Lukas 17,21: Jesus Christus spricht: Das Reich Gottes ist mitten unter euch.
Oder: Was die Sauregurkenzeit mit dem Reich Gottes zu tun hat
Jedes Mal, wenn ich ein Glas mit sauren Gurken öffne und das erste Gürkchen esse, freue ich mich an den kleinen, fast perfekt runden, gelben Senfkügelchen. Scharf! Würzig! So schmeckt also Gottes Reich. Jesus hat das Reich Gottes oft mit dem Senf verglichen.
Ich lasse ein weiteres kleines Kügelchen zwischen den Zähnen knacken. Die Senfsaaten sind winzig. Es sollen sogar die kleinsten Samen sein, was ich nicht ganz glauben kann. Verdeckt unter den Blättern größerer Pflanzen finden sie ihre Kinderstube. Dort wachsen sie auf, bis man sie nicht mehr übersehen kann. Das Reich Gottes hat etwas Subversives.
Die Senfpflanzen werden nicht so groß und prächtig wie die Zedern des Libanon. Sie taugen nicht als Symbole auf Flaggen oder Münzen. Man wird sie nicht mitten im Dorf pflanzen und darum herumtanzen wie um Hochzeitslinden. Das ist nicht ihre Natur.
Die Senfpflanzen werden sich an jeder Stelle verwurzeln, wo ein bisschen Platz ist. Sie nutzen die Lücken zwischen den Blättern anderer Pflanzen, um die Sonne einzufangen. Seht ihr sie nicht, schon wachsen sie auf. Sie wachsen einfach, ohne dass ein Mensch etwas dazu tun muss. Sie sind nicht anspruchsvoll, aber sie sind da, an vielen Ecken und Kanten und mitten unter uns. Man kann sie entdecken, wenn man genauer hinschaut oder hinschmeckt, denke ich und Iecke ein weiteres gelbes Kügelchen von der Lippe. Was für ein leckerer Vorgeschmack auf das Reich Gottes!
Angeblich können die Senfpflanzen so groß werden, dass sie die Vögel des Himmels bergen und ihnen Nistplätze bieten. Botanisch genau ist das wohl nicht, aber es ist schön, sich das Reich Gottes als Weltenbaum vorzustellen. Einen Ort, der Lebensraum für alle bietet: Schatten für die einen, luftige Plätze für die anderen.
Die Senfpflanze birgt keine Kraft zu Gewalt und Zerstörung, aber aus diesen kleinen Kügelchen entwickelt sich mit aller Macht ein neuer Anfang, ein neues Leben an so vielen Stellen. Ich träume mich hinein in das, was da wachsen könnte und welcher Platz sich für mich finden ließe. Während ich so träume, hole ich mir die nächste Gurke aus dem Glas. Das holt mich zurück an den Küchentisch. Ja, schön wäre es im Reich Gottes, aber hier und jetzt ist doch wohl eher Sauregurkenzeit – ganz wörtlich: Täglich gibt es etwas, dass mir sauer aufstößt. So manches ist bitter zu ertragen, und viel zu vieles hinterlässt den salzigen Geschmack der Tränen, die ich darüber vergieße.
Während ich eine weitere Gurke vernasche, lese ich, dass die Sauregurkenzeit sich von der jiddischen „Zóres“- und „Jókres“- Zeit, der „Zeit der Not und der Teuerung“ ableitet und mit den Gurken rein gar nichts zu tun hat. Wie sollte in unserer Zeit der Not und der Teuerung schon die kommende des Reiches Gottes angebrochen sein? Es ist wohl wie in einem Gurkenglas. Zwischen den sauren Gurken sind die kleinen würzigen Senfsaaten schon da, mitten dazwischen. Das Reich Gottes gibt jetzt schon die Würze für unser jetziges Leben. Wir müssen nichts dafür tun, um es wachsen zu lassen, aber wir können uns auf die Spurensuche begeben und uns inspirieren lassen.