Erntedankfest (5.10.2025)
Psalm 145,15: Aller Augen warten auf dich, und du gibst ihnen ihre Speise zur rechten Zeit.
Wer kennt noch ein solches Gefühl? Sehnsüchtig zieht es die Augen immer wieder in Richtung Küchentür. Der Magen hängt durch und mahnt drängend: Es ist wirklich an der Zeit.
Inzwischen sind Menschen mit solchen Erfahrungen alt geworden. Mit leuchtenden Augen erzählen sie von den Freuden einer einzelnen Brotscheibe. Vorsichtig wird sie von der kargen Wochenration abgeschnitten. Andächtig nehmen sie eine Messerspitze voll Butter und massieren sie in die Brotscheibe ein. Oder es gibt einen Löffel kostbaren Sirup. Senf pur auf Brot ist wunderbar. Es sind Menschen, die sich erinnern an die schwierigen Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Aller Augen warten auf dich.Solche Worte stammen aus einer Zeit und Kultur, als es Lebenserfahrungen mit solch knappen Freuden häufig gab. In Israel regnet es nicht viel. Es ist sehr trocken. Manche Landstriche sind völlig unfruchtbar. Im alten Israel starben in langen Dürrezeiten Pflanzen und Tiere – in manchen Zeiten auch die Menschen – wenn sie nichts mehr zum Essen fanden.
Deshalb stellten sich die Menschen den Himmel vor wie einen großen grünen Garten mit üppig fruchtbarem Land. Menschen können darin sicher und sorgenfrei leben. Es gibt genug zu essen, nicht nur Rüben, sondern süße Trauben und herrliches Obst. Quellen sprudeln, Ströme fließen. Alles blüht. Die Menschen leben im Einklang mit der Natur und mit Gott. Sie wohnen in Frieden.
Ein Stück von dieser Paradiesvorstellung scheint zu Erntedank in der Kirche auf. Der geschmückte Altar lässt die elementare Sehnsucht und Hoffnung in jeder Ähre, in jeder erdigen Kartoffel als ein erfülltes Warten empfinden. Gottes große Gnade, seine Freundlichkeit lässt es wachsen. Wunderbar geordnet tritt es uns entgegen. Die „rechte Zeit“ zu erkennen, wie sie im Grunde bereits erfüllt ist – das bleibt eine Herausforderung für übersättigte und atemlose Gemüter. Danken mit Fantasie und Ausdauer ist eine gute Übung. Es lässt erkennen, wie auch dieses Warten erfüllt ist.
17. Sonntag nach Trinitatis (12.10.2025)
1Johannes 5,4c: Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.
An manchen Tagen mag man nur noch die Tür hinter sich verschließen. Die Welt muss draußen bleiben. Die täglichen Kämpfe haben alle Kraft verzehrt. Siege? Fehlanzeige. Die Nachrichten von Fronten an Kriegen und Krisen lassen Wunschbilder aufsteigen. Sie zeigen Superkräfte und Helden, die jede Katastrophe überwinden und alle Feinde aus dem Weg räumen zu dramatischer Musik. Danach noch ein beruhigender, glücklicher Ausklang vor dem Abspann und ein letzter Schluck aus dem abendlichen Glas. Natürlich gibt es am nächsten Morgen gewohnte Meldungen von weiter steigenden Temperaturen, von Bombenopfern der Nacht, vielleicht noch ein irrwitziges Dekret aus dem wilden Westen. Danach der gewohnte Kampf gegen To-Do-Listen, Kollegen, Katastrophen und gegen die alternden Kräfte im Körper.
An manchen Tagen hilft die Erinnerung: Wir leben in einer unerlösten Welt. Aber wir leben in einer Welt nach der Auferstehung Jesu Christi. Belebende Kräfte durchströmen die Wirklichkeit. Mit ihnen schafft Gott Leben aus Tod. Neue Ideen und Mut erweckt er mit seinem lebendigen Geist. Es ist jedes Mal ein kleiner und manchmal ein großer Sieg, wenn die Müdigkeit und Niedergeschlagenheit in mir überwunden werden. Wohl denen, die rechtzeitig merken, wann man die Tür hinter sich verschließen muss. Dann braucht es Zeit und Ruhe, um sich vom Geist anrühren zu lassen. Auferweckung braucht eine Weile und Stille. Im wachsenden Vertrauen öffnen sich Fenster und Türen zur Welt. In den Schritten nach draußen sucht der Blick nach inspirierenden Spuren des Geistes, nach keimenden Möglichkeiten zwischen To-Do-Listen, Kollegen und den schmerzlichen Grenzen von Körper und Geist. Diese Keimlinge sind da. Unser Glaube hat die Welt überwunden. Der Auferweckte ist mitten unter uns in dieser Welt.
18. Sonntag nach Trinitatis (19.10.2025)
1Johannes 4,21: Dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe.
„Die meisten Menschen wünschen, wie es scheint, aus Ehrgeiz eher geliebt zu werden als zu lieben.“ Lange Zeit vor dem 1. Johannesbrief schreibt Aristoteles diesen Satz in seine Nikomachische Ethik. Kurz darauf stellt er fest: „Die Freundschaft liegt aber, so scheint es, mehr im Lieben als im Geliebtwerden.“ Einander lieben – darin besteht für den Johannesbrief am Ende des ersten Jahrhunderts die spürbare Qualität und die Schönheit von christlichem Gemeindeleben. Sich freundschaftlich, liebevoll und wertschätzend begegnen wie Geschwister, wie Freunde auf gleicher Ebene – so wird immer wieder das „Gebot von ihm“ konkret gefasst. Fast jede und jeder hat im Leben Bekanntschaft gemacht mit schillernden Blüten christlicher „Liebe“. Allzu oft verschleiert sie bevormundende Fürsorglichkeit. Übergriffig kann sie Bedürfnisse nach gesundem Abstand wegwischen und Machtunterschiede überspielen – oftmals, um das Verlangen von Einzelnen zu stillen, geliebt und bewundert zu werden.
Der Wochenspruch zieht das Fazit aus dem vorhergehenden Abschnitt über die Liebe von Gott und den Menschen. Er offenbart eine bleibende Spannung im christlichen Leben: Ein Gebot ist eine Weisung, den Anspruch im Leben praktisch zu erfüllen. Offen bleibt die Frage, warum es gut ist, danach zu handeln. Die meisten Menschen wünschen, wie es scheint, aus Ehrgeiz eher geliebt zu werden als zu lieben. Aus solcher Motivation das Gebot Gottes zu befolgen, läuft ins Leere und Lieblose. Gott ist Liebe, schreibt der 1. Johannesbrief. „Nicht dass wir Gott geliebt hätten, sondern er hat uns geliebt und uns seinen Sohn gesandt als Sühne für unsere Sünden.“ Von dieser Liebe berührt, angesteckt, entflammt zu werden, das entspricht dem Anliegen vom Johannesbrief – Lieben als Reflexion, als ausstrahlender Glanz, als fortgesetzte Resonanz. „Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe“, schrieb Luther. Diese glühende Liebe reicht viel weiter als bis zu den Brüdern und Schwestern. „Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen“, formuliert Jesus. Wer diesen Gott kennt und liebt, wird immer wieder beflügelt werden über den Wunsch hinaus, selbst geliebt zu werden, zum selbst Lieben ohne Ansprüche und Hintergedanken.
19. Sonntag nach Trinitatis (26.10.2025)
Jeremia 17,14: Heile du mich, Herr, so werde ich heil; hilf du mir, so ist mir geholfen.
Worte, geformt und emporgestiegen aus tiefer Einsamkeit. Unvermittelt mischt sich die drängende Bitte in den Strom der Gedanken, Den Fokus richtet sie wie in einem Brennglas auf die entscheidende Stelle: Heile du mich, Gott. Nimm die Verzweiflung von mir. Mache mein Herz wieder froh und mutig. Der Wochenspruch ist ein kleines, warm leuchtendes Juwel. Es möge jeden Tag wie von selbst den Weg in die unruhig nestelnde Hand finden und Herz und Sinne sammeln. Dieser Vers eröffnet die vierte Konfession des Propheten Jeremia – es sind Gebete, in denen der Prophet mit seiner Lebensaufgabe und mit seiner wachsenden Verzweiflung ringt. Die bitteren Klagen, die flehentlichen Bitten aus dem innersten Kern eines einsamen Herzens regen seit Generationen Menschen an, die in ihrer Verzweiflung und Not nicht aufhören, an Gott festzuhalten.
Wie in einer überforderten Seele Gedanken wild durcheinanderwirbeln, stehen in den Versen vor dieser Bitte nach Heilung verschiedene Einzelsprüche aneinandergereiht – Zorn, Fluch, Segen, Zuversicht, Schuld und in die Irre gehen … Und ein Vers wie dieser: „Verschlagener als alles andere ist das Herz, und unheilbar ist es, wer kann das verstehen? Ich, der Herr, erforsche das Herz, prüfe die Nieren, um jedem zu geben nach seinen Wegen, nach der Frucht seiner Taten.“ (Übersetzung: Zürcher Bibel; Jeremia 17,9f.)
Eine Form von Verschlagenheit des Herzens besteht in dem scheinbar beruhigenden Gefühl, dass alles in Ordnung ist. Alles läuft und funktioniert. Aber im schnellen Fluss der Tage und Aufgaben geht das Gespür verloren, was neben Routine und vielen Anforderungen das eigene Herz begeistert und mit Zuversicht erfüllt. Wofür werden die Aufgaben erfüllt? Wie verändern die Widerstände und Befürchtungen meine Lust, meinen Mut, meine Hoffnung? Womit fühle ich mich allein und ratlos? Sich selbst auf die Spur zu kommen als bedürftig, als hungrig und durstig nach frischen Quellen, zu denen die eigenen Wurzeln sich ausstrecken können – dafür kann die Bitte des Jeremia eine hilfreiche Unterstützung sein.