Grenzenlose Archäologie? – Eine Einführung

Grenzen sind in der Archäologie allgegenwärtig. Über alle Zeiten hinweg stoßen wir bei der archäologischen Forschung auf Grenzen. Es sind nicht nur diejenigen, die sich im Befund oder in der überlieferten materiellen Kultur zeigen. Die Wissenschaft muss sich ebenso mit fachlichen, inhaltlichen und methodischen Grenzen auseinandersetzten. Auf all diesen Ebenen kommt es fortlaufend zu Grenzverschiebungen. Sie werden festgelegt, überarbeitet und zum Teil wieder verworfen. Das führt zu einem beständigen Wandel in der Wahrnehmung und Interpretation von archäologischen Grenzen.

Der Hadrianswall im Norden Englands erinnert bis heute an die nördlichste Grenze des Römischen Reiches.
Der Hadrianswall im Norden Englands erinnert bis heute an die nördlichste Grenze des Römischen Reiches.© Manuel Cohen/akg-images

Von Julia Menne, Universität Hamburg, und Mirco Brunner, Universität Bern. Titelbild: Der Hadrianswall im Norden Englands erinnert bis heute an die nördlichste Grenze des Römischen Reiches.

Im klassischen Sinne definieren Grenzen Räume und Lebenswelten. Auf der Suche nach einer Definition zum Begriff finden sich hauptsächlich drei Aspekte, die erfüllt sein müssen, um eine solche beschreiben zu können:

  • Es liegen mindestens zwei Einheiten vor, die sich voneinander unterscheiden.
  • Diese Einheiten existieren gleichzeitig.
  • Grenzen sind (geografische) Elemente, die den Raum gliedern.

In der archäologischen Forschung werden Grenzen definiert, um große Mengen der ausgegrabenen Funde und Befunde in Strukturen und in eine Ordnung zu bringen. Anhand dieser können Deutungen und Interpretationen gemacht werden. Häufig wird auch versucht, mit Grenzen Phänomene der Geschichte zu definieren, die jedoch in den meisten Fällen nicht immer klar ersichtlich sind.

Erste derartige Eingrenzungen archäologischer Themen sind seit Beginn der Forschung zu finden und gehen mit der Etablierung des Fachs im 19. Jh. einher. Eines der Werke mit langem Nachhall schrieb der deutsche Prähistoriker Gustaf Kossinna (1858 – 1931) mit Die Herkunft der Germanen. Zur Methode der Siedlungsarchäologie im Jahr 1911. Er ging ein in die Geschichte mit der These, dass »scharf umgrenzte archäologische Kulturprovinzen sich zu allen Zeiten mit ganz bestimmten Völkern oder Völkerstämmen decken«. Mit einer Einordnung und Eingrenzung des archäologischen Fundgutes wurde versucht, Kulturkreise zu definieren. Das zu dieser Zeit maßgebend nationalistische und imperialistische Denken bedingte und förderte diese Ansichten. Die Idee von nationalen Grenzen wurde direkt auf die Ur- und Frühgeschichte gestülpt. Archäologische Kulturen, so war die Ansicht, müssen sich demnach durch geografische und zeitliche Grenzen bestimmen lassen.

Glockenbecher Keramik.
Glockenbecher Keramik. skg-images/Landesmuseum Württemberg/Hendrik Zwietasch

Die damals gängigste und bis heute angewandte Methode waren Verbreitungskarten, auf denen klar definierte Grenzen aufgezeichnet wurden. Doch alle im archäologischen Kontext gezogenen Grenzen sind von Archäologen künstlich konstruiert. Hier sind Karten, die eine geografische, klare Kartierung von Funden oder Ähnlichem ermöglichen, ein ideales Hilfsmittel. Sie verleiten allerdings oftmals zu plakativen Darstellungen. Beispiele aus der Forschung der Jungsteinzeit zeigen dies deutlich. So wurden anhand typischer Keramikfunde ganze Kulturen definiert. Hierzu zählen beispielsweise die Linearbandkeramik, Trichterbecherkultur oder die Glockenbecherkultur.

Während noch bis in jüngste Zeit die These von klar umrissenen Kulturgruppen vertreten wurde, weicht dieses Bild immer weiter auf. Begriffe wie »Gruppen« oder »Phänomene« ersetzen zunehmend den Terminus »Kultur«. Zudem richtet sich der Fokus in aktuellen Forschungsfragen eher auf Mobilität sowie Wandel und Transformationen verschiedener archäologischer Phänomene. Eine Grenze markiert also den Randbereich eines Raumes. Hier eine klare Linie zu sehen ist in der Archäologie oft unmöglich. Vielmehr tritt ein Grenzland als dynamische Erscheinung im archäologischen Fundkontext auf. Kommunikation und Interaktion zwischen zwei Räumen sind oft eindeutiger zu fassen als eine Grenze selbst.

Nicht zuletzt mit den jüngsten paläogenetischen Erkenntnissen der aDNA und Isotopen-Analysen zeigt sich dem Forscher mittlerweile ein ganz anderes Bild der Vergangenheit. Zuvor vermeintlich klare Grenzen verschwimmen miteinander – Interaktion und Austausch zu allen Zeiten werden im archäologischen Befund deutlich.

Verschiedene Formen

In der Archäologie lassen sich eine Vielzahl von Grenzen fassen. Einige von ihnen als tatsächlich physische Erscheinungen wie Wall-Graben-Anlagen. Beispiele hierfür sind der Obergermanisch-Raetische ­Limes oder der Hadrianswall in Schottland. Als Grenzbereich – weniger klar umrissen – werden jedoch auch andere archäologisch nachweisbare Grenzen wie der Limes Saxoniae bezeichnet.

Indirekt treten Grenzen im archäologischen Fundmaterial auch durch die systematische Auswertung und Bearbeitung von Fundmaterial auf. Hier lassen sich wirtschaftliche Grenzen zwischen verschiedenen Regionen oder Gruppen erkennen. Daneben fassen wir vielmehr Grenzsituationen, in denen Interaktion und Kommunikation stattfinden. Archäologische Fun­de streuen weit über das eigentliche Zentrum eines Formenkreises. Das führt zu Überschneidungsbereichen materieller Kultur. Anhand von archäologischen Funden lassen sich Grenzen nicht eindeutig definieren. Ebenso ist dadurch die Form von Grenzzonen unklar und immer im Wandel begriffen.

Zu den wichtigsten Grenzen gehören: naturräumliche Grenzen wie Gebirge, Flüsse, Meere, Moore; Grenzen in der materiellen Kultur (z. B. Schnurkeramik / Glockenbecher); politische und territoriale als auch administrative Grenzen wie der Limes, die Inner­deutsche Grenze, Landwehren, Wegsperren, Grenzgräben, Mauern und Grenzsteine. Ebenso gibt es ­linguistische, religiöse oder konfessionelle Grenzen sowie ethnische, wirtschaftliche und soziale Grenzen.

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Vom 2. Jh. n.Chr. bis in die Gegenwart: Nach dreijähriger Umbauphase hat das Limesmuseum Aalen wieder seine Türen und ­Tore geöffnet. Es lädt dazu ein, das militärische und zivile Leben der ­Römer und Germanen am Limes neu zu entdecken und sich dem Thema Grenzen auf vielfältige Weise zu nähern.

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Eine Frage der Perspektive?

Doch gemeinsam haben sie miteinander, dass sie alle abhängig von einer Definition und Sichtweise sind. Denn sie sind künstlich geschaffene gedankliche Hilfskonstruktionen für die Forscher der Gegenwart, die zumeist über viele Hunderte oder Tausende Jahre vom Zeitgeschehen getrennt sind. Sie können also nur aus einer Außenperspektive den archäologischen Befund deuten. Das führt zu Problemen, da es Überlieferungslücken in der Erhaltung gibt, Fundmaterial unvollständig ist, Grabungsdokumentationen verloren gehen oder die Quellenlage einfach generell sehr dünn ist. Die Innensicht aus der Zeit des damaligen Geschehens wird eine völlig andere gewesen sein. So kommt es zwangsläufig zu Interpretationen, die weitgehend unsere Vorstellung der Vergangenheit decken. Es stellt sich also die Frage: Auf welchen Ebenen können Grenzen in der Vergangenheit überhaupt gefasst werden? Unterschiedliche Grenzen gibt es auf verschiedenen Ebenen – von überregionalen, großräumigen bis zu lokalen Alltagsbereichen.

Über Grenzen hinaus

Die gesellschaftliche Relevanz, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, ist seit einiger Zeit auf breiter Ebene erkennbar. Man kann dies bestärkt sehen durch die jüngsten geopolitischen Entwicklungen zur Migration, Flüchtlingskrisen und erneuten Abschottungen von Nationalstaaten. Auch hier hat die Archäologie eine gesellschaftliche Aufgabe, an diesem Diskurs mitzuwirken. Gerade in den letzten zehn Jahren nahmen die Veröffentlichungen und Konferenzen zu diesem Thema wieder zu und es ist ein Wandel in der Definition von archäologischen »Grenzphänomenen« zu erkennen.

Neue Forschungsstudien zeigen vermehrt auf, dass sich Netzwerke von interagierenden Menschen über ganz Europa schon sehr früh gebildet haben. Interaktionen spielen womöglich eine wichtigere Rolle als Abgrenzungen und führen durch die ganze Ur- und Frühgeschichte hindurch zu Wandel, Innovationen und Transformationsprozessen. Eines steht auf jeden Fall fest: Die Interpretation vergangener Strukturen ist komplex, doch mit neuen innovativen Methoden liegt es an den heutigen und zukünftigen Archäologen, unsere Vorstellung der Vergangenheit zu hinterfragen.

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