Wenn deutschsprachigen Medien über einen Suizid berichten, wird auf eine zurückhaltende Beschreibung geachtet und meist ein Hinweis auf eine Beratungsstelle angefügt. Dahinter steckt die Furcht vor Nachahmungstaten: Menschen in schwierigen Lebenslagen könnten durch den Bericht ebenfalls zu einer Selbsttötung angeregt werden. Dahinter wiederum stecken Beobachtungen bis hin zum sogenannten „Werther-Effekt“, der sich auf Suizide nach dem Literaturerfolg von „Die Leiden des jungen Werthers“ (1774) Johann Wolfgang von Goethes bezieht.
Im 20. Jahrhundert gab es hingegen Nachahmungstaten in den USA und auch in Deutschland vor allem nach ausführlichen Medienberichten über Raubzüge, Schulmassaker und Serienmorde: Täter und auch Täterinnen beriefen sich auf mediale Vorbilder und strebten nicht selten nach vergleichbarem „Ruhm“.
Berichterstattung im Vorfeld der Bundestagswahl
In einer harmloseren, aber gleichwohl bezeichnenden Form zeigte sich das Phänomen zuletzt auch bei sogenannten „Flitzern“, die mit theatralischen Gesten und später auch gerne nackt in die Live-Übertragungen von Fußballspielen stürmten. Auch hier zeigte sich: So lange die Inszenierungen medial übertragen wurden und die Medien die Personen bis zu ihrer Ergreifung mit Aufmerksamkeit belohnten, ahmten zunehmend meist männliche Personen die Aktionen nach. Erst als verantwortungsvolle Sportmedien begannen, zwar die Live-Störungen der Spiele durch die Kommentierenden unaufgeregt zu erläutern, dabei aber konsequent auf jedes Bild der Störer zu verzichten, ebbte das „Flitzer“-Phänomen wieder ab.
Angesichts dieser langen und breiten Erfahrungen war auch ich als Verfechter des deutschen, gemischten Mediensystems im Vorfeld der Bundestagswahl am 23. Februar 2025 negativ überrascht vom Zusammenbruch der Medienethik bis in den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk (ÖRR) hinein. Da die Wahl wegen des Zerfalls der Ampel-Koalition vorgezogen werden musste, waren die Emotionalisierung und die Angst vor einem Staatsversagen ohnehin bereits verstärkt. Nicht zuletzt hatte die „Welt am Sonntag“ am 28. Dezember 2024 einen Wahlaufruf des US-Rechtslibertären und „X“-Besitzers Elon Musk zugunsten der rechtsdualistischen AfD abgedruckt. Die Leiterin des Ressorts „Meinung“ der Zeitung, Eva Marie Kogel, hatte daraufhin – medienethisch völlig zu Recht – ihre Kündigung eingereicht.
Im Januar 2025 brach dann der CDU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz sein Versprechen, im deutschen Bundestag keine Mehrheiten mit der AfD zu suchen, und gewann Teile der FDP für entsprechende Anträge gegen Migranten (vgl. HK, März 2025, 4–5). Dieses Einreißen der antifaschistischen Brandmauer fand rund um den 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz statt. Das stellte auch mich vor eine Gewissensfrage und ließ mich zum ersten Mal seit über 30 Jahren aktiver CDU-Mitgliedschaft öffentlich dem „eigenen“ Spitzenkandidaten widersprechen.
In dieser ohnehin zugespitzten Situation hätten wir als Gebühren zahlende Demokratinnen und Demokraten von „unserem“ Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk eine medienethisch reflektierte Berichterstattung erwarten dürfen. Doch es kam anders: Gewalttaten migrantischer und vor allem muslimischer Verbrecher wurden mit drastischen Berichten und Sondersendungen hervorgehoben, wogegen deutsche Gewalttäter als „psychisch krank“ wegmoderiert wurden und zahlreiche häusliche Mordtaten an Frauen (Femizide) überhaupt nicht ins Fernsehen kamen.
Polarisierung zahlt sich nicht aus
Obwohl die Anzahl der Asylanträge bereits lange zuvor zu sinken begonnen hatte, entstand so der sachlich falsche Eindruck eines staatlichen Kontrollverlustes durch vor allem muslimische Zuwanderung. Die Themen, die laut Umfragen die meisten Deutschen viel stärker beschäftigten, wie der Wohnungsmangel, die Klimakrise oder auch die fossil finanzierten Terror- und Kriegszüge Russlands, des Iran und der Hamas traten dagegen medial in den Hintergrund.
Diese mediale Eskalation verschärft die Spaltung unserer eigentlich parlamentarischen Konsensdemokratie. Inzwischen kann dabei auch wissenschaftlich gesichert gesagt werden: Die Polarisierung zahlte sich weder für die demokratischen Parteien noch für die öffentlich-rechtlichen Medien aus.
Die Unionsparteien erlitten einen massiven Vertrauensverlust und verfehlten mit 28,5 Prozent der Stimmen ihr Mindest-Wahlziel von 30 Prozent. Die von Christian Lindner in die fatale Abstimmung mit der AfD geführte FDP stürzte von 11,4 Prozent auf nur noch 4,3 Prozent der Stimmen ab und verfehlte den Wiedereinzug in den Bundestag. Die AfD verdoppelte dagegen mit 20,8 Prozent ihr Ergebnis gegenüber 2021; die gerade erst verkleinerte Linkspartei steigerte sich auf 8,8 Prozent.
Die Öffentlich-Rechtlichen erlitten zudem einen massiven Vertrauensverlust, von dem sie sich seitdem nicht mehr erholt haben. Zugewanderte, weibliche, progressive Menschen, die nicht selten besonders großes Vertrauen in den aus Gebühren finanzierten Journalismus gesetzt hatten, wandten sich in großer Zahl ab. Gerade die Linkspartei verzeichnete dagegen mit einer Mischung aus digitaler Blasenbildung und Haustür-Wahlkampagnen einen Erfolg, der sich stark auf die wachsende Entfremdung der jungen Generation von den klassischen, sogenannten Qualitätsmedien bezog. Millionen Deutsche hatten ihre Themen und ihre Sorgen vor der drastischen Entsolidarisierung in den großen Nachrichtenmedien nicht mehr wiederfinden können. Viele verstanden: Medial befeuerter Rassismus schafft keinen Wohnraum und Islamfeindlichkeit trägt nicht zum Frieden bei.
Interessanterweise finden wir eine ausdrückliche Warnung vor der medialen Nachahmung als „Mimesis“ schon beim griechischen Philosophen Platon. In dessen berühmtem „Phaidros“-Dialog lässt er seinen (später durch eine demokratische Volksversammlung zum Tode verurteilten) Lehrer Sokrates sogar vor der Alphabetschrift warnen: „Von der Weisheit aber verleihst du deinen Schülern den Schein, nicht die Wahrheit.“
Heute formulieren wir etwa im Kontext von Medienbildung ähnlich: Nicht jede Medienquelle ist vertrauenswürdig. Digitale Likes und parasoziale Beziehungen mögen sich gut anfühlen, ersetzen aber keine echten Freundschaften. Diese entstehen erst durch reale Begegnungen.
Nicht zufällig wurde die platonische Mimesis-Kritik mit der Verbreitung der elektronischen Massenmedien und dann der Digitalisierung aktualisiert: Der französische Kulturanthropologe René Girard beschrieb die durch Radio und Fernsehen geprägte Menschheit als zwanghaft mimetisch. Alle ahmten demnach einander nach, strebten nach den gleichen Gütern und eskalierten Gewalt; allerdings sei im religiösen „Sündenbock“-Opfer und schließlich in Jesus Christus eine rituelle Ableitung und Auflösung der Gewaltspirale gelungen. Rechtslibertäre wie Peter Thiel berufen sich in ihren Absagen an die demokratische Staatsform auf Girard.
Nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 steigerte der Evolutionsbiologe Richard Dawkins die antike Mimetik zur sogenannten „Memetik“ aus Mimesis und Genetik. Wie Gene durch Fortpflanzung weitergegeben würden, so würden sich „Meme“ durch mediale Nachahmung verbreiten. Religionen galten ihm und seinen langjährigen Anhängerinnen wie der Psychologin Susan Blackmore als besonders schädliche und gefährliche „Memplexe“. Ein auf empirische Wissenschaft angelegtes „Journal of Memetics“ scheiterte zwar mangels überprüfbarer Empirie; Blackmore ließ angesichts empirischer Daten von der Rede von Religionen als „Virus of the Mind“ („Virus des Geistes“) ab. Dennoch etablierte sich die Bezeichnung „Memes“ für rasend schnell verbreitete Internetbotschaften sogar im allgemeinen Sprachgebrauch.
In der wissenschaftlichen Forschung zeigt sich die mediale Mimesis zwar als mächtig, aber nicht als zwangsläufig. Schon Platon setzte der Mimesis die anspruchsvollere Medienpraxis der originellen „Diegesis“ (Erzählung, Erörterung) entgegen und verstand sein eigenes Schriftwerk gerade nicht nur als Nachahmung. In Platons Überlieferungen gesteht Sokrates die Alphabet-Aufzeichnung jener Rede zu, „die mit Erkenntnis geschrieben wird in die Seele des Lernenden, die fähig ist“ – wie eben die verschriftlichten Dialoge des „Phaidros“ selbst.
Im deutschen Begriff „Schlag-Zeile“ steckt die Erkenntnis, dass mediale Berichterstattung Gewalt enthalten kann, aber nicht muss. Wer durch übertriebene Schlagzeilen um sich schlägt, erntet zwar kurzfristig Aufmerksamkeit, verliert aber auf Dauer an Glaubwürdigkeit.
Im Vorgriff auf die heutige Moral- und Evolutionspsychologie wusste die griechische Klassik den Menschen befähigt, über die Mimesis hinauszuwachsen: Das Kind unterliegt noch dem nachahmenden Streben nach den Gütern – dem „Epithymêtikon“, der Begierde. Engagierte Eltern lernen dessen unmittelbare Macht etwa bei Geschwisterneid und Fernsehwerbung heute noch kennen.
In der Jugend kommt das Streben nach Identität, Gruppenzugehörigkeit und vor allem Status hinzu – das Aufbrausende, der „Thymos“. Es ist demnach kein Zufall, dass wir nachahmende Gewalttaten vor allem (aber nicht ausschließlich) durch männliche Jugendliche und junge Erwachsene fürchten müssen. Auch etwa die Radikalisierung durch antisemitische und Gewalt verherrlichende Verschwörungsmythen zielt oft bewusst auf junge Menschen. Längst gelten nicht mehr Moscheen, sondern russisch-chinesische Medienanbieter wie „Tiktok“ und „Telegram“ als primäre Radikalisierungs- und Rekrutierungsorte. Nicht alle, aber doch möglichst viele Erwachsene sollten schließlich den Zustand der Vernunft, des „Logos“ erreichen. Platon selbst griff hierbei zum Bild eines weisen Wagenlenkers, der die Begierde und Empörung nicht etwa tötet, sondern vor seinen Wagen spannt und lenkt.
Das Streben nach dem Guten und dem Bösen aus jüdischer Perspektive
Zu einem ganz ähnlichen Befund kommt übrigens nicht erst das moderne Strafrecht (mit kindlicher Rechts-Unmündigkeit, Jugend- und Erwachsenenrecht), sondern auch das Judentum. Menschen werden demnach mit drei Bestandteilen der Seele geboren: Im kleinen Kind wird zunächst die reine Begierde analog zu den Tieren, die „Nephesch ha-Behemit“, sichtbar. Aber auch das Streben nach dem Bösen („Yetzer hara“) und dem Guten („Yetzer ha-tow“) entfaltet sich im Menschen. Mit der idealerweise bis zum Jugendalter erworbenen Fähigkeit zur Schriftlesung und Vernunft wird das Kind zum Sohn und zur Tochter des Gebotes („Bar/Bat Mitzwa“). Es soll damit gerade nicht mehr kritiklos andere nachahmen, sondern sich ganz bewusst für das gute Verhalten entscheiden.
Das Johannesevangelium schließlich identifiziert gleich in Johannes 1,1 den historischen Rabbi Jehoschua, griechisch Jesus, mit dem „Logos“, im Deutschen meist als „Wort“ übersetzt. Demnach greift Jesus durchaus die grundlegende Erfahrung auf, dass nicht alle Begierden befriedigt und nicht alles Unrecht thymotisch (nach dem platonischen Konzept „Thymos“ [Lebenskraft]) besiegt werden kann. Er bietet darüber hinaus ein Vorbild, indem er nicht die Gewaltherrscher seiner Zeit nachahmt, sondern genau umgekehrt zur Jüngerschaft im Dienst an „den Geringsten“ aufruft. Jesus gewann Follower und treue Freundinnen nicht durch das Versprechen von Reichtum, Macht und Rache, sondern durch Liebe, Glaube und Hoffnung. Sein Tod am römischen Kreuz wurde schon von den frühesten Christinnen und Christen als vorbildlicher Ausweg aus der Verzweiflung und Gewalt gedeutet. Wir Menschen hatten und haben eine Wahl.
Nach dem Schulmassaker von Winnenden 2009 äußerte mir gegenüber ein Journalist nach einem verstörenden Aufruf seines Chefredakteurs belastende Zweifel: „Blut und Tote steigern die Quote!“ Diese Aussage ist evolutions- und medienpsychologisch zunächst korrekt: Unsere Säugetiergehirne reagieren besonders stark auf Gefahrenreize. Durch brutale und plakative Berichterstattung können Medien nachweisbar die Aufmerksamkeit von Menschen zumindest kurzfristig gewinnen.
Doch dieser Effekt führt auch zu negativen Erfahrungen bis hin zu Traumata. Menschen beginnen, jene Medien zu meiden, die sie mit Negativreizen überfluten. Gerade auch nicht kommerzielle, von Engagierten selbst aufgebaute Medien des sogenannten „Fediversums“ wie die Mikroblogging-Plattform „Mastodon“ fordern von Nutzern gegenseitig ein, dass unangenehme, sexualisierte oder gar gewalthaltige Inhalte hinter einer Triggerwarnung verborgen und damit optional gestellt werden. Drastische Themen werden so gerade nicht verschwiegen, aber das Ausmaß der Bebilderungen, Schilderungen und also auch Emotionalisierungen bestimmen wir selbst. Wer gegen diese Vorschrift wiederholt verstößt und andere durch drastische Bilder und Texte zu bedrängen und zu manipulieren versucht, wird stummgeschaltet, blockiert oder ganz aus den eigenen Netzwerken ausgeschlossen („deföderiert“).
Medienethik bedeutet sowohl demokratische Verantwortung als auch Chance
Längst wenden sich zunehmend gerade junge Menschen von Nachrichtensendungen ab, die sie als belastend, polarisierend und ungerecht erfahren. Internetfreie Zeiten werden als „Detox“ (Entgiftung) erfahren und bezeichnet. Geschäftszahlen etwa des umstrittenen Medienportals „Nius“ zeigen, dass nur sehr wenige Menschen bereit sind, für einen anhaltenden Strom an drastischen Negativberichten auch noch zu bezahlen. Solche Konzernmedien müssen sich daher aus Werbeeinnahmen und Lobbygeldern finanzieren, was schnell zu weiteren Vertrauensverlusten führt. Mediale Mimesis triggert kurzfristig, aber sie führt kaum zu nachhaltigen Bindungen. Die meisten Menschen erwarten von den Medien mehr als Mimesis – und dieser Trend dürfte sich durch Schulfächer wie „Medienbildung“ zukünftig noch verstärken.
Am Ende seines zweibändigen Platon- und NS-kritischen Hauptwerkes „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ (1945) besann sich der sozialliberale Erkenntnistheoretiker und kritische Rationalist Karl Popper auf christliche Bezüge. Obwohl er viele Angehörige an den massenmörderischen Antisemitismus der Nationalsozialisten verloren hatte und gemeinsam mit seiner Frau nur knapp nach Neuseeland entkommen war, hielt er daran fest, dass wir nicht dazu verdammt sind, „wieder zu Raubtieren“ zu werden. Wir hätten vielmehr in jeder Generation, ja jedem Leben eine Wahl, die der Humanist mit einem religiösen Zentralsymbol verband: „Wir tragen das Kreuz dafür, dass wir Menschen sind.“
Nicht alle von uns Heutigen haben noch mit Religionen zu tun, aber alle umso mehr mit Medien. Nicht erst als Medien-Produzierende, sondern auch als Konsumierende tragen wir täglich eine Verantwortung dafür, ob wir die mimetische Nachahmung von Gewalt oder aber die dialogische Freiheit zum Miteinander befördern. Wo sogar große Chefredaktionen versagen, dürfen wir Medienethik als unsere demokratische Verantwortung und auch Chance begreifen. Denn auch Jesus war keineswegs nur Opfer, sondern auch Logos, auch Vernunft, auch Wort.