Im Gespräch mit Dr. Joachim BenselRisky Play: Risikokompetenz spielerisch fördern

Wenn Kleinkinder balancieren, rennen oder klettern, wachsen sie über sich hinaus – und lernen dabei Mut und Selbstvertrauen. Doch wie können pädagogische Fachkräfte die Jüngsten dabei unterstützen, Risikokompetenz zu entwickeln, ohne sie dabei unnötigen Gefahren auszusetzen? Im Gespräch mit Claudia Uihlein gibt Dr. Joachim Bensel Einblicke in das wilde und gewagte Spiel von Kleinkindern und erklärt, welche Bedeutung risikoreiches Spiel in der frühen Kindheit hat.

Auf einem orangenen Kreis steht in orangener Schrift Kleinstkinderpodcast und die Grafik eines Lautsprechers ist darüber

Jingle: Gemeinsam wachsen, gemeinsam lernen. Willkommen beim Podcast von Kleinstkinder in Kita und Tagespflege.

Claudia Uihlein: Herzlich willkommen beim Podcast unserer Fachzeitschrift Kleinstkinder in Kita und Tagespflege, indem wir mit unseren Autoren über ihre Fachartikel im Heft sprechen. Mein Name ist Claudia Uihlein, ich bin Redakteurin bei Kleinstkinder und ich freue mich sehr, dass wir für unseren Kleinstkinder Podcast Herrn Dr. Joachim Bensel gewinnen konnten. Mit ihm möchte ich heute über das wilde und gewagte Spiel von Kleinkindern sprechen. Ganz herzlich willkommen Herr Dr. Bensel. Ich freue mich sehr, dass Sie sich heute Zeit für ein kurzes Gespräch nehmen.

Dr. Joachim Bensel: Ja, hallo Frau Uihlein. Ich freue mich auch, mit Ihnen über dieses Thema zu sprechen.

Claudia Uihlein: Zu Beginn möchte ich Sie gerne noch kurz vorstellen. Sie sind Verhaltensbiologe und Mitinhaber der Forschungsgruppe Verhaltensbiologie des Menschen. Sie forschen und evaluieren zu Themen wie beispielsweise der Qualität in der außerfamiliären Betreuung. Sie haben Lehraufträge zur Kindheitspädagogik an der EH Freiburg und der Universität Salzburg. Sie sind Fachbuchautor und Referent in der Aus- und Weiterbildung. Herr Bensel, das wilde und gewagte Spiel, über das wir heute sprechen möchten, ist vielen eventuell auch unter dem Begriff Risky Play geläufig. Dieses Thema, über das Sie ja auch in unserer aktuellen Kleinkinderausgabe schreiben, übt ja bereits auf Kleinkinder einen großen Reiz aus. Können Sie für uns zu Beginn kurz zusammenfassen, welche Aktivitäten zählen Sie denn bei den Jüngsten zu wildem und gewagtem Spiel und weshalb ist Risky Play ihrer Meinung nach so wichtig für die Entwicklung der Jüngsten?

Dr. Joachim Bensel: Ja, das mache ich sehr gerne. Also, das Spektrum stellt sich natürlich auch für diese Altersgruppe unter drei genauso dar wie für die älteren Kinder. Man muss natürlich dann im Einzelfall schauen, was kann ich in dem einzelnen Bereich dann den Kindern auch schon zumuten, was darf ich da erlauben? Und was muss ich vielleicht noch in enger Begleitung machen? Aber die Grundthemen sind die gleichen:

  • Motorische Herausforderungen: Sich in Situationen zu begeben, die durchaus herausfordernd sind, wie das Spielen in größeren Höhen, das Schwingen und Schaukeln, oder die Geschwindigkeit, mit der ich unterwegs bin. Dabei besteht die Möglichkeit, mit anderen Kindern oder Gegenständen zusammenzustoßen.
  • Klettern: Auf einer Rutsche, auf einem Klettergerüst oder auch schon ein Stück weit auf einem Baum, wenn den Kindern das motorisch möglich ist.
  • Unbeaufsichtigt sein: Dies bedeutet, ein Kind möglicherweise mal nicht im Auge zu haben, weil es in einem Weidentippi, hinter einer Hecke oder einem Zäunchen verschwindet. Es bedeutet nicht, dass das Kind komplett außerhalb der Reichweite ist oder man nicht ungefähr weiß, wo es sich aufhält oder was es tut.
  • Spiel mit Werkzeugen: Im weitesten Sinne, wie zum Beispiel mit einer Feile zu agieren oder mit einem Schneidemesser zu versuchen, eine Karotte oder anderes Gemüse zu zerkleinern. Dies ist in abgespeckter Form auch in diesem Alter möglich, auch wenn man einem Zweijährigen keine Bohrmaschine in die Hand geben sollte.
  • Raufen und Toben: Die spielerische Aggression kann in gewisser Form auch in dem Alter schon anfangen, also sich körperlich auch mit anderen Kindern zu messen. Dies geschieht nicht in einem aggressiven Kontext des Schubsens oder Schlagens, sondern so, dass beide Seiten Spaß an der Körperlichkeit haben.
  • Umgang mit Naturelementen: Dazu gehört auch der Umgang mit Wasser, Eis und in Maßen auch Feuer, was in dem Alter schon ein Thema sein kann.

Risky Play bedeutet, ein Risiko einzugehen, weil man dabei möglicherweise eine Verletzung, eine Schramme, eine Beule oder einen blauen Fleck erleiden kann.

Claudia Uihlein: Ja, vielen Dank. Sie hatten am Anfang schon das Stichwort Aufsichtspflicht genannt. Da stellt sich natürlich für viele Fachkräfte die Frage, wie viel Risiko ist denn vertretbar für die Jüngsten und ab wann sollten die Fachkräfte den Maßnahmen treffen, um sie zu schützen? Haben Sie denn eine Empfehlung für Fachkräfte, woran können diese sich orientieren, um den Kindern Risikokompetenz zu ermöglichen, aber sie gleichzeitig vor ernsthaften Gefahren zu schützen?

Dr. Joachim Bensel: Es gibt da sehr gute Empfehlungen der gesetzlichen Unfallversicherung, die speziell auch altersdifferenziert den Umgang mit Spielgeräten oder auch das auf Bäume klettern oder mit Werkzeugen oder ähnlichem vorgeben. Da ist sehr interessant zu sehen, dass die Unfallversicherungen per se zum Beispiel nicht ausschließen, dass sich Kinder unter drei, also Krippenkinder, nicht auch mal mit Rutschen, die eigentlich für ältere Kinder vorgesehen sind, oder mit Schaukeln, die für ältere Kinder vorgesehen sind, oder anderen Spielgeräten auseinandersetzen dürfen. Wo die Gerätehersteller teilweise sagen: "Na, dieses Gerät ist erst ab 3 zugelassen" treten tatsächlich interessante Unterschiede auf. Man muss bedenken, dass die Spielgerätehersteller natürlich vor allem sichergehen wollen, dass sie nicht in die Haftung gehen und das erstmal ausschließen wollen. Die Unfallversicherungen sind weiter und sagen, es geht hier beim Thema Unfallprävention auch darum, Kinder gezielt Risiken zuzumuten, die sie sicherer machen im Umgang mit sich und ihrer Umwelt.

  • Es ist relevant zu sehen, dass es durchaus auch erlaubt sein darf, eine Rutsche für die Älteren zu besteigen, wenn das Kind es aus eigener Fähigkeit hinbekommt.
  • Weder die Unfallversicherung noch wir als Wissenschaftler oder Pädagogen sind Fans davon, dass Erwachsene Kinder in dem Alter einfach irgendwo auf ein Spielgerät heben, das sie noch gar nicht selbständig erklettern können. Was die Kinder selbständig erklettern können, wie zum Beispiel das Hochsteigen einer Rutsche von unten, ist völlig in Ordnung.
  • Es ist nicht sinnvoll, ein Kind auf einen Baum zu setzen und zu sagen: "Jetzt kletter mal".
  • Es macht auch keinen Sinn, von vorneherein zu sagen: "Dieses Spielgerät ist jetzt für diese Altersgruppe nichts", nur weil es nicht offiziell vom Hersteller empfohlen wird.
  • Es macht auch keinen Sinn, in altersgemischten Einrichtungen, wo Kinder unter drei und über drei betreut werden, den Jüngeren ein eigenes Areal mit Minirutschen, Minisandkasten, Minischaukel und Ähnlichem abzubilden und einen Zaun darum zu machen. Weder die Unfallversicherung noch die Pädagogik findet das sinnvoll, weil die Pädagogik eben nicht daran interessiert ist, Risiken zu minimieren, sondern zu dosieren.
  • Risikokompetenz zu erwerben ist wichtig, auch wenn sie noch nicht besonders in den Bildungsplänen der Bundesländer erscheint. Sie hilft, sich im Körpergefühl zu stärken, sich etwas zuzutrauen (was Selbstwirksamkeit verschafft) und Ängste zu verlieren. Es ist ein wichtiger Bildungsauftrag, der der Aufsichtspflicht gegenübersteht, und beide müssen in Balance gehalten werden, sie sind kein Widerspruch.

Claudia Uihlein: Ja, das bringt mich zum Stichwort Eltern. Diese sind natürlich besorgt um ihre Kinder und haben Sorge vor Unfällen, die passieren können im Zusammenhang mit Risky Play. Sie schreiben, dass die meisten Unfälle, insbesondere bei den Allerjüngsten, sich jedoch gar nicht unbedingt in der Kita ereignen, sondern eher im häuslichen Umfeld. Die Mutung liegt ja nahe, dass diese Unfälle zu Hause eher weniger im Zusammenhang mit Risky Play stehen. In welchem Bereich drohen den Kleinkindern die größten Unfallgefahren?

Dr. Joachim Bensel: Ja, das sind einfach Sachen, die auch mit dem Haushalt zu tun haben, zum Beispiel beim Zubereiten des Essens, dass Kinder sich verbrühen, oder tatsächlich auch, dass die Badewannentemperatur falsch eingestellt ist oder gar nicht vorgesehen ist für das Kind. Privathaushalte haben ja nicht diese Sicherheitsvorschriften, die Krippen haben, zum Beispiel mit diesen Klemmschutz am Türbereich. Tatsächlich haben auch zu Hause die Eltern ihre Kinder ja auch nicht permanent im Blick, und da können natürlich auch Dinge immer wieder passieren, die einfach natürlich auch zum Leben dazu gehören. Diese Gefahren sind in der Krippe und Kita seltener, deswegen passieren da weniger Unfälle als zu Hause. Das Relevante ist natürlich zu gucken, wo sind da wirklich schlimme Unfälle, die passieren können, die es zu vermeiden gilt. Da muss ich als Krippenfachkraft besonders ein Auge darauf haben, dass Kinder zum Beispiel nicht unbemerkt und alleine an Pfützen spielen, wo sie reinfallen können. Manche Kinder sind motorisch noch nicht in der Lage, sich selber wieder aufzurichten, und wenn sie mit dem Gesicht nach vorne in dieser Pfütze liegen, dann wird ein Reflex ausgelöst, der auch positiv beim Babyschwimmen genutzt wird (Kinder können tauchen, weil sie reflexhaft die Luft anhalten). Die Kinder liegen dann in der Pfütze, halten die Luft an und ersticken dann quasi, wenn man sie nicht rechtzeitig rausholt. Sowas muss ich natürlich vermeiden. Wirklich relevante Unfälle passieren dann, weil der Aufsichtspflicht in der Form nicht nachgegangen wurde, zum Beispiel wenn das Spielen im Wald oder Feld nicht gesichert wurde und ein Kind in ein Wasserrückhaltebecken stürzt. Extreme Fälle, wo Kinder in Unfällen in Krippe oder Kita zu Tode kommen, sind vielleicht ein bis zwei Fälle im Jahr und auch nicht jedes Jahr. Das ist tragisch, aber das ist etwas, was in der Summe viel häufiger zu Hause passiert als außer Haus.

Claudia Uihlein: Wenn wir jetzt noch mal in die Kita schauen und die Eltern aber auch mit in den Blick nehmen, wie können denn Fachkräfte Mütter und Väter mit ins Boot holen und für das Thema Risky Play begeistern und ihnen vermitteln, dass der Erwerb von Risikokompetenz für die Entwicklung ihrer Kinder wichtig ist?

Dr. Joachim Bensel: Ich glaube, es ist eine gute Mischung, wenn ich auf der einen Seite versuche, den Eltern auch die Ängste zu nehmen. Gleichzeitig muss man ihnen aber auch vor Augen führen, wie wichtig dieses Erleben auch von kleineren Herausforderungen, von Risiken auch für das Kind ist. Man muss sich vor Augen halten, okay, es kann sein, dass das Kind sich schmerzhaft verletzt, weil es irgendwo hinfällt. Aber auf der anderen Seite sind die vielen Erfahrungen, die es dabei sammelt, viel wertvoller, weil jeder Sturz auch eine Erfahrung bedeutet, mit der ich lerne, beim nächsten Mal anders am Baum oder am Spielgerät oder auch mit der Umgebung umzugehen, und die Unfallwahrscheinlichkeit wird einfach geringer. Die beste Langzeitprävention ist tatsächlich, kurzfristig diese Risiken zuzulassen.

  • Ich muss die Eltern informieren, dass sie wirklich über die blauen Flecken und Schrammen hinwegschauen müssen.
  • Man sollte es positiv etikettieren, wie Heidi Jensen das macht, und diese Schrammen, die die Kinder bekommen, auch als Kompetenzschrammen beschreiben. Es ist einfach auch Risikokompetenz, die die Kinder dadurch erwerben.
  • Ich denke, das ist vielen Eltern nicht klar, die denken, der beste Schutz ist, die Kinder tatsächlich in Watte zu packen.
  • Das andere ist, tatsächlich auch den Kindern mal Gelegenheiten zu geben, sich in diese etwas herausfordernden Situationen hineinzubegeben.
  • Wir kennen das von manchen Krippen und Kindergärten, dass sie so Aktionstage machen, wo Eltern gemeinsam mit ihren Kindern so kleine Risiken suchen, indem sie zum Beispiel mit einem Bobbycar eine Rampe runterfahren. Oder sich im Dunkeln durch den Parcours tasten müssen, oder auf einer entsprechenden Anlage balancieren.
  • Um mal einfach zu sehen, dass es ja auch ein schönes Gefühl ist, was dabei ausgelöst wird und Spaß macht. Die Kinder selber beschreiben das ja auch als eine Mischung aus Freude und dem Prickeln der leichten Angst, es könnte ja was passieren. Das ist ja ein ganz wichtiges Gefühl, was sie da aufbauen, dass sie wissen, dass hier was passieren könnte.
  • Sie definieren sich selber auch immer wieder neu, sagen: “Okay, heute jetzt ist der Punkt, wo ich versuche, diese Grenze zu überschreiten, dieses Risiko einzugehen, aber an dem anderen Tag ist es vielleicht noch nicht so weit, dass ich mir dieses Risiko zutrau”. Man sieht das sehr schön, wenn Kinder eine Hengstenbergleiter hochsteigen und dann oben sind und dann überlegen, gehe ich jetzt auf der anderen Seite runter oder steige ich langsam wieder die gleichen Stufen, die ich gekommen bin, wieder zurück.
  • Dies zuzulassen und weder zu sagen: "Ach komm, du schaffst das heute, du machst das jetzt", oder: "Na ja, lass das mal lieber, da könnte was passieren" oder hinzugehen und das Kind zu halten, sondern das Kind einfach zu lassen, so wie das in der Pickler Freiraumpädagogik auch in Eltern-Kind-Spielgruppen gehandhabt wird.
  • Das ist ein sehr schönes Moment, auch um ein Stück weit an der eigenen Übervorsorglichkeit zu arbeiten, was manche Eltern tatsächlich haben, verständlicherweise, weil jeder für sein Kind das Beste will und dass es sich nicht verletzt. Aber das zu merken, okay, das bringt dem Kind was, denn alles, was es dann schafft, schafft es aus eigenem Antrieb und verortet es bei sich als Gefühl der Selbstwirksamkeit. Das ist auch, glaube ich, ein sehr schönes Moment. Dass Eltern auch lernen können, das ihren Kindern mitzugeben.

Claudia Uihlein: Vielen Dank, Herr Dr. Bensel für diese Einblicke in das wilde und gewagte Spiel von Kleinkindern. Vielleicht haben wir mit diesem Beitrag bei einigen Fachkräften ja Interesse wecken können, das Thema Risky Play in der eigenen Arbeit zu reflektieren und stärker zu berücksichtigen. Dazu bietet auch unsere aktuelle Kleinstkinder Ausgabe 5/25 Gelegenheit, und zwar mit einem ausführlichen Beitrag von Herrn Dr. Bensel sowie vielen praktischen Tipps, z.B. wie Fachkräfte Kleinkindern verschiedene riskante Spielformen in der Kita ermöglichen oder wie sie ihnen den Umgang mit echten Werkzeugen vermitteln können. Ganz herzlichen Dank lieber Herr Bensel für Ihre Zeit und Ihre aufschlussreiche Information. Ich freue mich sehr, dass ich mit Ihnen über dieses wichtige Thema sprechen konnte.

Dr. Joachim Bensel: Ja, sehr gerne Frau Uihlein.

Jingle: Gemeinsam wachsen, gemeinsam lernen. Schön, dass ihr reingehört habt. Bis bald. Umfangreiches Fachwissen für die Betreuung der Jüngsten findet ihr auf www.kleinstkinder.de.

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