Biblische ZugängeLeben – Liebe – Vielfalt

Biblische Texte sind deutungsoffen. Wer darin eine zementierte Schöpfungsordnung liest, übersieht die Gottesbotschaft Jesu und den Kern christlicher Verkündigung: Das Leben in Fülle.

Die Sexualität des Menschen und die Bibel haben gemeinsam, dass sie missbraucht werden. Mit Sexualität wird der Kommerz angekurbelt (sex sells“) und Macht ausgeübt von der körperlichen Vergewaltigung bis hin zur psychischen Unterdrückung. Mit der Bibel werden Interessen mit großer Autorität (Gottes Wort“) durchzusetzen versucht. Dahinter steckt geistlicher Machtmissbrauch, der mit Angst und Skrupeln arbeitet. Ich wehre mich gegen diesen Missbrauch und eröffne eine positive Sichtweise.

Man gebraucht einen Text, etwa die Bibel, wenn man durch ihn bestimmte Ansichten bestätigt haben möchte. Dabei steht das Interesse der Lesenden im Vordergrund. Mit der Bibel benutzen sie deren Autorität als Gottes Wort“, um missliebige Ansichten und Personen auszugrenzen. Dagegen gilt es, die Bibel zu interpretieren (Umberto Eco) und nach den angemessenen und legitimen Verständnismöglichkeiten zu fragen. Wenn die lesende Person ihre Interessen zurückstellt, kann sie die Vielfalt der Bibel entdecken.

Die Debatte um die menschliche Sexualität thematisiert oft eine biblisch grundgelegte und unveränderliche Schöpfungsordnung. Diejenigen, die so argumentieren, zeigen damit, wie sie sozialisiert worden sind. Darin, wie sie sich ihr Sexualleben zurechtgelegt haben, sehen sie die Schöpfungsordnung. Die Urgeschichte der Bibel scheint dies dann zu bestätigen. Die Verknüpfung von eigenem Erleben und interessegeleiteter Bibellektüre führt zur Zementierung einer unveränderlichen“ Schöpfungsordnung, die gottgewollt“ auf Heteronormativität beschränkt wird.

Das funktioniert logisch nicht, denn menschliche Erkenntnis wachst ständig, wandelt sich und ist zugleich begrenzt. Die biblischen Texte formulieren auf dem Stand damaliger Kenntnisse eine Ordnung, die bei unverstellter Lektüre deutungsoffen ist und von der Textsorte her keine Norm sein will. Eine Schöpfungstheologie, die aus dem Betrachten von Gottes Schöpfung ein Ordnungswissen ableiten will, muss offen dafür sein, dass sich die menschliche Erkenntnis entwickelt. Bis heute finden die Menschen mehr und mehr über sich und diese Welt heraus theologisch gesprochen wachst das Wissen über die Schöpfung Gottes. Warum sollte dieser Prozess an irgendeinem Punkt (etwa bei der Entstehung der Bibel) zum Halten gekommen und eine unveränderliche Schöpfungsordnung festgeschrieben worden sein? Die Schöpfungsordnung ist eine wandelbare Deutung dieser Welt. Der biblische Text wird dann lebendig, wenn er von Menschen im Lesevorgang ausgelegt wird.

Freiheit Gottes und Freiheit des Menschen

Positionen, die das Konzept Homosexualität oder die Diversität sexueller Identitäten mit Verweis auf eine angeblich unveränderbare Schöpfungsordnung, die von Gott festgelegt sei, ablehnen, überschreiten die menschliche Kompetenz und überschätzen die menschliche Erkenntnisfähigkeit: Der Mensch hat Gottes Schöpfung nicht bereits zur Ganze durchschaut. Was von den Wissenschaften erkannt wird, ist nicht einfach von Übel. Auch schränkt eine solche Position Gottes Souveränität ein: Es bleibt Gott überlassen, wie Gott die Welt und den Menschen gestaltet und wie viel davon Gott wann dem Menschen offenbart. Gute Schöpfungstheologie integriert Erkenntnisse der Human- und Sozialwissenschaften in ihre Sicht vom Menschen und entwickelt die Vorstellung von einer Schöpfungsordnung dynamisch weiter. Nur so sind die Freiheit Gottes und die Freiheit des Menschen sowie die Zukunftsfähigkeit des biblischen Textes als Gottes Wort für alle Zeiten gerettet.

Die Humanwissenschaften sehen die geschlechtliche Identität eines Menschen, zu der mehr gehört als das körperliche Geschlecht, nicht mehr binar als Mann und Frau, sondern bipolar: Zwischen den Polen männlich“ und weiblich“ findet sich jeder Mensch. Die meisten stehen in der Nähe eines dieser beiden Pole. Eine kleinere Anzahl von Menschen findet sich dazwischen. Das sind Varianten, kein Krankheitsbild, das einer Korrektur bedurfte. Nötig ist vielmehr die gesellschaftliche Akzeptanz von Menschen mit Geschlechtsidentitäten, die in die üblichen Standards nicht hineinpassen. Das Problem sind nicht diese Menschen, sondern die Standards.

Im hebräischen Text von Gen 1,27 ist nicht von Mann und Frau“, sondern von männlich und weiblich“ die Rede. Die Adjektive geben Raum für ein Spektrum und bilden das, was die Humanwissenschaften sagen, gut ab. In früheren Zeiten hatten die Menschen die statistische Häufigkeit vor Augen, nämlich dass ein Mann und eine Frau zusammenkommen und Kinder zeugen und gebaren. Darüber haben sie ihre Texte geschrieben. Menschen, die sich in ihrer sexuellen Identität und Orientierung anders erfahren, waren nicht im Blick, wie sie es heute sind. Eine Ausgrenzung, Diskriminierung oder Diffamierung solcher Menschen ist aus dem Bibeltext nicht abzuleiten.

Im zweiten Schöpfungstext der Bibel formt Gott ein Einzelwesen aus Staub vom Erdboden (ădāma), das als Mensch“ (`ādāmErdling“) bezeichnet wird (Gen 2,7). Das Alleinsein dieses Menschen schätzt Gott als nicht gut“ ein. Daher stellt Gott dem Menschen eine aus einem Bauteil dieses Menschen gestaltete Frau zur Seite. Der Rest-Mensch erkennt das Gegenuber als Frau und sich selbst als Mann. Für die geschlechtliche Vereinigung verwendet der Text das poetische Bild des ein Fleisch“-Werdens. Er staunt über die geschlechtliche Attraktivität und deren gewaltige Kraft (siehe auch das Hohelied). Die Festlegung einer monogamen heterosexuellen Ehe und die Eingrenzung der menschlichen Sexualität auf Fortpflanzung allein sind spätere Deutungen aus bestimmten Interessen heraus.

Auch der erste Schöpfungstext der Bibel staunt über das Wunder der Fortpflanzung. Er kleidet es in die Aufforderung Gottes, fruchtbar zu sein und sich zu mehren nicht ohne sie vorher zu segnen. Gleiches sagt Gott von den Wassertieren und den Vögeln (Gen 1,22). Der Segen geht der Fruchtbarkeit voraus: Sie ist Folge des Segens Gottes. Gelingt Fruchtbarkeit, so ist das wunderbar. Aber sie ist keine Notwendigkeit oder der einzige Zweck von Sexualität. Die weiteren Geschichten zeigen, dass die Abwesenheit von Fruchtbarkeit nicht die Abwesenheit des Segens Gottes bedeutet. Abram und Sarai werden alt, ohne ein Kind zu haben. Rebekka und Isaak sind lange zusammen, ohne Nachkommen zu haben. Sollten sie während all dieser Zeit nicht von Gott gesegnet sein? Schwer vorstellbar. Mehrere biblische Frauengestalten sehnen sich nach einem Kind, und wenn es unerwartet kommt, ist die Freude groß. Die Frauen auf die Mutterrolle zu reduzieren, wie das bis heute von Männerinteressen geleitet in vielen Gesellschaften geschieht, geht am Bibeltext vorbei und ignoriert die wichtigen Aufgaben, die diese Frauen vor, nach und jenseits ihrer Mutterschaft haben.

Hoffnung auf Liebe

Im Romerbrief spricht Paulus von widernatürlichem“ Geschlechtsverkehr im Kontext von Habgier, Bosheit, Neid, Mord, Streit, List und Tücke (Rom 1,2632). Er denkt an sexuelle Praktiken, die die Zeugung von Nachkommen bewusst vermeiden wollen. Aber es ist nicht nur der Geschlechtsverkehr natürlich“, der zu Nachkommen fuhrt. Die Natur kennt mehr als das heteronormative Modell und zeigt, dass Sexualität nicht ausschließlich zur Zeugung von Nachkommen dient. Die Betrachtung der Natur von Tieren und Menschen erweist eine stark einschränkende Sexualmoral unter Menschen als widernatürlich. Die Natur tendiert zu Vielfalt und Vermeidung von Schmerz, zur Ermöglichung von Leben und zur Eindämmung von Gewalt. Unter Menschen kann man Vermeidung von Schmerz, Reduzierung von Gewalt und Ermöglichung von Leben Liebe“ nennen. Bei Tieren wäre das ungewöhnlich, aber denkbar. Widernatürlich sind menschliche Handlungen, die zu Diskriminierung, Verachtung, Gewalt, Schmerz und Ausbeutung fuhren. Sexualität“, die als Machtmittel eingesetzt wird und solchen Zielen dient, ist zu verurteilen. Dagegen ist eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft, die beide Partner zu Erfüllung, Liebe, Freude, Glück, Vertrauen und Leben führt, auch im Sinne der Bibel nicht widernatürlich. Das Gleiche gilt für non-binare oder trans* Identitäten.

Die Bibel denkt vor allem in der Urgeschichte intensiv über den Menschen, über Manner und Frauen und ihre Rollen nach und sie halt ihren Leser:innen damit einen Spiegel vor: In diesen Geschichten können sie sich wiederfinden und über ihr Leben nachdenken. Frauen, die schwanger waren und geboren haben, werden sich in Gen 3,16 wiederfinden: Unter Schmerzen gebierst du Kinder.“ Diese heftige Erfahrung wird als Realität aufgegriffen, aber nicht als von Gott gewollt dargestellt. Die Menschen dürfen Abhilfen gegen die Schmerzen entwickeln und sich die mühevolle Arbeit auf dem Erdboden erleichtern, indem sie sich landwirtschaftliche Maschinen ausdenken. Auch der folgende Satz, nach deinem Mann hast du dein Verlangen, und er wird über dich herrschen“ formuliert keine Schöpfungsordnung“, sondern reflektiert die leidvolle Erfahrung der Unterdrückung von Frauen durch die Jahrhunderte. Ungleichbehandlung und Gewalt gegen Frauen sind weder ein Naturgesetz noch von Gott gewollt.

Die Bibel selbst setzt gegen diese (leider immer noch allzu aktuelle) Realität die Hoffnung auf die Liebe. Im Hohelied wird das Verhältnis mit einer wortgleichen Formulierung umgekehrt und damit ausgehebelt. In Hld 7,11 heißt es: Ich gehöre meinem Geliebten, und nach mir ist sein Verlangen.“ Das seltene hebräische Wort für Verlangen“ (tǝšuqa) verbindet die beiden Verse. Die Liebe ermöglicht die Rückkehr ins Paradies und hebt die Herrschaftsverhältnisse der sozialen Konventionen auf. Zwei Bibelverse spannen den Spagat zwischen der schlimmen Wirklichkeit und dem Ideal einer lebensfrohen Hoffnung: Die Daseinsminderungen in Gen 3, die Schmerzen der Frau, die Herrschaft des Mannes uber die Frau, die Muhe des Menschen mit dem dornigen Ackerboden, sind die Wirklichkeit, in der wir bis heute leben aber die Bibel kennt auch die Gegenwelt des Paradieses, in der es die Freuden erotischer Liebe gibt, ohne Herrschaft des einen über die andere, ohne Mühsal und Schmerzen. Das Hohelied sieht partnerschaftliche Liebe auf Augenhohe, die gegenseitige Freude an der Schönheit des/der jeweils anderen und gerade auch das körperliche Erleben der liebenden Begegnung als Weg ins Paradies und zu Gott. Stark wie der Tod ist die Liebe, die Leidenschaft ist hart wie die Unterwelt. Ihre Gluten sind Feuergluten, Flammen JH(WH)s“ (Hld 8,6).

Sinn im geschichtlichen Kontext

Die hoffnungsvolle Utopie, dass es keine Diskriminierung mehr aufgrund des Geschlechts gibt, formuliert Paulus im Galaterbrief. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus“ (Gal 3,2728). Die Tragweite dieser Aussage kann kaum überschätzt werden. Die gesellschaftlichen Standesunterschiede in der Antike waren unüberbrückbar und kulturell zementiert: zwischen den als Bürgern zweiter Klasse angesehenen Juden und der Mehrheitsgesellschaft der Griechen, zwischen rechtlosen Sklaven und freien Bürgern, die nur Männer waren, weil Frauen nur in Ausnahmefallen überhaupt etwas zahlten. Gegen diese vermeintlich naturgegebenen Unterschiede, die wir heute als Diskriminierungen sehen, setzt Paulus den einen Glauben an Jesus Christus, der all diese Unterschiede hinfällig macht. Spuren alternativer Handlungsweisen in den Gemeinden haben sich erhalten (siehe als Beispiel den Philemonbrief oder die Apostelin Junia in Röm 16,7).

Aber weder Paulus noch die aufkommende Kirche konnten größere gesellschaftliche Veränderungen umsetzen. Wie mühevoll war es, die Sklaverei abzuschaffen und es gibt sie bis heute (kaschiert von wirtschaftlichen Interessen“). Wie hart war der Kampf von Frauen um Gleichberechtigung und er ist keineswegs zu Ende. Wer die Bibel zitiert, um Einzelne oder Gruppen wegen ihres Geschlechts beziehungsweise ihrer sexuellen Identität zu diskriminieren und zu diffamieren, kann dies nur tun, indem er Satze aus dem Zusammenhang reist und für seine Interessen missbraucht. Eine den Sinndimensionen des Textes nachspürende Interpretation dagegen wird das befreiende Potenzial der biblischen Menschen- und Gottesbilder entdecken.

Es ist falsch, einzelne Bibelverse ohne ihren literarischen, geschichtlichen, sozialen und kulturellen Kontext dazu zu gebrauchen, um Menschen auszugrenzen und ihnen psychisch Gewalt anzutun. Leider wird immer noch Gen 19 als vermeintlich biblisches Argument genannt, dass Homosexualität“ eine schlimme Abirrung“ sei (Katechismus der Katholischen Kirche [KKK] 2357). Doch die Männer von Sodom in Gen 19 versuchen, sexualisierte Gewalt zur Demütigung von Fremden anzuwenden. In Lev 18,22 wird nicht Homosexualität“ als Sünde deklariert, sondern ein Sexualverhalten in einer geschichtlichen Situation geachtet, in der es um das notwendige Hervorbringen von Nachkommen in der richtigen gesellschaftlichen Ordnung ging. Auch hier ist der historische Kontext zu erheben und zu fragen, ob und wie die Bestimmung ins Heute zu übertragen ist. Andernfalls müssten Menschen mit Tätowierungen ebenfalls ausgegrenzt (Lev 19,28) und Ehebrecher getötet werden (20,10). Bestimmte situationsbedingte Vorschriften hatten ihre Zeit und sind nicht eins zu eins ins Heute zu übertragen. Eine solche von Machtinteressen geleitete Auswahl ist ein kritikwürdiger Gebrauch beziehungsweise Missbrauch der Bibel. Eine den Text ernst nehmende Interpretation entdeckt Sinndimensionen, die bis heute hilfreiche Impulse geben: Wie gestaltest du deine Sexualität sozialvertraglich? Sexualität ist und das kann man aus der Bibel lernen nicht nur eine Sache zwischen zwei Menschen, sondern hat immer auch eine Bedeutung für die Gemeinschaft(en), in der/denen die beiden leben.

In Joh 10,10 findet sich das Jesus-Wort Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“. Daran muss sich christliche Verkündigung messen lassen. Verkünden christliche Menschen, Kirchen, Amtsträger:innen die Gottesbotschaft Jesu als eine, die zum Leben in Fülle führt? Oder wird sortiert, wer gemäß einer bestimmten Lehre“ lebt oder wessen Beziehung objektiv ungeordnet“ ist und wer einer schlimmen Abirrung“ folgt (Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 23572358)? Maßstab und Ziel der Auslegung und Verkündigung der biblischen Botschaft ist aber gemäß Gottes Verheißung (Lev 18,5) das Leben. Eine Auslegung, die Angst macht, einengt und Lebensmöglichkeiten einschränkt, kann daher nicht richtig sein. Sexualität und Bibel zielen auf das Leben. Zum Leben gehören Entfaltung, Verwirklichung dessen, was an Positivem in einem Menschen steckt, Mut zu Beziehungen und Gemeinschaft. Zum Leben gehört die Liebe, die sich zeigt in Respekt, gegenseitiger Achtung und Anerkennung der Würde des und der anderen. Zum Leben gehört die Vielfalt die Diversität in ihren Facetten und Schattierungen. Eine angemessene Auslegung der Bibel und die menschliche Sexualität ermöglichen Leben, Liebe, Vielfalt.

Anzeige: Menschenrechte nach der Zeitenwende. Gründe für mehr Selbstbewusstsein. Von Heiner Bielefeldt und Daniel Bogner
HK Hefte

Die Herder Korrespondenz im Abo

Die Herder Korrespondenz berichtet über aktuelle Themen aus Kirche, Theologie und Religion sowie ihrem jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld. 

Zum Kennenlernen: 2 Ausgaben gratis

Jetzt gratis testen