Seit den Sechzigerjahren lassen sich vielfaltige soziale Bewegungen ausmachen, die sich für Selbstbestimmung rund um Geschlecht und Sexualität einsetzen. Zu diesen vielfaltigen Bewegungen können die politischen Kampfe der Frauenbewegungen um Gleichberechtigung, Selbstbestimmung sowie gegen (sexuelle) Gewalt und Ausbeutung ebenso gezählt werden wie jene für die Rechte von schwulen, lesbischen und queeren Menschen, für die selbstbestimmte Lebensgestaltung von Menschen mit Behinderungen, für die Rechte von Sexarbeiter:innen sowie für die Anerkennung jugendlicher Sexualität und den Zugang zu Sexualaufklärung sowie die Selbstbestimmung von trans*, inter* und nicht-binaren Personen.
In all diesen Bewegungen geht es um Selbstbestimmung, auch wenn die konkreten Anliegen und politischen Einsatzpunkte unterschiedlich sind und bisweilen auch als in Konflikt stehend wahrgenommen werden. Aktuelle Meilensteine und Ausdruck der politischen Debatten um geschlechtliche Vielfalt, die in diesem Artikel aus pädagogischer Perspektive im Fokus stehen, sind die Anerkennung eines dritten Geschlechtseintrages in Deutschland (2018) sowie das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz, das im November 2024 in Kraft getreten ist. Es ermöglicht (trans*, inter* und nicht-binaren) Menschen, ihren Namen und Personenstand durch eine Erklärung beim Standesamt ohne Vorlage von Expert:innen-Gutachten zu ändern. Dieses Verfahren war bisher mit hohem bürokratischen und finanziellen Aufwand sowie mit teils demütigenden Befragungs- und Untersuchungsprozessen verbunden.
Gegen die erwähnten Selbstbestimmungsbewegungen lassen sich unterschiedliche Gegenbewegungen rechter und (religiös-)konservativer Akteur:innen ausmachen. Sie zielen oft nicht auf sachliche Kritik und Auseinandersetzung mit den Selbstbestimmungsanliegen, sondern auf Diskreditierung und politische Stimmungsmache im Sinne der Verteidigung patriarchaler, heterosexueller (und weißer) Vorherrschaft. Diese unterschiedlichen Retraditionalisierungsbewegungen propagieren etwa binäre Geschlechtervorstellungen, wollen die Rechte von LGBTIQ*-Personen einschränken und stellen die Selbstbestimmung und Straffreiheit von Frauen in Bezug auf Schwangerschaftsabbrüche infrage.
Pädagogische Praxis und ihre Akteur:innen stehen in komplexen Wechselwirkungen zu diesen widersprüchlich- gleichzeitigen politischen Kontroversen und Bewegungen rund um sexuelle und geschlechtliche Vielfalt.
Geschlecht und Sexualität: Begriffe und Ebenen
In den medialen wie auch alltäglichen Debatten werden die Begriffe Geschlecht(-lichkeit) und Sexualität oft vermischt oder sogar synonym gesetzt. Um die Verwobenheit von Geschlecht und Sexualität analysieren zu können und ein differenziertes Sprechen über geschlechtliche und sexuelle Vielfalt zu ermöglichen, scheint es sinnvoll, begrifflich und analytisch klar zwischen Geschlecht und Sexualität zu unterscheiden.
Geschlecht kann als eine machtvolle soziale Kategorie der Zuschreibung und Identifizierung von Menschen verstanden werden, die den Zugang zu Ressourcen und Lebensmöglichkeiten strukturiert.
Sexualität setzen wir hier als einen Sammelbegriff für alle erotischen Aspekte des sozialen Lebens und menschlichen Seins. Sexualität wird dabei sowohl durch körperlich-psychische wie auch durch soziokulturelle Faktoren und gesellschaftliche Machtverhältnisse beeinflusst. So ist das Feld der Sexualität etwa durch geschlechtliche Machtverhältnisse geprägt, die zu Doppelstandards führen: Dieselben Verhaltensweisen, etwa sexuell interessiert zu sein, werden bei Mädchen und Jungen moralisch unterschiedlich bewertet. Menschen, die gängigen Geschlechternormen nicht entsprechen, wird ihre respektable Subjektivität abgesprochen. So erleben intergeschlechtliche Kinder unnötige, nicht-konsensuelle Behandlungen, um ihre Körper den Geschlechternormen anzupassen.
Mit der „Pädagogik geschlechtlicher, sexueller und amouröser Vielfalt“ bieten Katharina Debus und Vivien Laumann (Berlin 2018) eine Grundlage für ein differenziertes Wahrnehmen und Sprechen über vielfaltige Lebensweisen in pädagogischen Kontexten. In Bezug auf geschlechtliche Vielfalt unterscheiden sie drei Ebenen von Geschlecht: Das Körpergeschlecht umfasst biologische Merkmale wie etwa Chromosomen, Genitalien, Hormone sowie Körperbehaarung und Zeugungsfähigkeit einer Person, anhand derer Menschen als biologisch beziehungsweise medizinisch männlich, weiblich oder intergeschlechtlich kategorisiert werden. Die zweite geschlechtliche Ebene ist jene der Geschlechtsidentität und meint das geschlechtliche Selbstverständnis von Menschen, also das Empfinden des eigenen Geschlechts. Es handelt sich dabei also um das gefühlte Geschlecht einer Person, das von der bei der Geburt zugewiesenen Kategorie abweichen kann, wie etwa bei transgeschlechtlichen Menschen.
Der Geschlechtsausdruck als dritte Ebene meint die Möglichkeiten geschlechtlich konnotierter Ausdrucksformen, also die Arten und Weisen, in denen Menschen ihr Geschlecht im Alltag zeigen. Dazu gehören beispielsweise Kleidungsstile, Haarstyling, soziale Verhaltensweisen, Geschmäcker und Vorlieben in Bezug auf Kunst, Emotionen und Interessen sowie Sexualität, Erotik und Intimität.
Unter sexueller Vielfalt verstehen die genannten Autor:innen die Vielfalt sexueller Orientierungen, also die Frage, zu welchem Geschlecht Menschen sich hingezogen fühlen. Zudem kann damit auch auf die Vielfalt der sexuellen Vorlieben und Praktiken Bezug genommen werden.
Um die Bandbreite menschlicher Beziehungsformen umfassender zu beschreiben und zu berücksichtigen, sprechen beide neben geschlechtlicher und sexueller auch von amouröser Vielfalt und meinen damit das Spektrum an romantischen Vorlieben und Beziehungsformen. Die Unterscheidung zwischen sexueller Orientierung und romantischen Begehren beziehungsweise Beziehungsformen schafft zum Beispiel Raum dafür, zwischen dem eigenen sexuellen Begehren und der romantischen Anziehung zu differenzieren und auch Asexualität und Aromantik mitzudenken.
Vielfalt im schulischen Raum
Durch die oben angesprochenen gesellschaftlichen Entwicklungen sind geschlechtliche (wie auch sexuelle und amouröse) Vielfalt in den letzten Jahren in der Schule als Thema und gelebte Wirklichkeit präsenter geworden, etwa indem sich Schüler:innen als transgeschlechtlich beziehungsweise nicht-binär outen und/oder in ihrem Erscheinen und Auftreten Geschlechternormen durchkreuzen. Zudem berichten Lehrer:innen auch, dass homo-, trans*- und queerfeindliche Äußerungen ansteigen. Lehrerinnen können diese Entwicklungen als verunsichernd erleben und sind herausgefordert, mit den Auswirkungen und Fragen in ihrem pädagogischen Alltag einen professionellen Umgang zu finden.
Der schulische Raum ist nach wie vor stark von heteronormativen Strukturen geprägt. Mit Heteronormativität ist gemeint, dass Zweigeschlechtlichkeit, Cis-Geschlechtlichkeit (also die Annahme, dass Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität übereinstimmen) und Heterosexualität als gesellschaftliche Norm und Normalität verstanden werden, die Alltagspraxen ebenso durchzieht wie symbolische Ordnungen, Institutionen, strukturelle Diskriminierung und Privilegierung.
Katharina Debus unterscheidet zwischen unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung sowie Othering. Unmittelbare Diskriminierung meint, dass bestimmte Identitäten, Zugehörigkeiten, Körper, Lebensweisen und Neigungen abgewertet beziehungsweise tabuisiert werden. Mittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn ohne direkte Abwertung, sondern beispielsweise durch das Vorenthalten von Informationen und Lernmöglichkeiten bestimmte Adressat:innengruppen benachteiligt werden, etwa Sexualkunde nicht auf die Lebensrealität von queeren Jugendlichen eingeht und ihnen dadurch die Aneignung von relevantem Wissen und Fähigkeiten vorenthalt. Othering-Praktiken „verbesondern“ bestimmte Identitäten, Lebensweisen, Neigungen oder Erfahrungen, stellen sie als fremd oder andersartig dar, zum Beispiel durch Peinlichkeits- und Distanzierungssignale in Wortwahl, Stimme oder Körpersprache oder durch Verlagerung in „exotisierende“ oder problematisierende Extra- Einheiten, zum Beispiel unter dem Stichwort „Minderheiten“.
LGBTIQ*-Schüler:innen, also lesbische, schwule, bisexuelle, trans*, inter* und queere Schüler:innen, sind in der Schule oft entweder unsichtbar oder hypersichtbar. In der 2015 veröffentlichten Coming-out-Studie des Deutschen Jugendinstituts von Kerstin Oldemeier und anderen, an der insgesamt 5037 Personen teilgenommen haben, die sich als schwul, lesbisch, bisexuell, trans*, genderdivers oder orientierungsdivers bezeichnen, berichten mehr als die Hälfte der befragten Jugendlichen von Ablehnung in der eigenen Familie und fast jede:r Zehnte von Gewalterfahrungen am Ausbildungs- oder Arbeitsplatz. Besonders junge trans* Personen geben an, (sexualisierte) Gewalterfahrungen gemacht zu haben. Hilflosigkeit und Angst führen dazu, dass Jugendliche ihre Identität eher verstecken.
Abbau von Diskriminierung
Der Abbau von mittelbarer und unmittelbarer Diskriminierung und Othering kann als kinderrechtlich begründeter pädagogisch-professioneller Auftrag im Sinne des Rechts auf Bildung (Art. 28 der UN-Kinderrechtskonvention) und des Diskriminierungsschutzes (Art. 2) verstanden werden. Geschlechtliche Vielfalt ist in der Schule in unterschiedlicher Weise von Bedeutung. Der Erziehungswissenschaftler Florian Cristóbal Klenk betont, dass es weniger darum gehe, sofort Antworten auf komplexe Fragen zu finden, viel wichtiger sei es, eine wertschätzende Grundhaltung zu entwickeln und die Thematik in den schulischen Alltag zu inkludieren.
So ist geschlechtliche Vielfalt zum einen als ein fachlicher Lehr- und Lerngegenstand zu begreifen, etwa wenn im Kunstunterricht künstlerische Arbeiten der österreichischen Künstler:in Jakob Lena Knebl besprochen werden oder im Biologieunterricht die Vielfalt äußerer Genitalien zum Thema wird.
Geschlechtliche Vielfalt kann auch als eine fächerübergreifende Querschnittsthematik begriffen werden. Dies kann etwa bedeuten, dass geschlechterreflektiert und vielfaltsinklusiv gesprochen wird (unabhängig davon, was gerade Gegenstand des Unterrichts ist) oder dass Geschlechternormen in Unterrichtsmaterialien zum Thema gemacht werden.
Als dritte Ebene kann die der pädagogischen Alltags- und Beziehungsgestaltung verstanden werden: Wo können sich Schüler:innen Unterstützung holen, wenn sie aufgrund von Geschlecht abwertende Kommentare oder Diskriminierung erleben? Werden die gewählten Namen und Pronomen von Trans-Jugendlichen in der Schule akzeptiert? Gibt es für alle Schüler:innen Toiletten und Umkleideräume, in denen sie sich sicher fühlen?
Zum Vierten kann geschlechtliche Vielfalt auch als gemeinsame Aufgabe diskriminierungsreflektierter Schulentwicklung und Professionalisierung von Fachkräften verstanden werden, was sich etwa in themenspezifischen Fortbildungen für das Personal oder in der Entwicklung eines diskriminierungsreflektierten Schulprofils und Schutzkonzepts zur Prävention von Diskriminierung und (sexualisierter) Gewalt ausdrücken kann.
Eine gute Möglichkeit sind auch längerfristige Kooperationen mit Expert:innen- und Selbstvertretungsorganisationen und Maßnahmen in der Gestaltung der Personalpolitik pädagogischer Einrichtungen. Gegenwärtig ist das Miteinbeziehen von vielfaltigen Lebensformen oft noch vom Engagement einzelner Lehrkräfte abhängig und nicht institutionell verankert.
Unterstützung für LGBTIQ*-Jugendliche
Florian Klenk arbeitet 2023 anhand einer qualitativen Befragung von (auch LGBTIQ*-) Lehrpersonen drei zentrale Deutungsmuster zum Umgang mit vielfältigen Lebensweisen heraus: Dethematisierung, Fragmentierung und Responsibilisierung. Dethematisierung meint, dass die Lehrpersonen die Relevanz der Thematik negieren oder minimieren. Hierbei wird unter anderem betont, dass davon ausgegangen wird, dass queere Lebensweisen bereits gesellschaftlich breit akzeptiert sind und keine Diskriminierung mehr erfahren, sodass eine besondere pädagogische Aufmerksamkeit für die Thematik nicht mehr notwendig ist.
Unter Fragmentierung wird verstanden, dass von Lehrpersonen in ausgewählten Situationen – vor allem reaktiv-responsiv – auf die Thematik eingegangen wird, sie jedoch außerhalb dessen nicht als zentrale pädagogisch-professionelle Aufgabe gefasst wird. Unter Responsibilisierung versteht Klenk, dass Lehrpersonen die Thematisierung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt als integralen Bestandteil ihres pädagogischen Professionsverständnisses ansehen. Klenk arbeitet dabei auch heraus, dass biografische Erfahrungen und die Angst vor Diskriminierungserfahrungen häufig dazu fuhren, dass LGBTIQ*-Lehrkräfte das Thema nicht aus ihrer eigenen Perspektive ansprechen, geschweige denn von persönlichen Erfahrungen berichten.
Welche Unterstützung wünschen sich nun LGBTIQ*-Jugendliche? Für Jugendliche ist es zu Beginn ihrer Selbstfindung besonders wichtig, Informationen über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt zu bekommen. Dabei spielt die Schule eine entscheidende Rolle. Zudem wünschen sich die befragten Jugendlichen, dass Lehrpersonen bei Diskriminierung einschreiten. Rund die Hälfte der Befragten in der oben erwähnten Coming-out-Studie gibt an, dass Lehrpersonen in diskriminierenden Situationen, in denen sie anwesend waren, nicht eingegriffen haben. Hier gibt es also noch viel zu tun. Zudem ist der Wunsch von Jugendlichen nach einer unterstützenden Begleitung während des Coming-out- Prozesses groß und wird als wichtige Maßnahme beschrieben.
Wie kann diese Unterstützung von trans*, inter* und nicht-binaren Schüler:innen im Kontext der Schule konkret aussehen? In Gesprächen mit Schüler:innen haben sich einige Aspekte als zentral herausgestellt, wobei eine geeignete Toilettenregelung, die Benutzung des Wunschnamen und der richtigen Pronomen durch Lehrpersonen und Mitschüler:innen sowie die Vermittlung von Wissen über geschlechtliche Vielfalt im Unterricht zentrale Wünsche sind.
Aus den Erzählungen der Jugendlichen geht hervor, dass ihnen häufig die Aufgabe der Aufklärung zugeschoben wird, das heißt, dass sie aufgefordert werden, ihre Lehrpersonen oder Mitschüler:innen über geschlechtliche Vielfalt aufzuklären. Die Bereitschaft dazu darf nicht vorausgesetzt werden, Jugendliche können dadurch unfreiwillig in eine vor den Mitschüler:innen exponierte Position gebracht werden. Es ist die Aufgabe des Schulträgers und der Pädagog:innen, sich zu informieren und ein lernförderliches Klima für alle Schüler:innen zu schaffen.
Bei allen Maßnahmen ist es sinnvoll, mit den betroffenen Schüler:innen zu sprechen, welche konkreten Bedürfnisse sie haben, und nicht von eigenen Annahmen auszugehen. Wenn Lehrpersonen und Schulleitung Offenheit für die Bedarfe der Schüler:innen haben, können oft unaufwendige erste Lösungen gefunden werden. Bereits kleine Veränderungen im Sinne eines akzeptierenden Umgangs mit geschlechtlicher Vielfalt können eine große Auswirkung auf das Coming-out, das Wohlbefinden, den Schulerfolg und den Selbstwert von inter*, trans* und nicht-binaren Schüler:innen haben.