Drei Weisen der Toleranz

Die jüngste Veröffentlichung der vatikanischen Glaubensbehörde zum Thema Segnung gleichgeschlechtlicher Beziehungen mit dem Titel Fiducia supplicans (FS) stieß hierzulande auf ein geteiltes Echo. Während die Süddeutsche „Hut ab vor diesem Papst“ kommentierte, wurde das Papier in der FAZ als „Mogelpackung“ bezeichnet. Doch statt sich gleich in das Für und Wider zu begeben, ist es hilfreich, sich eine Unterscheidung zunutze zu machen, die die Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser in ihrem Buch „Triggerpunkte“ (Berlin 2023) über die Konflikte in der deutschen Gesellschaft heute zum Thema „Umgang mit Minderheiten“ ebenfalls zur Anwendung bringen: die Unterscheidung von Erlaubnis- und Respekttoleranz.

Als Erlaubnistoleranz bezeichnen die Autoren „eine Tolerierung unter dem Vorzeichen der legitimen Indifferenz: Solange sexuelle Minderheiten ihre Präferenzen im Privaten ausleben und sich die öffentliche Zurschaustellung innerhalb konventioneller Grenzen bewegt, gibt es keinen legitimen Grund, Einspruch zu erheben“ (S. 173). Die Grenzen dieses Toleranzmodells beschreiben sie so: „Es geht nicht mehr darum, ob Abweichungen toleriert werden können, sondern eher darum, wo die Grenzen der Erlaubnistoleranz liegen und an welche Verhaltensanforderungen die Duldung durch die Mehrheitsgesellschaft geknüpft ist“ (S. 176). Dem gegenüber steht die „Respekttoleranz“, die über eine bloße Duldung hinausgeht: „Die Entscheidung darüber, was zu tolerieren ist, liegt hier nicht mehr bei der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ oder der dominanten Kultur. […] Vielfalt wird nicht bloß geduldet, sondern positiv als Bereicherung und Fluchtpunkt einer modernen, fortschrittlichen Gesellschaft angesehen“ (S. 183).

In Deutschland ist es fast unvermeidlich, dass die vatikanische Erklärung mit den entsprechenden Beschlüssen des Synodalen Weges verglichen wird. Bei diesem Vergleich schneidet der Text der Glaubensbehörde schlecht ab. In Deutschland sind die Grenzen der Erlaubnistoleranz sehr weit gesteckt. Hinzu kommt, dass sowohl die Einführung der eingetragenen Partnerschaft als auch die der Ehe für Alle Ausdruck einer Respekttoleranz sind. Auch die Beschlüsse des Synodalen Weges zum Umgang mit queeren Menschen sind von Respekttoleranz geprägt. Es ist erstaunlich, dass zwar 2017 die Ehe für Alle im Bundestag und den Medien kontrovers diskutiert wurde, heute aber das Thema kein Aufreger mehr ist. Selbst die AfD fordert in ihrem Wahlprogramm für die letzte Bundestagswahl nicht die Rückkehr zu den Verhältnissen vor 2017. Kurz gesagt: Auch wenn in Deutschland die Respekttoleranz gegenüber queeren Menschen nicht überall gegeben ist, sind die Grenzen der Erlaubnistoleranz doch mittlerweile sehr weit.

Dieser große Konsens verführt aber dazu zu übersehen, dass es dauerte, bis die deutsche Gesellschaft in dieser Frage mehrheitlich zu dem Punkt gelangte, an dem sie heute steht. Die Nazifassung von § 175 StGB, dem Homosexuellenparagrafen, blieb bis 1969 unverändert in Kraft, bestätigt 1957 durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts und umgesetzt in Gerichtsurteilen und Gefängnisstrafen. Die Reform von 1969 war keine völlige Entkriminalisierung, weil die Schutzaltersgrenze bei homosexuellen Handlungen zwischen Männern höher war als in anderen Fällen. Das war ein Rest strafrechtlicher Diskriminierung. Erst 1994 wurde der Homosexuellenparagraf ersatzlos aus dem StGB gestrichen.

Eine teilweise oder völlige Entkriminalisierung schafft zwar die Voraussetzung für gesellschaftliche Akzeptanz, geht aber nicht automatisch damit einher. Drei Daten seien dafür beispielhaft genannt: 1977 strahlte die ARD den Film „Die Konsequenz“ über eine schwule Beziehung aus, jedoch erst um 23 Uhr, wobei der Bayerische Rundfunk eine andere Sendung brachte. Günter Kießling, damals der ranghöchste Offizier der Bundeswehr, wurde 1983 von Verteidigungsminister Wörner entlassen. Es gab Gerüchte, er verkehre im Homosexuellenmilieu, weswegen er als erpressbar eingestuft und deswegen entlassen wurde. 2001 wagte Klaus Wowereit im Zuge seiner Kandidatur für das Amt des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, sich öffentlich als homosexuell zu outen, um Anspielungen seines politischen Gegners auf seine sexuelle Orientierung ins Leere laufen zu lassen. Diese Flucht nach vorn zeigt aber auch, dass es damals noch als möglich betrachtet wurde, die Homosexualität eines Politikers gegen ihn zu verwenden.

Nimmt man alles zusammen, dann hat sich in der deutschen Gesellschaft seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Einstellung zu homosexuellen Menschen ein massiver Wandel vollzogen. Der Ausgangspunkt 1945 war von strafrechtlicher Sanktionierung schwuler Männer aber auch von gesellschaftlicher Diskriminierung lesbischer Frauen geprägt. In dieser Atmosphäre einer sehr eng gezogenen Erlaubnistoleranz muss jeder Schritt, daran etwas zu ändern, aus heutiger Perspektive ganz winzig erscheinen.

Die katholische Kirche ist bei diesem Thema auf allen Ebenen sehr heterogen aufgestellt: in den Gemeinden, bei den in der Seelsorge Arbeitenden einschließlich des Klerus, in den Bischofskonferenzen, der römischen Kurie und dem Kardinalskollegium. An den Extrempunkten gibt es einerseits diejenigen, für die jedes Zugeständnis im Sinne der Erlaubnistoleranz ein Gräuel ist, und andererseits diejenigen, die im Sinne der Respekttoleranz für eine Änderung der kirchlichen Lehre eintreten. Die Mehrheit der 1,4 Milliarden katholischen Gläubigen heute ähnelt aber wahrscheinlich in ihrer Haltung zu queeren Menschen sehr der mehrheitlichen gesellschaftlichen Einstellung bei Kriegsende.

In dieser Lage hat sich Papst Franziskus entschlossen, durch den Präfekten der Glaubensbehörde die Frage nach der Segnung queerer Menschen neu zu beantworten, verfügt aber bei der Ausgangslage nur über sehr begrenzte Spielräume. Wie gesagt, aus deutscher Perspektive ist es ein Minischritt. Nimmt man aber die Reaktion der verschiedenen Ortkirchen in den Blick, hört man nicht nur „Das ist zu wenig“, sondern – und vielleicht weltweit überwiegend – „Das geht zu weit“. Wer sich die Ungleichzeitigkeit der Haltung der Kirche zu queeren Menschen in Deutschland (aber nicht nur hier) einerseits und der der in anderen Regionen auf unserem Planeten andererseits bewusst gemacht hat, kann von dieser gespaltenen Reaktion nicht überrascht sein.

Vereint werden die gegensätzlichen Lager aber durch eine Kritik: Das Schreiben ist sehr unklar. Das fängt damit an, dass sich FS zwar auf die andersgelagerte Entscheidung der Glaubensbehörde aus dem Jahr 2021 bezieht, sich aber nicht davon distanziert. Da wird von „Klarstellung“ (Nr. 2) oder von „Vertiefung“ (Nr. 25) dieser Entscheidung gesprochen, wenn von der Sache her „Korrektur“ und „Ausweitung“ die passenderen Begriffe wären. Die Ankündigung gegen Ende des Dokumentes, zukünftige Fragen zur Klarstellung nicht zu beantworten, wird so begründet: „Was in dieser Erklärung über die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare gesagt wird, ist ausreichend, um die umsichtige und väterliche Unterscheidung der geweihten Amtsträger in dieser Hinsicht zu leiten“ (Nr. 41). Es geht also um die Ausweitung pastoraler Spielräume und nicht um begriffliche Klärungen. So gesehen ist die Unklarheit gewollt.

Darin liegt für eine Kirche, die – vor allem in der Einstellung zu und dem Umgang mit queeren Menschen – von hoher Ungleichzeitigkeit geprägt ist, eine Chance. Sie ermöglicht, in einer konkreten Situation passend zu reagieren, statt einfach eine weltweite Norm zu befolgen. Das ist aber auch damit verbunden, dass zur gleichen Zeit in der einen Kirche pastoral unterschiedliche Antworten auf den Umgang mit queeren Menschen gegeben werden. Zu dieser Unklarheit, dieser Ambiguität, gehört also beides: Chance und Unsicherheit. Für die Fähigkeit, diese Spannung auszuhalten, gibt es einen Namen: Ambiguitätstoleranz. In dieser dritten Weise der Toleranz zu wachsen, verlangt uns Fiducia supplicans ab.

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