Lauter LeerstellenDie Klimakrise und der Deutsche Ethikrat

Am 13. März hat der Deutsche Ethikrat eine Stellungnahme zum Thema Klimagerechtigkeit veröffentlicht. Der Moraltheologe Franz-Josef Bormann, selbst Mitglied des Ethikrates und Mitverfasser eines Sondervotums zur Stellungnahme, erläutert den Anspruch und vier zentrale Schwachstellen des Textes.

Armin Grunwald, Kerstin Schlögl-Flierl und Alena Buyx (v.l.) stellen am 13. März 2024 die Stellungnahme
© Deutscher Ethikrat | Christian Thiel

Die angemessene Bewältigung des Klimawandels und seiner Folgen gehört ohne Zweifel zu den großen Menschheitsaufgaben der Gegenwart und Zukunft. Da in diesem Bereich nicht nur vielfältige technische, wirtschaftliche und politische Probleme zu lösen, sondern auch grundlegende Fragen einer gerechten Verteilung von Chancen und Belastungen zu beantworten sind, ist es auf den ersten Blick zu begrüßen, dass der Deutsche Ethikrat (DER) am 13. März eine Stellungnahme zur "Klimagerechtigkeit" vorgelegt hat. Um besser zu verstehen, warum dieser Text in der medialen Berichterstattung zu Recht teilweise heftig kritisiert wurde, dürfte es hilfreich sein, sich den Anspruch und die Schwachstellen dieses Textes noch einmal zu vergegenwärtigen.

Zwar kann der mögliche Beitrag eines interdisziplinär besetzten Expertengremiums, dessen Zuständigkeit laut Ethikratsgesetz (EthRG) primär "auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften und ihrer Anwendung auf den Menschen" liegt, im Bereich der Klimaethik ohnehin nur darin bestehen, eine grobe ethische Orientierung für grundlegende Abwägungsentscheidungen zu liefern. Doch bleibt der vorgelegte Text in mehrfacher Hinsicht hinter diesem selbst gesetzten Ziel zurück.

Das vorgeschlagene Modell weist einige empfindliche argumentative Probleme und normative Leerstellen auf.

Nicht zu beanstanden ist dabei die Kartografierung der Problemlandschaft, die mit der Unterscheidung von innergesellschaftlichen, internationalen und intergenerationellen Verteilungsfragen ebenso sachgemäß wie vorhersehbar ausfällt. Zur Lösung der vielfältigen Herausforderungen auf diesen zerklüfteten Problemfeldern schlägt der Ethikrat vor, egalitaristische (d.h. auf Gleichheit ausgerichtete), suffizientaristische (d.h. an einer ausreichenden Versorgung orientierte) und prioritaristische (d.h. auf die vorrangige Verbesserung besonders marginaler Zustände zielende) Überlegungen zu einer um das Prinzip gerechter demokratischer Teilhabe und Beteiligung erweiterten "suffizientaristischen Schwellenwertkonzeption der Klimagerechtigkeit" (61) zu verbinden. Durch die Kombination dieser drei – entfernt an John Rawls' Fairnesskonzept für die soziale Gerechtigkeit aus den 1970er-Jahren erinnernden – Theoriebausteine soll es möglich werden, nicht nur den Korridor moralisch qualifizierten Handelns, sondern auch die jeweiligen Verantwortungsbereiche verschiedener Akteursgruppen genauer bestimmen zu können. 

Vier Probleme

Allerdings deutet bereits der auffällige Umstand, dass die Leistungskraft dieses Konzeptes an keinem einzigen Beispiel im Text demonstriert wird, darauf hin, dass das vorgeschlagene Modell einige empfindliche argumentative Probleme und normative Leerstellen aufweist. Aus der Fülle der möglichen Kritikpunkte seien nur vier Probleme benannt.

Erstens bleibt völlig unklar, wie sich die auf die Verwirklichung der "Klimagerechtigkeit" bezogenen Anstrengungen zu anderen großen Menschheitsaufgaben – etwa dem Kampf gegen Armut und Hunger oder der Friedenssicherung – verhalten und warum ihnen gegebenenfalls oberste Priorität zukommen soll. Da politische Entscheider sowohl auf nationaler wie globaler Ebene generell dazu neigen, komplexe zukunftsbezogene Probleme möglichst lange zu verdrängen, wäre es angesichts begrenzter Ressourcen gerade aus einer gerechtigkeitsethischen Perspektive wichtig, die Klimakrise nicht isoliert zu betrachten, sondern in eine umfassendere Problemlandschaft einzuordnen, um die tatsächliche Relevanz und Dringlichkeit der einzelnen Herausforderungen genauer bestimmen zu können.

Zweitens ist auch die hier propagierte "suffizientaristische Schwellenwertkonzeption" kriteriologisch unterbestimmt. So bleibt völlig unklar, wie die verteilungsrelevanten Schwellenwerte für die einzelnen, überaus heterogenen Güter jeweils konkret ermittelt werden sollen. Da die Bedeutung und der praktische (Nutz-)Wert einzelner Güterausstattungen aufgrund der extrem unterschiedlichen Handlungsumstände und Lebensbedingungen in den einzelnen Weltregionen stark variieren, werden in der jüngeren Gerechtigkeitsdiskussion nicht die Güter als solche, sondern ihr Verhältnis zur Entwicklung bestimmter Fähigkeiten – insbesondere der Handlungsfähigkeit der Akteure – als entscheidend angesehen. Es geht aber nicht nur darum, in welcher semantischen Währung der Verteilungsdiskurs selbst überhaupt zu führen ist, sondern auch um dessen normative Bezugspunkte. Je nachdem, ob dabei der basale Begriff der "Würde", die in ihrem Umfang notorisch umstrittenen "Menschenrechte" oder gar die kulturell bedingten Vorstellungen eines "guten Lebens" herangezogen werden, ergeben sich jeweils ganz verschiedene Anspruchsniveaus und Verteilungsarrangements. Für eine überzeugende Moderation der politischen Zielkonflikte in den drei zentralen Bereichen der innergesellschaftlichen, der internationalen und der intergenerationellen Gerechtigkeit bedarf es daher jenseits der stets gebotenen Sicherung eines (wiederum kontextabhängigen) Existenzminimums für alle Beteiligten einer wesentlich differenzierteren normativen Kriteriologie, um alternative Handlungsstrategien bewerten und die zeitlich zerdehnten ökonomischen und sozialen Transformationsprozesse entsprechend gestalten zu können.

Die Forderung einer Intensivierung der Anstrengungen zum Abschluss globaler Abkommen für die Begrenzung der Erwärmung ist ebenso allgemein wie wohlfeil, solange nicht absehbar ist, dass sich die größten CO₂-Emittenten in solche Abkommen einbinden lassen.

Eine direkte Folge des Fehlens einer überzeugenden Kriteriologie zur Vornahme begründeter Abwägungsentscheidungen zwischen konkurrierenden Handlungsstrategien besteht drittens im rein appellativen Charakter der Ausführungen, insbesondere zur internationalen und intergenerationellen Gerechtigkeit. Die Forderung einer Intensivierung der Anstrengungen zum Abschluss globaler Abkommen für die Begrenzung der Erwärmung ist ebenso allgemein wie wohlfeil, solange überhaupt nicht absehbar ist, dass sich die größten CO₂-Emittenten in solche Abkommen einbinden lassen. Dasselbe gilt für den Hinweis, die wohlhabenden Industriestaaten müssten die Länder des globalen Südens darin "unterstützen, die notwendigen Investitionen zur Emissionsreduzierung und Anpassung an den Klimawandel zu finanzieren" (108). Auch hier wüsste man gerne Konkreteres darüber, wie eine solche Unterstützung angesichts sehr unterschiedlicher nationaler Strategien etwa im Blick auf den auf der letzten Weltklimakonferenz COP-28 eingerichteten Ausgleichsfonds für Schäden und Verluste näherhin aussehen sollte und wie weit die Hilfspflichten unter Berücksichtigung des Verursacher- und des Leistungsfähigkeitsprinzips konkret reichen sollen. Auch die Überlegungen zur intergenerationellen Gerechtigkeit erschöpfen sich weitgehend in einigen Hinweisen zur Verbesserung der politischen Repräsentanz jüngerer oder noch nicht geborener Personen, ohne die ethisch relevanten Fragen einer gerechten Verteilung verschiedener Anpassungsmaßnahmen über eine längere Generationenfolge unter Berücksichtigung der Diskontierungsproblematik auch nur für einen einzigen Handlungsbereich zu beantworten.

Viertens führen die aufgezeigten Leerstellen auch zu Unklarheiten bei der Identifizierung und Zuschreibung konkreter Verantwortlichkeiten. Zwar bildet das vom DER schon mehrfach genutzte Konstrukt der sogenannten Multiakteursverantwortung durchaus einen geeigneten formalen Rahmen dafür, die verschiedenen Ebenen der Verantwortungsübernahme im individuellen, institutionellen und systemischen Bereich nicht nur gegeneinander abzuschichten, sondern auch ihre jeweiligen Interdependenzen zur Geltung zu bringen, doch setzt dies eine präzise Klärung inhaltlicher normativer Fragen voraus, die hier gerade nicht geleistet wird.

Grundlegende Orientierung statt illiberaler Moralismus

Eine zureichende Bestimmung des schillernden Begriffs der "Klimagerechtigkeit" setzt die Beantwortung verschiedener ethischer Fragen voraus: Diese reichen von der Auseinandersetzung mit dem grundsätzlichen Problem, ob wir überhaupt im Sinne einer idealen Theorie ein normativ hinreichend bestimmtes Ziel mit klar definierten Handlungspfaden zu seiner Verwirklichung identifizieren können (oder mit einem pluralen Set alternativer Strategien zu rechnen haben), über die Bestimmung des moralischen Gewichts einzelner Grundsätze (wie z.B. des Gleichheits-, des Verursacher- oder des Leistungsfähigkeits-Prinzips) bis hin zur Aufgabe einer Begründung konkreter Schwellenwerte für einzelne Fähigkeiten, die aus moralischen Gründen auf keinen Fall unterschritten werden dürfen.

Da die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats keine dieser Aufgaben auch nur ansatzweise einer Lösung zuführt und die entsprechenden argumentativen Leerstellen stattdessen durch einen tendenziell illiberalen Moralismus füllt, der sich letztlich in einem bloßen Appell zu mehr politischem Einsatz für den Klimaschutz erschöpft, dürfte ihr praktischer Orientierungswert für die Politik letztlich marginal ausfallen. Dies ist umso bedauerlicher, als gerade die deutsche Klimapolitik aufgrund ihrer vielfältigen Versäumnisse und unausgereiften Gesetzesinitiativen einer grundlegenden ethischen Orientierung dringend bedürfte, um mittel- und langfristig zu einer kohärenteren Handlungsstrategie zu finden.

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