Es sind Tage wie dieser. Ein Freitag im Juni. Ich wache einige Zeit vor den anderen auf; das Haus liegt ruhig, nur die Vögel draußen machen mächtig Bambule. Der Morgenhimmel blaut. Es fühlt sich an wie Sommer. Leichter Wind verspricht etwas Abkühlung. Das lässt sich gut an.
Mit noch halb geöffneten Augen greife ich zum Smartphone. Seit einigen Jahren lese ich die Nachrichten nur noch morgens. So bleibt ein ganzer Tag, sie zu verdauen.
Es sind Tage wie dieser, die von einem Moment zum anderen einen Grauschleier über das Sommergefühl legen und meine Augen aufreißen. Der Zeigefinger streicht hektisch über die Nachrichten. Ich lese im Ticker: +++ Israel greift in der Nacht den Iran an und bombardiert nukleare und militärische Ziele. +++ Der Bundesverteidigungsminister verspricht der Ukraine eine milliardenschwere Rüstungshilfe, unter anderem zum Bau von Langstreckenraketen. +++ Ein indisches Passagierflugzeug kracht vollbesetzt kurz nach dem Start in ein Wohnviertel der westindischen Stadt Ahmedabad. Der einzige Überlebende kriecht aus einem Notausgang der völlig zerstörten Maschine. +++ In den USA wird ein demokratischer Senator bei der Pressekonferenz der Heimatschutzministerin in Handschellen abgeführt. +++ Über Graz liegt immer noch das fassungslose Schweigen nach dem Amoklauf eines 21jährigen. +++
Ich atme flach. Um Himmels willen. Die sommerliche Stimmung ist im Keller. Trotz der Hitze kriecht es mir kalt über die Seele.
Nach den Nachrichten lese ich die Tageslosung für diesen Tag: Sollte dem Herrn etwas unmöglich sein? (1Mose 18,14) Und: Zuletzt, als die Elf zu Tisch saßen, offenbarte Jesus sich ihnen und schalt ihren Unglauben und ihres Herzens Härte, dass sie nicht geglaubt hatten denen, die ihn gesehen hatten als Auferstandenen. (Markus 16,14)
Angezählt wanke ich ins Bad.
Es sind Tage wie diese. Es sind Tage und Nachrichten, die mir, die den Menschen um mich herum, die einer ganzen Gesellschaft von einem Moment zum anderen einiges abverlangen. Unvorstellbar, wie es den unmittelbar Betroffenen jetzt gehen mag; nur nicht daran denken, was aus diesem Tag noch alles werden kann. Es ist weiß Gott nicht immer leicht, mit blühender Zuversicht und Dankbarkeit in einen neuen Tag zu starten.
Die Kleinstadt liegt noch still an diesem Morgen. Ich starre gedankenverloren auf die Steinplatten unter meinen Füßen und überquere die Brücke über die Murg zum Bäcker und zum Wochenmarkt.
Am Wagen des Metzgers bekommt ein Kind an der Hand seiner Mutter gerade eine Scheibe Wurst von der Fleischfachverkäuferin gereicht. Das Kind sagt glücklich: Danke. Die Fleischfachverkäuferin lächelt froh. Da sagt die Mutter zu dem Kind: Du musst dich nicht für alles bedanken. Diese Scheibe Wurst ist im Budget der Metzgerei eingeplant. Wir haben genug gekauft und bezahlt, da ist diese Scheibe für die locker mit drin. Die Mutter zieht das irritiert kauende Kind weiter. Die Fleischfachverkäuferin zuckt mit den Schultern: Wer ist der Nächste?
In der Bäckerei wird unter den Anwesenden der Flugzeugabsturz besprochen. Die BILD auf dem Verkaufstresen zeigt das freundliche Gesicht eines Mannes und titelt groß und weiß in schwarzem Rahmen: Die letzten Worte des Piloten.
Irgendjemand sagt: Ein einziger hat es überlebt. Der wird sein restliches Leben lang dankbar sein. Ein anderer sagt: Oder er wird daran zerbrechen. Eine Frau sagt: Furchtbar. Die ganze Bäckerei seufzt auf. Ich greife nach meiner Brötchentüte, bedanke mich leise und gehe.
Vor der Bäckerei wirft eine Jugendliche einer anderen Jugendlichen gerade eine Tasche vor die Füße und schreit: Danke für gar nichts! Sie inszeniert einen dramatischen Abgang. Ich halte meine Tüte mit Brötchen fester und wandere mit meinen Einkäufen zurück zur Murgbrücke.
Es ist gar nicht so leicht, jeden Tag dankbar zu sein.
Aus den Augenwinkeln sehe ich eine Bewegung. Eine kleine Formation Wildgänse fliegt über den Fluss direkt auf mich zu. Ich bleibe wie von Geisteshand gebremst stehen und staune. Die Formation gewinnt etwas an Höhe, mein Kopf legt sich in den Nacken, als die Vögel mit kleinem Abstand über mich hinwegfliegen. Sie rufen sich oder mir etwas zu, das ich nicht verstehe. Dann sind sie weg. Der Fluss fließt ruhig; er spiegelt die Sonne, das Himmelsblau. Was war denn das? Ich wurde gerade Zeuge eines mitreißenden Geschehens. Ich war Augenzeuge der Schöpfung. Tiefes Durchatmen. Hoffnung bäumt sich in mir auf: Es ist noch nicht alles verloren. Noch lange nicht. Sollte Gott etwas unmöglich sein? Ein ernster Blick zum Himmel: Danke!
Weitergehen. Zurück ins Haus, in das mittlerweile Leben eingekehrt ist. Unter der Dusche wird gesungen, aus der Küche kommt angenehmer Kaffeeduft. Im Radio spielen sie jetzt (ausgerechnet): Ich wollt noch danke sagen von den Fantastischen Vier.
Es sind Tage wie diese. Tage voller starker Botschaften und Bilder und Eindrücke. Tage, die verwirren, beunruhigen, aufrütteln, Sorgen bereiten, und doch Tage, die mit einer Sommerahnung und unendlichem Himmelsblau daherkommen. Tage mit Steinplattenblicken und Wildgänseflügen. Tage voller Katastrophen und zugleich einer tiefen Ahnung von Beheimatung. Tage voller Widersprüche. Wer soll das aushalten?
Tage wie diese, die in sich seltsam verbunden ja verknüpft sind durch eine Spur aus Lebensfragen und, noch seltsamer, aus Dankes-Worten: Du musst nicht immerzu danke sagen … danke für gar nichts … Er wird sein ganzes weiteres Leben dankbar sein … Danke! mit Himmelsblick … Ich wollt noch danke sagen.
Ist es zynisch, dankbar zu bleiben in dieser Zeit, in diesen Tagen? Dankbar zu sein für die Sonne, die Brötchen und die Wildgänse, während anderswo sich die Welt verdunkelt? Dankbar zu sein für den Frieden, die Freiheit und das Leben, während so viele innerhalb weniger Sekunden ihr Leben verlieren und Raketen und Kampfdrohnen statt Wildgänsen über die Köpfe fliegen? Verbietet es sich nicht geradezu, immerzu danke zu sagen in einer Welt aus Ellenbogen und berechnenden Machtspielen?
Gott fragt zurück: Sollte mir etwas unmöglich sein? Jesus schimpft mit seinen Jüngern, deren Herzen verhärten und deren Augen gehalten sind von den täglichen Herausforderungen und Lebenserfahrungen. Anders gesagt: Bleibt dankbar, denn Gott wirkt.
Nach einer hitzigen Debatte in einer Gemeinderatsversammlung meldet sich kurz vor Abschluss der Veranstaltung ein älteres Mitglied des Gemeinderats und sagt leise: Ich wollte eigentlich noch danke sagen. Vom Podium aus wird er unterbrochen: Lieber Kollege, der Abend ist schon fortgeschritten, seien Sie so gut und teilen Sie Ihre Dankesworte im persönlichen Gespräch nach der Sitzung mit. Der alte Gemeinderat setzt sich wieder. Die Sitzung geht ohne Dank zu Ende.
Die Haltung der Dankbarkeit ist mehr als ein Sammeln von guten Momenten oder ein Bemühen von abgespulten Floskeln, weil es eben dazugehört. Dankbarkeit ist eine Lebens- und eine Glaubenseinstellung, eine Frage der Haltung, ein trotz alledem, ein Festhalten daran, dass eine gute Zukunft möglich ist und bleibt; eine Hoffnung, die immer mit Gott rechnen und nicht vorschnell verrechnet werden mag durch das Leben.
Es ist immer Zeit für Dankbarkeit, nicht nur zu Erntedank.
Wir wünschen Ihnen einen gesegneten, nicht zu heißen Herbst!
Ihre Redaktion der Pastoralblätter
und Ihr Jochen Lenz (Schriftleitung)