Kita-Krise: Warum wir jetzt eine Wende in der frühkindlichen Bildung brauchen

In der Presse geben deutsche Kitas seit einiger Zeit Anlass für Schreckensmeldungen: Fachkräftemangel, fehlende Plätze, Qualitätsverlust, frustrierte Erzieherinnen und Erzieher und verzweifelte Eltern. Nie war die frühkindliche Bildung in einer so katastrophalen Lage wie heute. Und diese Krise war abzusehen: Seit Jahren vernachlässigt die Politik die Bildung der Kleinsten.

Heute ist eingetreten, wovor Expertinnen und Experten seit langem warnen: Das deutsche Kitasystem steht kurz vor dem Kollaps. Schon jetzt sind pädagogische Fachkräfte vielerorts kaum noch in der Lage, eine Betreuung zum Wohle der Kinder zu gewährleisten. Dabei ist – wie wir aus vielen Studien wissen – gerade die frühe Bildung für den weiteren Entwicklungsweg von Kindern und jungen Menschen so entscheidend. Dem Land der Dichter, Denker und Erfinder gelingt es nicht, als Bildungsstandort zukunftsfähig zu sein – zum Schaden der Kinder und von uns allen.

Die Gründe für die Misere des Elementarbereichs sind vielfältig und haben verschiedene Ursprünge. Fest steht: Die Bemühungen der Politik der letzten Jahre und Jahrzehnte waren halbherzig und wirkungslos. Die nötigen Weichenstellungen und Investitionen, um die frühkindliche Bildung zu reformieren – auch im europäischen Vergleich – blieben aus. Als Ursachen der Misere lassen sich einige spezifisch deutsche Problemlagen ausmachen:

Fehlentwicklungen

Kita-Ausbau ohne Qualitätssicherung: Mit der Schaffung eines Rechtsanspruchs auf Betreuung im Jahr 2013 hatte sich das deutsche Bildungssystem ein sportliches Ziel gesetzt. Es kam zu einem raschen Ausbau an Kitaplätzen, wobei auch heute noch – eigentlich ein Rechtsbruch – immer noch insgesamt 400. 000 Betreuungsplätze in Deutschland fehlen. Auf der Strecke geblieben ist die gleichzeitige Sicherung eines Qualitätsanspruchs in der frühkindlichen Bildung. Der aktuelle Fachkräftemangel führt so dazu, dass Kinder in manchen Einrichtungen nur noch „verwahrt“ werden können und die Erzieherinnen und Erzieher ihrem Bildungsauftrag und ihren pädagogischen Ansprüchen nicht mehr gerecht werden können.

Personalschwund im deutschen Bildungssystem: Der Personalmangel in deutschen Kitas verschärft sich seit Jahren und hat durch die Pandemie einen weiteren Schub erfahren. Schon heute können viele Kitas ihre Öffnungszeiten nicht mehr gewährleisten, Tendenz steigend. Der Kita-Ausbau verursachte einen höheren Personalbedarf bei gleichzeitiger Tendenz zur Verrentung und nicht steigender Attraktivität des Berufsfelds. Im Gegenteil: Nach wie vor ist der Beruf Erzieherin bzw. des Erziehers gesellschaftlich wenig angesehen, Lohn und Aufstiegsmöglichkeiten sind gering bei erheblicher Arbeitsbelastung. Die Politik hat hier – übrigens ebenso wie bei den Schulen – versäumt, rechtzeitig die Weichen zu stellen.

Neue Herausforderungen der letzten Jahre: Mit dem Fachkräftemangel einher gehen seit einigen Jahren Herausforderungen, welche die Einrichtungen vor weitere Aufgaben stellten: Migrations- und Flüchtlingsfamilien brauchen eine besondere Unterstützung, die Kinderarmut nimmt zu, Brennpunkt-Kitas sind auf sich gestellt und die Chancenungleichheit verschärft sich – alles Prozesse, die in einem angeschlagenen System schwer auszugleichen sind. Hier werden Fachkräfte schlicht alleingelassen und die Gesellschaft versäumt es, sich um die Schwächsten zu kümmern.

Bürokratische Hürden und die Tücken des Föderalismus: Das Land steht sich beim Kita-Ausbau selbst im Weg. Viel zu oft verschleppen bürokratische Hürden den Bau von Kindertagesstätten, so dass es manchmal Jahre dauert, bis ein Projekt überhaupt erst genehmigt, geschweige denn abgeschlossen wird. Weitere Problemlagen ergeben sich durch den deutschen Föderalismus: Weil Bildung Ländersache ist, fehlen einheitliche Standards und Willkür, Zuständigkeitswirrwar und mangelnde Verantwortlichkeiten sind die Folge.

Fehlentwicklungen seit der Wiedervereinigung: Deutschland musste nach der deutschen Einheit zwei Systeme vereinen, die sowohl hinsichtlich der Betreuungsstruktur als auch hinsichtlich der Mentalitäten und des Familienbildes differierten. Das hat – wie wir heute im Rückblick erkennen können – einen Reformprozess im Bildungssystem, wie ihn andere europäische Länder vollzogen – verschleppt.

Wandel jetzt!

Damit sind nur einige Fehlentwicklungen genannt. Fest steht: Das Wohl der Kinder und Familien wird in diesem Land auf fahrlässige Weise vernachlässigt. Wir als Gesellschaft und die Politik nehmen unsere Verantwortung nicht gewissenhaft wahr. Weil Kinder jedoch unsere Zukunft sind, brauchen wir jetzt eine Wende. Es ist noch nicht zu spät – und es stehen uns Wege und Möglichkeiten offen, die notwendigen Reformen einzuleiten. Dabei muss uns jedoch eines klar sein: Damit der Wandel gelingt, ist ein Umdenken in unserer Gesellschaft nötig. Deutschland muss kinderfreundlicher werden und die Entschlossenheit aufbringen, die Zukunftschancen der heranwachsenden Generation zu einem obersten politischen Ziel zu machen.

  • Eine „Bildungsoffensive Deutschland“ sollte unter anderem folgende Maßnahmen ergreifen:
  • Einberufung eines nationalen Bildungsgipfels
  • Schaffung eines verbindlichen finanziellen Rahmens für den Reformprozess (Zehn-Jahres-Masterplan)
  • Bildung von „Runden Tischen“ auf Bundes- und Länderebene
  • Einführung von bundesweiten Qualitätsstandards (mit wissenschaftlicher Fundierung) durch ein Kita-Qualitätsgesetz
  • Verpflichtung der Träger zur Qualitätssicherung
  • Schaffung eines Bundes-Rahmenbildungsplans zur Orientierung für die Länder-Bildungspläne
  • Vereinheitlichung der Hochschulausbildung für pädagogische Fachkräfte, Erhöhung der Ausbildungskapazitäten, bessere Qualifizierung und Verbesserung der Berufs- und Einstiegsmöglichkeiten
  • Reform und Vereinfachung der politischen Zuständigkeiten

Diese zentralen Maxnahmen sollten mit vielen weiteren Reformschritten auf der Praxisebene einhergehen. Die Anstrengung ist groß, aber sie ist realisierbar, wenn wir ein breites gesellschaftliches Bündnis mobilisieren können. Nicht zuletzt geht es darum, Schritt für Schritt ein neues Verständnis von Erziehung, Bildung und Betreuung zu etablieren, um in Krippe und Kita den Grundstein für gelingende Bildungsbiographien zu legen. Wir sind es den Kindern schuldig. „Weil unsere Kinder unsere einzige reale Verbindung in die Zukunft sind und weil sie die Schwächsten sind, gehören sie an die erste Stelle der Gesellschaft.“ (Olof Palme) 

Ilse Wehrmann ist Erzieherin und promovierte Sozialpädagogin und war Vorsitzende der Bundesvereinigung Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder e.V. (BETA). Heute ist sie als freie Beraterin tätig und unterstützt Politik und Unternehmen beim Aufbau neuer Kitas und bei Reformen in der Frühpädagogik. Ihr Buch Der Kita-Kollaps. Warum Deutschland endlich auf frühe Bildung setzen muss! ist hier im Shop erhältlich.

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