten ist die Leichtigkeit gewichen. Haben wir die Kunst der eleganten Auseinandersetzung verlernt?

Vinken: Ich habe manchmal das beklemmende Gefühl, dass die Leute nicht mehr miteinander reden können. Wir scheinen in Paralleluniversen zu leben und finden keinen gemeinsamen Grund, auf dem wir uns verständigen können, auch wenn wir unterschiedlicher Meinung sind. Dabei ist das die Grundlage einer zivilen Gesellschaft.

Leven: Wir leben in einer Kultur, die Individualität hochschätzt. Elegant zu sein, heißt aber auch, sich an existierenden Formen zu orientieren.

Vinken: Es ist der Größenwahn unserer Zeit, dass wir denken, wir müssten uns als Individuum selbst erfinden und authentisch ausdrücken. Wir werden in eine Sprache hineingeboren, die vor uns da war, wir werden in eine Gesellschaft hineingeboren, die vor uns da war, in eine Religion hineingeboren, die vor uns da war. Man muss die Formen lernen; nicht um sich ihnen unterzuordnen, sondern, um mit ihnen spielen zu können. Wenn Sie die Sprache, in die sie hineingeboren werden, nicht gut lernen, dann können Sie keinen eigenen Stil entwickeln. Das Gleiche gilt für die Mode: Es ist ein Spiel mit dem Vorgegebenen. Wir fangen nie bei null an.

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