Kirche, Staat und Politik

Als „Integralismus“ innerhalb des Katholizismus versteht man die auf das 19. Jahrhundert zurückgehende Überzeugung, dass das Papsttum auch in außerkirchlichen Angelegenheiten die maßgebliche Entscheidungskompetenz besitzt. Zum einen habe der Papst das Recht und die Befugnis zur letztverbindlichen Entscheidung und zum anderen verfüge er über die Expertise für richtige Entscheidungen. Folglich beansprucht der Integralismus, dass sich der Staat dem Papsttum und der Kirche mit ihren geistlichen Zielen unterzuordnen habe. Spätestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, auf dem sich die katholische Kirche unter dem Stichwort des Aggiornamento in ein neues, aufgeschlossenes Verhältnis zur Moderne gesetzt hat, wird jedoch die Ideologie des Integralismus als eine Fehlform des Katholischen zurückgewiesen.

Unter der Bezeichnung „Neo-Integralismus“ findet gegenwärtig in den USA eine Renaissance dieser Ideologie als politische Gegenbewegung zum Liberalismus statt. Auch in Europa und im deutschsprachigen Raum lassen sich solche konservativen Bestrebungen beobachten. Man würde die Dynamik und Ambitionen dieser Strömung verkennen, wenn man darin lediglich das verstärkte Bemühen einer Minderheit sehen wollte, angesichts einer schwindenden Bedeutung das katholische Profil zu stärken und eine bestimmte Idee von katholischer Identität zur Geltung zu bringen. Denn der Neo-Integralismus stellt eine Form religiöser Identitätspolitik dar, die in letzter Konsequenz auf eine faktische Unterordnung des Staats unter die normativen Vorstellungen der neo-integralistisch ausgerichteten Kirche abzielt. Der Neo-Integralismus fordert das Selbstverständnis der liberalen Demokratie ebenso heraus wie das der Kirche – bislang ist das noch nicht so in das öffentliche und kirchliche Bewusstsein gekommen, wie es nötig wäre. James M. Patterson hat bereits im Februar 2024 in einem Beitrag für die Konrad-Adenauer-Stiftung darauf hingewiesen, dass der Neo-Integralismus „heute [ …] schon in der Presse, in der Politikgestaltung und im Hochschulwesen präsent“ sei und daher nicht unterschätzt werden dürfe.

Was ist angesichts der neo-integralistischen Ideologie – aber auch von Positionen, die eine strikte Trennung befürworten – zum Verhältnis von Kirche, Staat und Politik in unserer liberalen Gesellschaft aus theologisch-ethischer Sicht zu sagen?

Die Pastoralkonstitution Gaudium et spes des Zweiten Vatikanums hat ausdrücklich anerkannt, dass es in politischen Fragestellungen möglich und legitim ist, dass Gläubige zu unterschiedlichen Überzeugungen kommen können, ohne dass sich dabei eine der Positionen auf das kirchliche Lehramt als Garant für die Richtigkeit der eigenen Sichtweise berufen könnte. So heißt es: „Oftmals wird gerade eine christliche Schau der Dinge ihnen eine bestimmte Lösung in einer konkreten Situation nahelegen. Aber andere Christen werden vielleicht, wie es häufiger, und zwar legitim, der Fall ist, bei gleicher Gewissenhaftigkeit in der gleichen Frage zu einem anderen Urteil kommen“ (GS 43). Das Konzil bringt unmissverständlich zum Ausdruck: Es kann berechtigterweise unterschiedliche Positionen zur Beantwortung politischer Fragestellungen geben, auch unter katholischen Christinnen und Christen! Auch wenn man dabei der Überzeugung ist, dass die eigene Position sich eindeutig aus dem Evangelium ergibt, betont das Konzil, „dass niemand das Recht hat, die Autorität der Kirche ausschließlich für sich und die eigene Meinung in Anspruch zu nehmen“ (GS 43).

Was folgt daraus für das Verhältnis von Kirche, Staat und Politik? Bei existenziellen moralischen, sozialethischen, menschenrechtlichen und religionspolitischen Themen, vor allem bei Menschenwürde und Gemeinwohl, Gerechtigkeit und Frieden, Leben, Sterben und Tod oder Bewahrung der Schöpfung, ist es wichtig, dass die Kirche ihre Stimme im politischen Diskurs erhebt. Das entspricht ihrem Selbstverständnis und ihrer Weltverantwortung sowie der Bedeutung der Kirche als zivilgesellschaftlicher Institution.

Eine Fixierung auf die Amtskirche würde eine Blickverengung darstellen, wenn es um das Verhältnis von Kirche und Politik geht. Denn grundsätzliche Überzeugungen allein reichen nicht aus, um konkrete politische Lösungen zu finden. Vielmehr bedarf es auch des Sachverstands und der Expertise in den relevanten Gebieten, und dies haben vor allem die Glieder des ganzen Volkes Gottes, also die Getauften und Gefirmten. Wenn unter Christen eine legitime Pluralität an politischen Positionen und Lösungsansätzen besteht, ist die Kirche also gut beraten, sich nicht auf eine Seite zu schlagen. Die kirchliche Autorität würde hier ihre Kompetenz überschreiten, eine bestimmte Position als die kirchliche zu bestimmen.

Um als bedenkenswerte Stimme im öffentlichen Raum und im politischen Diskurs wahr- und ernstgenommen werden zu können, hat die Kirche darauf zu achten, dass sie ihre Positionen möglichst nachvollziehbar und anschlussfähig formuliert. Je konkreter ihre Positionen sind, desto wichtiger sind Argumente. Mit Fideismus und Lobbyismus ist das nicht vereinbar – und erst recht nicht mit Neo-Integralismus.

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