Bitte keine ÜberraschungenWarum ich einen Gottesdienst vorzeitig verlassen habe

Viele Gemeinden experimentieren in ihren Sonntagsgottesdiensten, um mehr Gemeinschaft zu erzeugen oder den Glauben neu zu interpretieren. Dabei weichen sie häufig vom eigentlichen Ritual ab. Wie heißt es so schön: Man muss sich auch mal vom Leben überraschen lassen. Ja, gerne – nur am Sonntag bitte nicht.

Alina Oehler
© Carsten Schütz

Ich gebe es zu: am liebsten besuche ich gerne traditionelle Gottesdienste auf Latein. Eine Vorliebe, die sich im Theologiestudium so entwickelt hat. Als Großstadtbewohner weiß man nach einer Zeit auch genau, wo man diese findet. Trotzdem gehe ich immer wieder auch mal woanders hin. Manchmal finde ich auch modernere Gestaltungselemente erbaulich, am "Neuen Geistlichen Lied" hängen schöne Erinnerungen, sie treffen ins Herz. Auch die Muttersprache zu hören und Gebete in ihr zu sprechen, tut manchmal gut.

Doch leider hat man selbst in Bayern, wo ich lebe, keine Garantie mehr, überall einen ordentlichen Sonntagsgottesdienst vorzufinden. Vor Jahren habe ich mal gelesen, dass mehr als die Hälfte der liturgischen Akteure in einer Umfrage zugab, regelmäßig Veränderungen der Liturgie vorzunehmen. Mehr als die Hälfte!

Unterschiedliche theologische Ideen befördern unterschiedliche liturgische Programme.

Eigentlich haben die Gläubigen das "Recht, den Gottesdienst gemäß den Vorschriften des eigenen, von den zuständigen Hirten der Kirche genehmigten Ritus zu feiern", wie es im Kirchenrecht heißt. Das ist längst nicht mehr so, unterschiedliche theologische Ideen befördern unterschiedliche liturgische Programme.

Ein Priester hat diese Misere kürzlich in einem Interview auf den Punkt gebracht:

"Gemeinden sind keine Aldi-Filialen, wo ich in jeder Kirche das Gleiche bekomme, es gibt ganz verschiedene Ausrichtungen. (...) Nicht informierte Menschen kann man so nicht ungeschützt in die kirchliche Landschaft entlassen."

Der Vergleich trifft. Ausgerechnet diese großartige Heimat, eine festgeschriebene Liturgie, die es ermöglicht, verlässlich in vertrauten Ritualen beten zu können, die scheint in Deutschland nicht mehr so wichtig zu sein. Und nicht immer sind es irgendwelche ausgefallenen theologischen Ideen der Verantwortlichen, die sie dazu bringen, liturgisch kreativ zu werden. Hinter mancher Eigenmächtigkeit steht wohl nur die Auffassung, die "normale" Liturgie sei nicht inklusiv, partizipativ und verständlich genug. Das Ergebnis: ein Gottesdienst voller Banalitäten und Übergriffigkeiten.

Das habe ich neulich erlebt. Es ist das Patrozinium einer größeren Pfarrei. Nach einem feierlichen Einzug mit zahlreichen Ministranten, zwei Priestern und einem Diakon greift eine Dame mit Hut zum Mikrofon und begrüßt die Gemeinde mit "Guten Morgen!" Sie duzt alle und ermutigt uns, sich gegenseitig zu begrüßen. Wir sollen dazu auch gerne die Bänke verlassen und jedem Hallo sagen, den wir kennen.

Einige machen das sogar. Ich stehe verlegen in der Bank, nicke aus der Ferne einer Bekannten zu und schüttle die Hände von einem jungen Mann und einer älteren Dame, mit denen ich zufällig hier stehe und die ich nicht kenne. Mir scheint, es ist ihnen auch ein bisschen unangenehm, wir sitzen weiter hinten und haben extra ein wenig Abstand zwischen uns gelassen. Von der Körperhaltung betrachtet sind sie wohl wie ich auch in erster Linie zum Beten gekommen.

Kluft zwischen Gottesverehrung und Gemeinschaftserfahrung

Nachdem im Gotteshaus Tumult ausgebrochen ist, wird die Liturgie fortgesetzt. Die schöne Ernsthaftigkeit vom Anfang fehlt, eine Kluft ist entstanden zwischen Gottesverehrung und Gemeinschaftserfahrung. Letztere hätte ich sehr gerne im Anschluss vor der Kirche gemacht. Dann dachte ich: Ok, Schwamm drüber, jetzt geht’s los mit der Innerlichkeit und freute mich auf den Gottesdienst.

Doch die Dame mit Hut hatte andere Pläne und erzählte etwas vom Hirten und seinen Schafen. Dazu breitete sie ein grünes Tuch im Altarraum aus und stellte den Besuchern infantile Fragen, reichte das Mikrofon rum. Ich schaltete innerlich ab und versuchte, im Kirchenraum und den schönen Darstellungen vergangener Epochen Ablenkung zu finden. Evangelium und Predigt übernahm der Diakon.

Das Vaterunser ist kein kurzes Gebet – für diese Länge an einem heißen Sommertag zwei mir wildfremde Menschen an der Hand zu halten, die auch durch ihre Sitzposition von Anfang an signalisiert hatten, gerne mit Abstand in der Andacht zu sein, das war mir persönlich zu viel.

Ab jetzt Normalprogramm? Leider nein. Wenig später habe ich den Gottesdienst vorzeitig verlassen. Warum? Beim Vaterunser rief der Priester die Kinder nach vorn um den Altar. Hier passt die Infantilisierung. Doch auch die Gemeinde wird aufgerufen, sich an den Händen zu halten, Bänke übergreifend. Das Vaterunser ist kein kurzes Gebet – für diese Länge an einem heißen Sommertag zwei mir wildfremde Menschen an der Hand zu halten, die auch durch ihre Sitzposition von Anfang an signalisiert hatten, gerne mit Abstand in der Andacht zu sein, das war mir persönlich zu viel. Ich sagte "Nein, das möchte ich nicht" und hatte das Gefühl, der junge Mann neben mir war darüber auch ganz froh. Er war etwas rot im Gesicht.

Doch irgendwie kroch in mir dann auch ein ungutes Gefühl nach oben: Was, wenn der sich jetzt zurückgewiesen fühlt? Das wollte ich natürlich auch nicht. Unsere Bank war nicht die einzige ohne Händchen-Halten, aber es fühlte sich nicht gut an, die Unterbrecherin der Gebetskette zu sein. Hätte ich den Zwang mitmachen und mein Unbehagen überwinden sollen?

Mir war das zu viel, ich konnte mich nicht mehr auf das Gebet konzentrieren und hatte keine Lust auf weitere Überraschungen. Nach der Kommunion bin ich nicht zurück in meine Bank, ich hoffte im Verborgenen irgendwo hinten im Kirchenschiff mehr Ruhe zum Gebet zu finden. In Ruhe gelassen zu werden. Weil ich nicht wusste, welche Übung mich vielleicht als Nächstes erwartet. Danach war mir klar: In diese Kirche gehe ich nicht mehr. Schade.

Sehnsucht nach der Aldi-Filiale

Weil es religionspädagogisch motivierte Leute ja immer gut meinen und viel Zeit und Mühe in die Vorbereitung ihrer Gottesdienste stecken, fällt mir diese Kritik nicht ganz leicht. Und mancher wird sagen: Ach, da habe ich schon viel Schlimmeres erlebt, einen viel größeren Zirkus, Tänze im Altarraum, richtig krasse Provokationen. Beispiele fallen mir da auch ein. Trotzdem fragte ich mich in dieser Messe: Wie mag das wohl auf jemanden wirken, der hier neu ist und von außen kommt?

Ich habe jedenfalls nicht bekommen, was ich gesucht habe. Am Sonntag möchte ich Gott begegnen, in der Ruhe, im Gebet, im Hören auf sein Wort und im gemeinsamen Feiern der Sakramente in einem vorgegebenen Ritual, auf das ich mich verlassen kann.

Das in Gemeinschaft zu erfahren ist selbstverständlich großartig, den persönlichen Austausch vor der Kirchentür schätze ich auch – doch während der Andacht hat das für mich keinen Platz. Noch dazu in einer anonymen Großstadtpfarrei. Ich sehne mich sonntags gerade nach einer Gegenwelt zum Alltag, in dem zwischen Beruf und Familie wenig Platz für Innerlichkeit bleibt. Ich finde, ein katholischer Gottesdienst kann das eigentlich sehr gut. Ja, ich sehne mich nach der Aldi-Filiale, nach der Gewissheit, überall das Gleiche zu bekommen. Das gibt mir auch im Ausland immer Heimat. Im Ritual fühle ich mich geborgen, es ist etwas, in das ich mich fallen lassen kann. Jeden Sonntag freue ich mich darauf! Schade, dass es dafür mittlerweile Insider-Tipps braucht und man in Deutschland das "normal-katholische" Programm nicht mehr einfach so überall findet.

Hefte

COMMUNIO im Abo

COMMUNIO will die orientierende Kraft des Glaubens aus den Quellen von Schrift und Tradition für die Gegenwart erschließen sowie die Vielfalt, Schönheit und Tiefe christlichen Denkens und Fühlens zum Leuchten bringen.

Zum Kennenlernen: 1 Ausgabe gratis

Jetzt gratis testen