Eigentlich ist es eine Schande, dass es einen prominenten Fall braucht, damit endlich im großen Stil über ein Thema gesprochen und geschrieben wird, das so viele angeht: Altersdepression. Mehr als eine Woche ist es inzwischen her, dass der bekannte 83-jährige Unternehmer Wolfgang Grupp in einem Brief öffentlich machte, dass er unter der psychischen Krankheit leidet. Bevor er sich so weit öffnen konnte und sich in professionelle Behandlung begab, war die Lage so schlimm gewesen, dass er bereits einen Suizidversuch begangen hatte. Kaum war die Nachricht in der Welt, wurde jede Zeile des Briefs journalistisch abgeklopft. In Interviews beleuchteten verschiedene Fachleute den Fall aus jeder Richtung. Selbst einfache Angestellte von Grupps Textilfirma wurden nach ihrer Einschätzung befragt. Fast konnte man den Eindruck gewinnen, das Thema wäre eine letzte Sensation vor dem alljährlichen nachrichtlichen Sommerloch.
Dabei ging manchmal ein bisschen unter, dass die Geschichte von Wolfgang Grupp – so exemplarisch sie vielleicht sein mag – eben kein Einzelfall ist, sondern Symptom eines großen gesellschaftlichen Problems. Und dass nicht alle Betroffenen die Möglichkeit haben, mit ihrer Erkrankung so offen umzugehen. „Viel mehr Menschen, als wir denken, leiden unter Altersdepressionen“, brachte es eine Ärztin in den sozialen Medien auf den Punkt. „Oft ist es nicht einfach, alt zu werden, egal unter welchen Umständen.“ Studien zeigen, dass überproportional viele Suizide von Menschen über 60 Jahren begangen werden. Besonders oft von Männern, die aus dem aktiven Arbeitsleben ausgeschieden sind und sich jetzt in einem neuen Lebensabschnitt wiederfinden, in dem berufliche Erfolge nicht mehr so viel zählen. Grupp, der sich über Jahrzehnte ganz der Arbeit verschrieben hatte, hatte die Leitung seines Unternehmens im letzten Jahr abgegeben. Danach hatte er das Gefühl, „nicht mehr gebraucht zu werden“, wie er in seinem Brief schrieb.
Abseits von dem konkreten Fall sollte uns diese Entwicklung nachdenklich machen, ob in unserer zunehmend auf Leistung getrimmten Welt noch genug Platz ist für die, die nicht mehr mithalten können – sei es aus Krankheit oder wegen ihres Alters. Wer den eigenen Selbstwert nur über seine Arbeit definiert, läuft Gefahr, in ein Loch zu fallen, wenn diese Konstante wegfällt. Genauso kann es Menschen gehen, die von anderen nur auf ihre Funktion in einem Betrieb oder auch ihre Leistung in der Familie reduziert werden.
Möglich, dass in einer Welt, in der die Menschen vielerorts zunehmend anonym nebeneinanderher leben, etwas verloren gegangen ist, von dem ältere Menschen in vergangenen Zeiten profitiert haben. Ein Gefühl der Gemeinschaft über Generationengrenzen hinweg. Ein entspannteres Miteinander am Gartenzaun, beim Bäcker oder bei einer längeren Mittagspause im Park. Im Alter eine neue erfüllende Beschäftigung zu finden, sich vielleicht ein neues Netz aus Kontakten aufzubauen, ist heute nicht immer leicht. Aber – und das ist die gute Nachricht – es ist nie zu spät, damit anzufangen. Und wer das Gefühl hat, vielleicht selbst in eine Depression zu rutschen, dem sei der Rat ans Herz gelegt, den Wolfgang Grupp in seinem Brief betont: „Suchen Sie sich professionelle Hilfe und begeben Sie sich in Behandlung.“ Es lohnt sich.