Ezechiel/Hesekiel

Ein außerordentliches Prophetenbuch

Das Ezechiel-Buch ragt in mehrfacher Hinsicht aus dem Kanon der Prophetenbücher heraus: Es fasziniert durch die Bildmächtigkeit seiner Sprache, die Absurdität der prophetischen Zeichenhandlungen und die Plastizität seiner Visionsschilderungen. Es gewährt auch wertvolle Einblicke in die wichtige Achsenzeit der Geschichte des Alten Israel zwischen 597 und 586 v. Chr.; sie umfasst die Ereignisse der Eroberung Jerusalems, der Zerstörung des Tempels, des Untergangs der Monarchie, der Deportation der judäischen Oberschicht nach Babylon und des Beginns der dortigen Gefangenschaft. Literargeschichtlich stellt das Buch Ezechiel einen wichtigen Referenzpunkt für die priesterliche Schicht (P) im Pentateuch und das »Heiligkeitsgesetz« (Lev 19–26) dar. Diese Bezüge wirken daher bis heute sehr anregend für die wieder lebhaft diskutierte Frage nach der Entstehung des Pentateuch.

Zeiten, Orte und Akteure in Ezechiel

Zeiten: Eine weitere Besonderheit des Ezechiel-Buches ist sein geschlossenes Datierungssystem, das das gesamte Buch gliedert und wertvolle biographische und politische Bezugspunkte ermöglicht. Die Eckpunkte dieses Systems können dies zeigen: Das Ausgangsdatum in 1,1f (Ezechiels Berufung) bezieht sich einerseits auf das 30. Jahr seines Lebens, andrerseits auf das 5. Jahr nach der ersten Deportation; das ist das Jahr 593 v. Chr. Das Wendedatum in 33,21 (Ezechiel erhält die Nachricht vom Fall Jerusalems) bezieht sich auf das 11. Jahr nach dieser Deportation, das Jahr 586, und das Enddatum in 40,1 betrifft Ezechiels Entrückung nach Jerusalem, die sich im 14. Jahr nach der Eroberung Jerusalems vollzieht, im Jahr 571. Aus diesen drei Datierungen ergibt sich eine Verkündigungsphase des Propheten zwischen 597 und 571 v. Chr. Die Texte des Ezechiel-Buches beziehen sich also auf die letzte Zeit des politisch verfassten Juda und auf die beginnende Exilszeit, ganz unabhängig davon, wann die Einzeltexte verfasst und niedergeschrieben sind, sicher in einigem Abstand zu den Ereignissen selbst.

Orte: Das Ezechiel-Buch kennt zwei Schauplätze der geschilderten Vorgänge: Babylon und Jerusalem. Nach Babylon wird Ezechiel mit seinen Landsleuten verschleppt; dort wird er auch zu seinem prophetischen Leitungsdienst (33,31) für die Exilsgemeinde berufen (1,1.3; 3,15). Jerusalem ist der Ort, wohin Ezechiel im Rahmen seiner Visionserlebnisse entrückt wird (8,1–4; 40,1–3), um sowohl die Gräuel am Tempel anzuprangern (8,1–18) als auch seine Wiedererrichtung und Neuordnung festzulegen (40–48). Babylon ist also der Aufenthaltsort der judäischen Exilierten- Gemeinschaft, der Gola, in der Ezechiel wirkt; Jerusalem ist der Ort seiner visionären Gegenwart und das Hauptziel seiner Gerichts- und Heilsbotschaft.

Akteure: Hauptakteur des Ezechiel-Buches ist JHWH. Von ihm geht jedes Wort aus, das Ezechiel der Gola in Babylon oder den Bewohnern Jerusalems mitteilen, auch jedes Handeln, das der Prophet vor seinen Adressaten vollziehen soll. Sprachlicher Ausdruck für diesen göttlichen Ausgangspunkt von Wort und Handeln des Propheten sind zwei Formeln, die sehr oft verwendet werden: die Wortereignisformel (z. B. 1,3) und die Erkenntnisformel (z. B. 6,7). Adressat aller göttlichen Wortäußerungen und Aufträge ist Ezechiel, der zweite Hauptakteur des Buches. Er berichtet von den göttlichen Aufträgen durchgehend in der Ich- Form, ist also der Ich-Erzähler des Buches. Angeredet wird er von JHWH stereotyp mit dem Titel »Menschensohn« (ben ´adam), was hier bedeutet: Vertreter der Gattung »vergänglicher, sterblicher Mensch«, der in großem Abstand zu Gott steht.

Biografisch erfahren wir von Ezechiel (hebr. Jechezq-´El – »stark ist Gott«) wenig: 1,3 führt den Vaternamen Busi an und nennt »Priester« als seinen Beruf, was den priesterlichen Horizont vieler Texte des Buches motivieren kann. Beiläufig teilt 24,18 mit, dass Ezechiel verheiratet war; aber die Nachricht vom Tod seiner Frau wird sogleich symbolisch auf das Verhalten und Ergehen seines Volkes gedeutet. Das betrifft auch weitere scheinbar persönliche Aussagen zu Ezechiel, wie sein zeitweises Verstummen (3,26; 33,22) oder sein Wächteramt (3,17) über Israel.

Weitere Akteure bleiben eher am Rand des meist visionären Geschehens und fungieren als Adressaten der prophetischen Botschaft: die Ältesten Judas (8,1) und Israels (14,1; 20,1), die verschiedenen Gruppierungen am Jerusalemer Tempel (8–11), die Könige Israels (17; 19; 34), die Propheten und Prophetinnen (13).

Das Ezechiel-Buch als Literatur

Die einheitliche Oberfläche

Kein Prophetenbuch ist sprachlich so einheitlich gestaltet wie Ezechiel. Das wird erreicht

– durch die Stilisierung aller 48 Kapitel als Ich-Rede oder Ich- Erzählung des Propheten

– durch die Gestaltung dieser Ich-Rede als Zitat der göttlichen Aufträge,

– durch die konstante göttliche Anrede »Menschensohn«,

– durch zahlreiche wiederkehrende Formeln,

– durch die gliedernden Datierungen.

Doch dies ist nur die Oberfläche des Buches. Es ist wie auch die anderen prophetischen Bücher kein einheitliches, von einem einzigen Autor verfasstes literarisches Werk, sondern ein Sammelwerk verschiedener prophetischer Äußerungen aus mehreren Epochen.

Die Anzeichen eines längeren Entstehungsprozesses

Die Indizien seiner Uneinheitlichkeit und eines längeren Textwachstums ergeben sich aus den Spannungen, Widersprüchen und Brüchen im Textverlauf. Sie bestehen:

– zwischen Poesie und Prosa (vgl. z. B. 17 und 18),

– zwischen Unheils- und Heilsaussagen (z. B.: 6,1–7.8–10 sowie 11,1–13.14–21),

– zwischen Botschaften an die Gola und an Jerusalem (vgl. z. B. 14,21–23 mit 33,22–29),

– zwischen den an Israel adressierten Reden und den sogenannten Fremdvölkersprüchen (25–32),

– zwischen den dominierenden zeitlichen Verhältnissen des 6. Jahrhundert und den ebenfalls vorhandenen Merkmalen apokalyptischer Literatur des 2./1. Jahrhunderts (in 37–39; 40–48).

So kann man ein längeres Wachstum der Buchwerdung annehmen, das sich vom 6.–2. Jahrhundert v. Chr. erstreckt haben dürfte. Dieser Prozess wird heute mit hauptsächlich zwei Entstehungstheorien zu erklären versucht:

– mit dem Fortschreibungsmodell, wonach bestehende Grundtexte nach und nach um erklärende, auch korrigierende Kommentare erweitert worden seien,

– mit redaktionsgeschichtlichen Modellen, wonach die anwachsende Textsammlung Ezechiel textübergreifend in etwa drei Redaktionsstufen überarbeitet und erweitert worden sei: in einer deuteronomistischen, priesterlichen und einer mit der Exilsgemeinde sympathisierenden Redaktion. Am Ende dieses Redaktionsprozesses stehen noch die apokalyptisch ausgerichteten Einträge, wie sie sich in Ez 37,1–15 greifen lassen.

Doch gibt es auch die gegenteilige Ansicht, Ezechiel sei ein einheitliches Prophetenbuch erst aus dem 3. Jahrhundert, verfasst von einem einzigen Autor, der sich den Namen des prominenten Exilspropheten ausgeliehen habe.

Häufige und typische Textsorten

An erster Stelle stehen die Visionsberichte. Allen voran das im Rahmen der Thronwagen-Vision sich vollziehende Berufungsgeschehen der Kap.1–3, die Vision vom Auszug (8–11) und Wiedereinzug der Herrlichkeit (kabod) JHWHs (43), die prominenten Visionserzählungen vom wiederbelebten Totengebein (37) und der in das ganze Land strömenden Tempelquelle (47). Bei allen diesen Berichten ist Ezechiel in das visionäre Geschehen einbezogen, die Hand JHWHs legt sich auf ihn, er ist ergriffen und körperlich betroffen; häufig ist ihm auch eine Deute-Gestalt (angelus interpres) beigegeben, die das Geschaute für ihn erläutert. Prophetische Zeichenhandlungen sind auch im Ezechiel-Buch Medien politischer Prophetie. So muss sich Ezechiel im göttlichen Auftrag einmal auf die linke, dann auf die rechte Seite legen, um die Schuld Israels und Judas zu tragen (4,4–8); oder er muss mit Sack und Pack vor den Menschen einherziehen, um ihnen die Verschleppung anzukündigen (12,1–7). Weitere solcher Zeichenhandlungen mit Verkündigungswert finden sich in 4,1–5,17.

Disputations- oder Bestreitungsworte sind wie in anderen prophetischen Büchern Orte theologischer Auseinandersetzungen: Dem zitierten Einwand des Volkes entgegnet der Prophet; so in 18,1–4 dem Sprichwort von den sauren Trauben oder in 20,32–38 dem Wunsch, wie die anderen Völker zu sein. Weitere Einwände des Volkes finden sich in 12,21–25; 33,10f; 37,11–14.

Typisch für das Ezechiel-Buch sind schließlich Bildreden, die ebenfalls im Dienst politischer Prophetie stehen, wie die Bildreden vom Findelkind Jerusalem, das sich zur Hure entwickelt (16; 23), vom Adler und der Zeder in Ez 17, von Tyros als Kaufmannschiff (Ez 27) oder vom Pharao als Weltenbaum (31f).

Aufbau

Der Endtext des Ezechiel-Buches folgt der klassischen Dreiteilung der Prophetenbücher: (1) Gericht und Unheil über Israel bzw. Jerusalem: 1–24; (2) Gericht und Unheil über die Fremdvölker: 25–32; (3) Heil für Israel bzw. Jerusalem: 33–39. Der 3.Teil ist im Ezechiel-Buch um einen umfangreichen Sonderteil ausgeweitet, dem »Verfassungsentwurf« 40–48; er nimmt die Neuordnung von Tempel, Priesterschaft und Jahresfesten vor, regelt auch die Landverteilung neu. Der Entwurf des neuen Tempels in vollkommenen Maßen fungiert deutlich als Gegenbild zum ersten Tempel mit seinen zahlreichen Missständen (8–11).

Ziele und Perspektiven

Die inhaltliche Ausrichtung des Buches lässt sich mit den drei Ebenen der Zeitachse skizzieren: Das Ezechiel-Buch schaut zurück auf die Vergangenheit des Volkes und benennt schonungslos die Ursachen der Katastrophen von 587/86. Sie lagen in der Widerspenstigkeit, im Trotz und in der Untreue des Volkes (2,6; 3,7–11;14,21–23;16;23). Daher kam das Gericht über Israel zu Recht. Deutliche Distanz von der Vergangenheit und Umkehr sind nötig (14,6).

Ezechiel blickt auf die Gegenwart des Volkes in der Gola, dem er selber angehört. Er versucht die Exilierten-Gemeinde als Elitegruppe der Zukunft Israels zu stabilisieren und auf den richtigen Weg zu bringen (11,14–21;14,14;33,30–33).

Schließlich schaut Ezechiel im »Verfassungsentwurf« (40–48) auf die Zukunft des Volkes und sieht sie im erneuerten Jerusalem und einem gereinigten Tempelkult (47). Er kann das ganze Land gesund machen (47,8f).

Wirkungsgeschichte

Im Neuen Testament haben das Ezechiel-Buch und sein Aufbau großen Einfluss auf die Konzeption der Johannes-Offenbarung ausgeübt. Beide Bücher beginnen mit einer Thronvision Gottes (Ez 1–3; Offb 4–5). Dabei tauchen die vier Wesen auf (Ez 1,10; Offb 4,6f), die in der späteren christlichen Tradition zu den Evan gelistensymbolen werden. Auch das Motiv »Verschlingen der Buchrolle« aus Ez 2,8–3,3 wird in Offb 10,8–10 aufgenommen. Die Rede von der »Hure Babylon« (Offb 17) ist offenkundig von Ez 16;23 inspiriert, das Gericht über den Satan (Offb 20,7–10) von der Gog-Magog-Perikope in Ez 38f.

Die Wirkmächtigkeit der Bildsprache Ezechiels hat die Künstler vieler Epochen angeregt, vom Ezechiel-Zyklus in der Synagoge von Dura Europos (200 n. Chr.) über die Fresken in der Doppelkirche in Schwarzrheindorf bei Bonn (12. Jh.) bis zur bewegten Ezechielpredigt der Rokokoskulpturen von Zwiefalten (1765).

Für die musikalische Rezeption von Ezechiel-Texten lässt sich auf zwei Werke des 20. Jahrhunderts verweisen: auf Rudolf Mauersbergers »Dresdner Requiem« (1947–1951) und auf Krysztof Pendereckis 7. Sinfonie »Die Sieben Tore von Jerusalem« (1997); im 5. Satz, ein Melodram, trägt ein Sprecher in hebräischer Sprache den Text Ez 37,1–10 vor.

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