Im Gespräch mit Regina ReinAdultismus erkennen & vermeiden

Herabwürdigendes Verhalten gegenüber Kleinkindern ist oft subtil und hat viele Gesichter. Es reicht von sprachlichen Machtdemonstrationen bis hin zu strukturellen Barrieren, etwa einer Raumgestaltung, die nicht den Bedürfnissen der Jüngsten entspricht. Im Gespräch mit Katrin Imbery erläutert Sozialpädagogin und Erzieherin Regina Rein, wie Kita-Teams Adultismus in all seinen Facetten erkennen und aktiv entgegenwirken können.

Auf einem orangenen Kreis steht in orangener Schrift Kleinstkinderpodcast und die Grafik eines Lautsprechers ist darüber

Adultismus erkennen & vermeiden

Jingle: Gemeinsam wachsen, gemeinsam lernen. Willkommen beim Podcast von Kleinstkinder in Kita und Tagespflege.

Katrin Imbery: Hallo, mein Name ist Katrin Imbery. Ich bin Redakteurin bei der U3-Fachzeitschrift Kleinstkinder in Kita und Tagespflege und ich begrüße heute Regina Rein zu unserem aktuellen Podcast.
Liebe Frau Rein, Sie sind Autorin mehrerer Texte zu unserem aktuellen Titelthema “Adultismus in Kita und Tagespflege”. Ich möchte mich erstmal ganz herzlich dafür bedanken, dass Sie sich heute noch mal die Zeit nehmen, um dieses so wichtige Thema ein bisschen weiter zu vertiefen. Mögen Sie sich vielleicht erstmal kurz selbst vorstellen?

Regina Rein: Guten Tag, Frau Imbery. Schön, dass Sie mich eingeladen haben. Mein Name ist Regina Rein. Ich war 25 Jahre lang Leitung von verschiedenen Kitas, u. a. auch von einer Krippe und arbeite seit nunmehr 18 Jahren  für pädagogische Fachkräfte in Kindertagesstätten und in der OGS. Ich bin Sozialpädagogin, Erzieherin, ich bin Coach und  gebe Fort- und Weiterbildungen und Vorträge zu verschiedenen interessanten pädagogischen Themen, u. a. zu Adultismus.

Katrin Imbery: Vielen Dank, Frau Rein. Jetzt zu unserem Thema. Adultismus bezeichnet ja erstmal ganz generell die Diskriminierung von Kindern aufgrund ihres Alters.  Sie schreiben, dass dieses Phänomen vor allem auch in Kindertageseinrichtungen zu beobachten ist, die Kinder zwischen 0 und 3 Jahren betreuen. Warum ist gerade die Altersgruppe der Unterdreijährigen besonders gefährdet, mit adultistischem Verhalten konfrontiert zu werden?

Regina Rein: Das liegt zum einen daran, dass Adultismus in der Betreuung von Kindern zwischen 0 bis 3 Jahren sehr subtil stattfindet. Pädagogische Fachkräfte sind sich in der Regel nicht bewusst, dass ihr Verhalten, ihre Einstellung, ihr Sprachgebrauch auf Kinder sehr adultistisch wirken kann. Es geht oftmals darum, dass Erwachsene gerade bei Kindern in diesem Alter den Eindruck haben, dass sie  vermeintlich alles besser wissen als die Kinder selbst und die Kinder im Alltag weniger einbeziehen als Kinder, die etwas älter sind.

Katrin Imbery: Adultismus umfasst dabei ja weit mehr als offensichtliche körperliche oder psychische Gewalt beziehungsweise offensichtliche Herabwürdigung von Kindern. Sie sagen, adultistisches Verhalten hat viele Gesichter, die auch Fachkräfte manchmal zunächst gar nicht als grenzüberschreitend wahrnehmen. Solches Verhalten zeigt sich dann vor allem in Alltagsroutinen wie Wickeln, Anziehen, Essen und Schlafen. Gerade in solchen Schlüsselsituationen können sich solche Muster einschleichen. Können Sie uns hier vielleicht ein, zwei Beispiele nennen?

Regina Rein: Ja, gerade in Schlüsselsituationen, wie Sie schon gesagt haben, wird es sehr deutlich. Es geht sehr oft darum, welche individuellen Einstellungen pädagogische Fachkräfte haben und wie sie mit Kindern und deren Bedürfnissen umgehen, wie sie diese wahrnehmen. Zum Beispiel beim Wickeln. Wenn ein Kind im Spiel ist und die Windel ist voll, kommt es drauf an, wie die Fachkraft auf das Kind zugeht. Geht sie hin und beschämt das Kind, indem sie sagt: "Deine Windel ist voll, du stinkst. Wir müssen jetzt Windeln wechseln." Dann ist die Fachkraftdurch ihr Verhalten übergriffig, sei es durch Sprache, Gestik, Mimik und Tonfall. Sie geht in der Situation nicht feinfühlig mit dem Kind um.
Es wäre angebrachter, wenn die Fachkraft sich dem Kind zuwenden würde. Wenn sie sich zu dem Kind beugt, wenn sie ihm mitteilt, dass sie den Eindruck hat, dass es jetzt gewickelt werden muss. Dass das Kind die Möglichkeit hat zu entscheiden, ob es jetzt gewickelt werden will oder eine Minute später. Ob es vielleicht sein Spielzeug mitnehmen möchte. Also die Art und Weise, wie Fachkräfte auf alltägliche Situationen reagieren und die Kinder mit einbinden. Dadurch wird letztendlich auch sehr deutlich, dass das sehr viel mit den Einstellungen und der Haltung der Fachkräfte zu tun hat. Ob sie z. B. meinen, dass Kinder sich an bestimmte Regeln zu halten haben, die sie aufgestellt haben.

Katrin Imbery: Ja, das ist quasi das nächste große Thema, was ich gerne ansprechen möchte. Weil klar, es gibt ein Machtgefälle zwischen Fachkräften und Kindern, was ja auch nicht nur negativ zu bewerten ist. Weil es einfach auch der Sicherheit der Kinder dienen kann, wenn Fachkräfte in bestimmten Situationen sagen können, so wird's gemacht oder so wird's auf keinen Fall gemacht. Aber dennoch: Gerade wenn Fachkräfte ihre Machtposition nicht reflektieren, kann es eben zu adultistischem Verhalten kommen.
Deswegen sagen Sie, es ist auf jeden Fall wichtig, dass Fachkräfte immer wieder auch mal selbstkritisch überprüfen, ob sich ihr eigenes Verhalten an den Bedürfnissen und Perspektiven der Kinder orientiert. Aber wie kann das gelingen? Kann das überhaupt gelingen? Können erwachsene Menschen tatsächlich eingeschliffene Verhaltensmuster und Glaubenssätze verändern? Bzw. wie  können Sie die verändern?

Regina Rein: Das gelingt schon, eigene Glaubenssätze zu verändern. Allerdings müssen einem diese erstmal bewusstwerden und das ist so die größte Herausforderung, wenn es um Adultismus oder auch sonstige verletzende Verhaltensweisen geht. Fachkräfte müssen sich immer wieder damit auseinandersetzen und sie benötigen ein Team und eine Leitung, die diese Verhaltensweisen thematisieren Die Tagesabläufe reflektieren die immer wieder schauen, ob sich diese Abläufe auch an den Bedürfnissen der Kinder orientieren und inwieweit Kinder partizipativ beteiligt werden.
Das kann nur gelingen, wenn im Team kollegial und offen darüber geredet wird- Und Möglichkeiten durch Fort-, Weiterbildung und Supervision gegeben sind, um Dinge auch zu reflektieren. Wir wissen: Alle Glaubenssätze sind verinnerlicht. Sie lassen sich nicht mit dem Durchlesen eines Textes und einem einmaligen Vorhaben verändern; das wäre schön, aber so ist es nicht. Aber es kann gelingen, wenn einem   erstmal bewusst geworden ist, dass Kinder ihren Teller nicht leer essen müssen, dass Kinder kein Essen probieren müssen, dass Kinder, deren Schlafbedürfnis sich verändert, nicht dazu gezwungen werden dürfen zu schlafen. Das sind all diese Dinge, die müssen einem erstmal bewusstwerden, dann kann man sie verändern. Da bin ich sehr zuversichtlich und glaube fest daran, dass ein Team sich gegenseitig da gut unterstützen kann.

Katrin Imbery: Jetzt haben Sie so ein bisschen die individuellen Aspekte angesprochen, die der Nährboden für Adultismus sind, aber es gibt ja sicherlich auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die Adultismus befördern. Haben Sie den Eindruck, Frau Rein, dass die aktuelle Kitakrise adultistisches Verhalten in den Kitas noch verschärft hat?

Regina Rein: Ich bin grundsätzlich der Meinung, dass die pädagogischen Fachkräfte ihren Beruf gewählt haben, weil sie feinfühlig mit Kindern umgehen wollen. Das vorweg.
Die Rahmenbedingungen, in denen sich die Kita-Landschaft gerade befindet, ist schon herausfordernd. Wir wissen alle um den Personalmangel, den es gibt. Das allein, denke ich aber, ist nicht der Grund, warum sich adultistisches Verhalten in Kitas vielleicht verstärkt. Man redet ja auch von dem gesellschaftlich bedingten Adultismus. Das heißt, dass in unserer Gesellschaft nach wie vor die Bedarfe und Bedürfnisse der kleinsten Kinder schnell übergangen werden. Wenn es zum Beispiel um Stadtentwicklung geht, werden die jüngsten Kinder gerne übergangen. Aussagen wie “Das ist ja noch Kinder, die verstehen das nicht”  zeugen ja auch davon, dass das gesellschaftliche Bild von Kindern noch recht adultistisch geprägt ist.  Auch strukturelle Bedingungen in der Kita, also die gesamten gesetzlichen Vorgaben, die  Kinder einschränken, obwohl das nicht immer notwendig ist.
Es gibt Krippen, die haben die Türgriffe so angebracht, dass Kinder nicht allein den Raum verlassen können. Da gibt es Stühle am Esstisch, die Kinder fixieren und ihnen damit auch die Möglichkeit nehmen, vom Tisch frei aufzustehen. All das sind strukturelle Bedingungen, die Adultismus unterstützen und die gilt es, zu reflektieren und sich bewusst zu machen.

Katrin Imbery: Ganz herzlichen Dank für das Gespräch, Frau Rein. Das ist sicherlich sehr inspirierend für viele, die in diesem Bereich arbeiten. Ich möchte noch darauf hinweisen, dass Sie in der Kleinstkinder-Ausgabe 7/25 noch mal ganz ausführlich und konkret darauf eingehen, wie Kita-Teams gemeinsam und selbstreflektiv adultistisches Verhalten erkennen und in der Folge künftig vermeiden können.

Regina Rein: Ich danke Ihnen auch, Frau Imbery, einen schönen Tag noch.

Jingle: Gemeinsam wachsen, gemeinsam lernen. Schön, dass ihr reingehört habt. Bis bald. Umfangreiches Fachwissen für die Betreuung der Jüngsten findet ihr auf www.kleinskinder.de.

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