Erwin Kräutler - Bischof zwischen Leben und Tod

Brasilien ist die größte Landeskirche der römisch-katholischen Kirche, auch wenn der Katholikenanteil (der einmal bei gut 80 Prozent lag) durch den Vormarsch von Sekten jährlich schrumpft, in einigen Gegenden sogar dramatisch. Obwohl es fast 400 Bischöfe und weit über 250 Diözesen gibt und obwohl er seinerzeit als ausländischer Missionar an den Unteren Xingu und an den Amazonas kam, zählt er (erst recht in Europa) zu den prominentesten Mitgliedern der brasilianischen Bischofskonferenz - und oft wird er in einem Atemzug mit großen Namen wie Hélder Câmara Pessoa († 1999), Paolo Evaristo Arns OFM, Aloísio Lorscheider OFM († 2007) oder Pedro Casaldáliga genannt: der Austrobrasilianer Erwin Kräutler CPPS, Mitglied der Kongregation der Missionare vom Kostbaren Blut.

Aus Koblach im Vorarlberger Rheintal gebürtig, vollendete er am 12. Juli 2009 sein 70. Lebensjahr. Zu diesem Anlaß veröffentlichte er (nach einem ersten autobiographischen Buch "Mein Leben ist wie der Amazonas", 1992) den berührenden Erfahrungsbericht "Rot wie Blut die Blumen" - und der Untertitel läßt keinen Zweifel daran, daß es dabei nicht um Poesie geht oder um Selbstdarstellung: "Ein Bischof zwischen Leben und Tod"1. Seit 2006 steht "Dom Erwin" rund um die Uhr unter Polizeischutz, selbst beim Morgenspaziergang, den er umständehalber in den Kreuzgang seiner Prälatur verlegen mußte. Sein Eintreten für rechtlose Kleinbauern, der Widerstand gegen einen zerstörerischen Staudammbau und sein Einsatz gegen vertuschte Mißbrauchsfälle und Kinderprostitution in Altamira, dem (1948 von Porto de Moz hierher verlegten) Amtssitz des flächenmäßig größten Diözesangebiets der Welt im Bundesstaat Pará, haben ihn ins Visier rücksichtsloser Großgrundbesitzer gerückt, die vor nichts zurückschrecken.

Als er 1983 mit Arbeitern und Kleinbauern gegen eine Zuckerrohrfabrik protestierte, die vereinbarte Löhne nicht auszahlte, wurde er von Militärpolizisten verhaftet und verprügelt. Weil er sich 1987 für die Verankerung der Grundrechte für die Indios in der Verfassung stark machte, wurde sein Wagen in einem inszenierten Unfall von einem Lkw gerammt - Kräutler wurde schwer, sein Beifahrer (ein italienischer Priester) tödlich verletzt; Täter und Auftraggeber des Mordanschlags wurden später verurteilt, nach einem zweiten Verfahren wurde der Auftraggeber wieder freigelassen. Hubert Mattle, Kräutlers Ordensgenosse und enger Mitarbeiter, wurde 1995 umgebracht. Nach der Ermordung der Ordensschwester und Umweltaktivistin Dorothy Stang (2005) wurde Kräutler wiederholt mit dem Tod bedroht. Sein hartnäckiges Auftreten gegen die Abholzung des Regenwaldes, die damit verbundene Versklavung von Menschen sowie der Protest gegen das monströse Staudammprojekt Monte Belo am Rio Xingú bringen ihm keine Freunde ein. Drohungen und Repressalien gehören für ihn zum Alltag. Der Papst weiß darum.

In seinem neuen Buch blickt Erwin Kräutler auf über vier Jahrzehnte pastoralen Wirkens am Xingu zurück, wohin er 1965, nach philosophisch-theologischen Studien in Salzburg, als Neupriester geschickt wurde - ein Gebiet, das vier Mal so groß ist wie Österreich. Sein Onkel Erich Kräutler CPPS (1906-1985) arbeitete bereits seit 1934 am Xingu und kehrte im August 1971, nach sechsjährigem Intermezzo als Vizegeneral seiner Kongregation in Rom, als Bischof zurück, wozu er im April zuvor (allerdings im fernen Feldkirch) geweiht worden war - ein Fehler, der Dom Euricos Wiedereinstieg erschwerte, da sich seine Diözese wegen der Bischofsweihe in Europa vor den Kopf gestoßen fühlte. Die von seinem Onkel 1972 veröffentlichten Erinnerungen "Blut an den Steinen", die von einem Bearbeiter zum Leidwesen ihres Verfassers zu einem "Jugend-" bzw. "Indianerbuch" im Karl-May- Stil redigiert worden waren, wurden 1997 unter dem Titel "Menschen am Xingu" neu ediert - eine postume Wiedergutmachung sozusagen2. 1980 wurde Dom Erwin zum Nachfolger seines Onkels ernannt, seine Bischofsweihe erfolgte diesmal allerdings in Altamira.

Kräutlers Schilderungen - "Nebensächlichkeiten" oft, "aber sie gehören zu unserem Alltag und sind Teil unseres missionarischen Einsatzes" (161) - gehen unter die Haut. Er setzt mit seiner ersten Predigt ein, Weihnachten 1965, unter dem unvergeßlichen Eindruck eines zweistündigen Flugs von Belém nach Altamira stehend: ein Stück Amazonien aus der Vogelperspektive, das ihn an Antonín Dvo?áks neunte Symphonie "Aus der Neuen Welt" denken ließ. 40 Jahre später eine andere Welt: "Der üppige, arten- reiche tropische Wald ist geschwunden, riesige Weideflächen in langweiligem Grün verdrängen die vielfältig grünen Bäume, Sträucher und Pflanzen. Brandrodung hat über weite Landstriche hinweg den Wald vollends zerstört. Kein einziger Baum blieb übrig. Für diese Landschaft kann Dvo?áks Symphonie keine musikalische Kulisse sein" (11).

Für Romantik hatte der Missionar und spätere Bischof wenig Zeit. Der "Segen" der Zivilisation bestand in Ausbeutung und Unterdrückung. Auf seinen unzähligen Pastoralreisen mit dem Flugzeug, auf Booten oder zu Fuß durch den Urwald hat Kräutler erleben müssen, daß der Lebensraum der Ureinwohner zunehmend bedroht wurde, bis an den Rand des Existenzminimums. Die Jahre der Militärdiktatur (1964-1985) wirken nach - auch in Prestigeobjekten wie dem 1972 begonnenen Bau der Transamazônica, die den Atlantik mit dem Pazifik verbinden soll, aber immer noch nicht abgeschlossen ist. Was geht es einen Bischof an, wenn aus Kostengründen vor der Flutung eines Staudamms nur zehn Prozent von 120000 Hektar Wald gerodet werden (vgl. 97-101), mag man fragen? Die Information, daß verfaulende Biomasse unter Wasser erhebliche Mengen an Treibhausgasen freisetzt und das stehende Gewässer zur bevorzugten Brutstätte von Stechmücken wird, wodurch Malariafälle, Atemwegsinfektionen und Hauterkrankungen überdurchschnittlich anstiegen, gibt die Antwort. Schritt für Schritt wird den Indios die Lebensgrundlage entzogen, seitdem sich der Fisch- und Wildbestand halbiert hat.

Das (be-)kümmert Dom Erwin, über den die Kayapós sagen: "Der Bischof ist kein Weißer, er ist unser Verwandter" - geworden. Er erläutert: "Die Indios machen sehr wohl einen Unterschied zwischen den Weißen, die sie respektieren und lieben, und jenen, die sie mißachten, bedrohen und ihren Lebensraum zerstören" (112). Erwin Kräutler ist ihnen Bruder geworden. Für die Indios - einst ein Synonym für "Barbar", "wildes Tier" oder "Urwaldungeheuer" (82) - setzt er seine "Prominenz" ein: uneitel, das eigene Leben wieder und wieder riskierend. Als Verbündeter der indigenen Völker kämpfte er von 1983 bis 1991 als Präsident des Indianermissionsrates der Brasilianischen Bischofskonferenz (CIMI) für deren Anliegen. 2006 wurde er erneut Präsident des CIMI, nachdem der amtierende Präsident, ein Comboni-Missionar, tödlich verunglückte. Kräutler scheut auch nicht Kritik am neuen Hoffnungsträger Brasiliens, Luiz Inácio Lula da Silva, der im Wahlkampf noch auf negative Auswirkungen des Staudamms Belo Monte hingewiesen hatte, als Präsident aber auf der Ausführung des Projekts besteht: eine "Metamorphose seiner Position, gleichermaßen wechselhaft wie ein Chamäleon" (93).

Man versteht, warum der mit mehreren Ehrendoktoraten (Luzern, Bamberg, Innsbruck, zuletzt Salzburg) und zahllosen internationalen Menschenrechts- und Umweltpreisen Ausgezeichnete ständig im Kreuzfeuer der Kritik der Mächtigen steht und ein Ziel von Angriffen, Nachstellungen und Verleumdungen geworden ist. Er lebt die "Option für die Armen", für die sich die lateinamerikanischen Bischöfe seit Medellín (1968) entschieden haben, und er präzisiert unzweideutig: "Plötzlich reden sogar Politiker, darunter ein ehemaliger brasilianischer Staatspräsident, von der Option für die Armen. Darum sprach die Brasilianische Bischofskonferenz fortan von der evangelischen Option für die Armen, damit kein Zweifel besteht, daß es der Kirche nicht um eine parteipolitische Option geht" (141f.).

Das Resümee dieses Lebensberichts klingt bescheiden: "Was läßt uns trotz aller Widrigkeiten, Hindernisse und Rückschläge weitergehen? Wir sind keine Helden und auch keine Schauspieler. Unsere Bühne ist die Realität in Amazonien, und wir lieben dieses Land und seine Bewohner. ... Was uns bewegt, sind Glaube, Hoffnung und Liebe" (161). Einfach zu leben und zu bezeugen ist das nicht. Aber Erwin Kräutler tut es, leidenschaftlich - für andere.

Stimmen der Zeit (2009) 853-858

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