Mit Kindern die Bibel neu entdeckenDie Bibel lässt dich nicht mehr los

Ausgehend von Kindern als kleine und doch großartige Philosophen und Theologen entfaltet der Religionspädagoge Rainer Oberthür an Beispielen aus seiner „Bibel für Kinder und alle im Haus" Haltungen und Wege der Entdeckung der Bibel als eine zeitlos spannende Erfahrungs- und Lerngeschichte von Menschen mit Gott.

Fazit

Kinder sind Weltneulinge und Gottsucher. Sie leben in Fragen und suchen nach Antworten, die der Größe ihrer Fragen gerecht werden. So sind sie auch offen für Begegnungen mit Texten der Bibel und Bildern zur Bibel, wenn ihnen die Bibel als ein Buch zu ihren großen Fragen begegnet und sie sich dabei ernst genommen fühlen. Betrachten wir das Leben gemeinsam mit den Kindern als „große Frage", die uns mal staunen und mal erschaudern lässt! Nähern wir uns mit Kindern der Bibel als einem Buch zu den Fragen der Menschheit und als großartige Erfahrungsgeschichte von Menschen mit Gott! Dann können wir zeitgemäße Zugänge zur Bibel finden. Dann können sich spannende Dialoge mit der Bibel und untereinander eröffnen. Wir lesen die Bibel und die Bibel liest uns. Gemeinsam können wir zugleich altersgemäß und generationenübergreifend mit der Bibel wachsen. 

Kinder haben große Fragen. Das ist in erster Linie so, weil sie Menschen sind. „Wer Fragen hat und weiß, dass er fragt, der ist ein Mensch", stellt mein zehnjähriges Kinderbuchmädchen Nele in ihrem „Buch der großen Fragen" fest (S. 85). Die großen Fragen stellt der Mensch schon als Kind und einiges spricht dafür, dass der Mensch als Kind so phantasievoll und einfühlsam, so grundsätzlich und intensiv fragt wie nie mehr in seinem Leben. Schon deshalb sollten wir Kindern immer wieder ermöglichen zu fragen, zu staunen und sich zu wundern: Warum bin ich gerade ich geworden? Warum gibt es die Welt? Warum gibt es überhaupt etwas? Und als Erwachsene können wir mit den Kindern das Fragen wieder neu lernen. Gemeinsam große Fragen zu stellen und sie zu würdigen, sie auszukosten - Kommt man im All niemals an ein Ende? - oder auch auszuhalten - Warum müssen Menschen sterben? - kann eine für alle bereichernde Erfahrung sein. 

Kinder finden Antworten - mit Kindern Antworten suchen 

Die Frage hat ihren eigenen Wert und ist schon ein Weg zu möglichen Antworten: „Wer fragt, weiß schon etwas", stellt Katrin (10 Jahre) fest. Wie sehr Fragen bereits Perspektiven enthalten und zugleich die Spannung der Frage auf den Punkt bringen, zeigt eine Frage des neunjährigen Ben „Wenn ich sterbe, werde ich dann aus dem gezogen, der ich bin." Indem Ben dreimal „ich" sagt, verbindet er im Reden vom Sterben die Beständigkeit seiner Existenz mit dem Prozess des Wandels. Im Sterben („wenn ich sterbe") wird die eigene Existenz zugleich verwandelt werden („werde ich aus dem gezogen") und doch bleiben („der ich bin"). Ben stellt die Kernfrage nach unserer Identität nach dem Tod. Seine Perspektive entspricht der christlichen Glaubensüberlieferung. Der Tod ist nicht das Ende, auch nicht ein Eingehen in einen gesichts- und geschichtslosen Zustand. Vielmehr beginnt ein neues Leben in Kontinuität zum alten. 

Gehen wir mit Kindern unseren Menschheitsfragen nach, dann wachsen wir gemeinsam in die Perspektiven von Antworten hinein. Dass bei wirklich wichtigen Fragen mögliche Antworten nicht das Fragen beenden, sondern ein Weiterfragen provozieren, ist dabei eine grundlegende Erkenntnis für alle. Zudem tröstet uns das Kind, das meinte: „Es gibt Fragen, die kann man nicht beantworten. Aber es gibt auf alle Fragen eine Antwort." 

Nehmen wir ein anderes Beispiel einer versteckten Antwort, die es für uns als Erwaschene erst herauszuhören gilt. Die achtjährige Lena sagt wörtlich: „Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es mich nicht gibt. Ich denke dann immer, dass ich sonst wohl als jemand anders geboren wäre. Aber ich wäre dann ja gar nicht ich!" Im Nachdenken berührt Lena das unergründliche Geheimnis der eigenen Existenz. Warum bin ich ich? Warum bin ich überhaupt? Auch wenn sie es nicht ausspricht: Im Wundern über die eigene Existenz spürt sie, dass wir Menschen uns nicht selbst verdanken, dass wir Geschöpfe sind. Weil ich nicht aus mir selbst bin, weil ich geschaffen bin, bin ich ich. 

Zu Lenas zweifellos logischem Dreischritt, dem selbst ein Atheist kaum widersprechen kann, der einladend offen ist für eine Glaubensposition, habe ich in „Neles Buch der großen Fragen" einen Kindergedanken- Text geschrieben (S. 71, s. Kasten). Wer so etwas wie Lena schon einmal gedacht hat, wird sich bei Nele gut aufgehoben wissen. Ich biete also dem Leser Sprache an, die helfen kann, eigene Fragen und Gedanken in sich zu entdecken und zur Sprache zu bringen. So können wir als Erwachsene Kindern helfen, das Potential, das in ihnen steckt, zu wecken. Wir geben Kindern Worte, um ihnen das Wort zu geben. 

Mit Kindern die Bibel als ein Buch der Fragen entdecken 

Allzu oft vergessen wir, dass die Bibel kein Kinderbuch ist: Sie wurde nicht für Kinder geschrieben! Trotzdem erscheinen - Gott sei Dank - immer wieder Kinderbibeln. Denn Kinder können die Worte und Geschichten der Bibel sowie Bilder zur Bibel sehr unmittelbar verstehen, intuitiv erfassen und auf ihr Leben beziehen. 

Die Bibel ist für Kinder mehr als ein Buch mit schönen Geschichten. Wir können es mit ihnen lesen als ein Buch zu den großen Fragen der Menschheit, das die spannende, froh machende, aber auch immer wieder durch Leid geprägte Erfahrungs- und Lerngeschichte der Menschen mit ihrem Gott erzählt: Da ist zuerst die Geschichte des Volkes Israel mit dem einen und einzigen Gott. Dann folgt die Geschichte von Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi, der für Christen zum Bild Gottes wurde. Immer mehr haben die Menschen mit und von und über ihren Gott gelernt, immer mehr hat Gott sich ihnen gezeigt, sich erfahren lassen und offenbart. Insofern ist die Bibel Gottes Wort in Menschenwort. Menschen haben sie geschrieben, aber nicht ohne Gott. 

Kinder sollten die Bibel von Anfang an als ein Buch kennen lernen, das sie und ihre großen Fragen ernst nimmt. Vereinfachung, Verharmlosung, Verfälschung und Verkitschung, sei es aus vermeintlicher Rücksicht auf die Kinder oder zur Entlastung des Gottesbildes, halte ich für problematisch. 

Die Bibel als ein Buch für Kinder und alle im Haus 

Den soeben beschriebenen Anspruch habe ich in meiner „Bibel für Kinder und alle im Haus" versucht umzusetzen. Nichts in dieser Bibel sollte später - wenn aus Kindern Jugendliche bzw. Erwachsene geworden sind - zurückgenommen werden müssen. Ich begleite den Leser persönlich und sachlich durch die Bibel, die vor allem durch die Ausstattung mit Bildern der Kunst (ausgewählt und erschlossen durch Rita Burrichter) ein besonderes, wertvolles Buch ist. 

Kinder begegnen der Bibel,wenn überhaupt, in der Regel in Fragmenten. Sie brauchen neben den einzelnen, in sich selbständigen Bibeltexten auch Gesamtzusammenhänge („rote Fäden") und Deutungsangebote. Diese beiden Textgattungen - Bibeltexte und Kommentierungen - sind farblich voneinander unterschieden, damit der Leser weiß, wann „die Bibel" spricht und wann ihr Herausgeber. Dem Leser wird ein Weg durch die Bibel angeboten, der in Bezug auf Text- und Bildauswahl, Erklärungen und Verstehenshilfen zunächst meiner ist. Der Leser ist eingeladen, diesen Weg mitzugehen und seinen eigenen Weg durch die Bibel zu finden. 

Mit der Bibel nach dem Anfang von Welt und Mensch fragen 

Die Wahrheit der Bibel ist überzeitlich und zugleich geschichtsbezogen. So sind die Urgeschichten nicht historisch zu verstehen, wohl aber lebensgeschichtlich verankert. In der Kinderbibel habe ich das so ausgedrückt: „Es wird erzählt von einer Zeit, die weit zurückliegt und uns doch ganz nahe kommt, die niemals war und doch bis heute immer noch ist, die jeder Mensch wie seine Kindheit in sich trägt. Diese Geschichten stehen am Anfang der Bibel, obwohl sie später entstanden sind als viele andere. Sie berichten nicht von bestimmten Augenblicken in der Geschichte der Menschheit auf der Erde. Die Urgeschichten erzählen vom Ursprung der Welt in Gott, sie erzählen von dem, was bis heute geschieht,wenn Menschen zusammen sind." (S. 20) 

Kinder können ihre Fragen nach dem Anfang des Universums und der Welt, nach dem Leben auf der Welt bis hin zum Menschen in den biblischen Schöpfungserzählungen entdecken, aber ohne damit in Widerspruch zu den ihnen bereits früh begegnenden Theorien vom „Urknall" zu geraten. Entsprechende Deutungsangebote scheinen mir notwendig zu sein: „Wie wir heute, so fragten sich auch die Menschen damals: Warum gibt es eine Welt? Warum gibt es uns? Warum gibt es nicht nichts? Und aus ihrem Glauben an Gott heraus haben sie geantwortet. Diese Geschichten wollen uns nicht berichten, wie genau die Welt entstanden ist. Das versuchen uns heute die Naturwissenschaftler zu erklären. Von ihnen hören wir, dass der Anfang des Universums, der so genannte Urknall ungefähr 15 Milliarden Jahre zurückliegt. Aber woher dieser Urknall kommt, das können die Wissenschaftler auch heute nicht wissen." (S. 21) 

Mit der Bibel die Fragen nach Gewalt und Krieg, Leid und Gott stellen 

Besonders die „schweren" Texte der Bibel fordern Kinder heraus. Sie wollen sie hören, da sie die ihnen entsprechenden „schweren" Fragen bereits kennen. In der Geschichte von Kains Brudermord beispielsweise begegnen sie der Frage nach Gewalt und Krieg. Sie lernen sie auch als eine Geschichte zur Frage nach unterschiedlichen Schicksalen von Menschen kennen, die Gott zulässt: „Wie bei Kain und Abel, so ist es auch im Leben. Der eine hat Glück, der andere scheitert und ist im Unglück. Der eine ist reich, der andere hat wenig. Der eine bleibt gesund, der andere wird immer wieder krank. Gott lässt das zu und das ist schwer auszuhalten für die, denen es schlecht geht. So kann Gewalt entstehen bis hin zu Mord und Totschlag. Natürlich ist Gewalt keine Lösung und sie macht alles noch viel schlimmer. Doch von Gott verlassen ist niemand bis zum Ende, auch wenn er noch so allein und verzweifelt ist. Wie wäre die Geschichte eigentlich weitergegangen, wenn Kain und Abel von Anfang an gemeinsam Gott gedankt und miteinander geredet hätten?" (S. 37) 

Auch die Geschichte von Abraham und Isaak lässt Kinder zu Recht die Frage stellen: Warum verlangt Gott vom Vater die Opferung seines geliebten Sohnes? Ich biete zu dieser anstößigen Erzählung, die letztlich nicht verstehbar ist, zwei Deutungsangebote, die Text und Leser ernst nehmen und das Weiterfragen nicht beenden. Das erste bezieht sich auf den historischen Hintergrund der Loslösung des Volkes Israel vom Menschenopfer, das mit dem Gottesbild unvereinbar ist - das zweite interpretiert die Geschichte als Ausdruck einer Lebenskrise, in der sich die Theodizeefrage unlösbar stellt und Abraham dennoch gegen alle Erfahrung Gott vertraut (S. 59, s. Kasten). 

Diese Beispiele stehen für einen dialogischen Umgang mit der Bibel, der Menschen in jedem Alter zusammenbringt, da jeder mit seinen Möglichkeiten und seinem Erfahrungshintergrund ins Gespräch mit der Bibel und mit den anderen eintreten kann. Menschen sind heute neu auf der Suche nach glaubwürdiger Information und persönlicher Begleitung in Fragen religiöser Bildung und Entwicklung. Gerade die Zeit, in der (die eigenen) Kinder ihnen Fragen stellen, ist für Erwachsene eine fruchtbare Zeit der Wiederentdeckung der Fragen von Religion und Glaube. Betrachten wir das Leben als eine einzige große Frage und die Bibel als ein Buch zu den Fragen der Menschheit und als großartige Erfahrungs- und Lerngeschichte von Juden und Christen mit Gott, eröffnen sich zeitgemäße Zugänge, spannende Dialoge untereinander und mit der Bibel, gemäß dem Grundsatz von Comenius (1592- 1670): Allen alles auf alle erdenkliche Weise! 

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