Mischa Mangels neuer Roman „Die Vergegenwärtigung“ (2025) beginnt mit dem Kuss eines Paars im Trauzimmer des Standesamts Schöneberg-Tempelhof und legt die Gedanken des Bräutigams offen: „dann sagte die Standesbeamtin, ein Kuss ist das i-Tüpfelchen auf der Trauung (…) und ich dachte, bis der Tod uns scheidet (…) vielleicht ist dies mein letzter Atemzug (…) ich will mit dir leben, bis ich sterbe, und ich dachte, auf jeden Fall einen Atemzug näher am Tod“. Damit wird die enorme emotionale Spannung eingefangen, die das ganze Buch durchzieht. Vor dem Hintergrund seiner Teilnahme an offenen Meditationsabenden in einer Kirche in Berlin-Friedrichshain sowie Retreats im buddhistischen Waldkloster Metta Vihara im Allgäu denkt der namenlose Protagonist über den Tod nach und überblendet seine Hochzeitserinnerungen mit Beschreibungen buddhistischer Sterblichkeitskontemplation. Statt den Tod zu verdrängen, sucht er das eigene Dasein bewusst im Angesicht der Vergänglichkeit zu sehen, nicht abzuschweifen, nicht in Vergangenheit und Zukunft, Sorgen oder Fantasien wegzudriften, sondern vielmehr die eigene Präsenz zu schärfen, den eigenen Geist im Hier und Jetzt zu halten, gegenwärtig zu sein, denn „eine andere Zeit als die Gegenwart haben wir nicht“.
„Ein zentrales Thema der Kontemplation eines verwesenden Leichnams ist es, sich klarzumachen, dass der Tod unausweichlich ist“, wird der deutschstämmige, in Sri Lanka ordinierte und promovierte Bhikku Anālayo zitiert, dessen Achtsamkeitsschulung mit einer dreifachen Vergegenwärtigung einsetzt: Wir müssen alles zurücklassen, was wir besitzen, einschließlich des Flechtwerks aus Erfahrungen, das mitschwingt, wenn wir „ich“ sagen, sowie den ganzen Kreis unserer Nächsten und Liebsten.
Inspiriert vom norwegischen Literaturnobelpreisträger Jon Fosse und der taiwanesisch-amerikanischen Poetin Victoria Chang verbindet der Berliner Autor mehrere Erzählstränge zu einem dichten und doch leicht zugänglichen Memento-mori-Gedankenstrom, der fast ohne Punkt auskommt. Manchmal stehen nur einzelne Wörter oder Zeilen auf der sonst weißen Seite. Der konkreten Poesie angenähert werden in mehreren Anläufen Sonne, Mond, Sterne, Himmel, Erde und das Gras aufgerufen, zum Teil Silbe für Silbe entschleunigt, woraus sich ganz am Schluss ein elementares Denkbild der Schöpfung ergibt. Das mehrfach repetierte Gras betont wie schon in der Bibel die Vergänglichkeit allen Lebens.
Die präzise Vergegenwärtigung, wie ein menschlicher Körper verwest, kontrastiert mit ausschnitthaften Lebensmomenten aus Kindheits-, Jugend- und Erwachsenentagen des Protagonisten sowie Details seines Hochzeitsfests: „gleich werde ich dich küssen, gleich (…) ich hätte nie gedacht, dass es so schön sein würde (…) diese Kraft, die es hat, dass wir beide hier sind, uns geküsst haben, vor all den anderen (…) dann küssten wir uns noch mal, und noch mal, alle klatschten, sie waren alle da“. Unvergesslich die brechende Stimme seiner Angetrauten beim Jawort: „das war so schön, diese Verletzlichkeit“. Doch stellt sich über dem Glück der gelungenen Feier noch in derselben Nacht Trauer ein, die durch abgerissene Freundschaften und bereits Verstorbene, die nicht bei dieser Feier des Lebens dabei sein konnten, verstärkt wird.
Bewusstsein schärfend spiegelt sich in Mischa Mangels zweitem Roman die Verschiebung von Religion zu Spiritualität, die zu einem nicht bloß alternativreligiösen Schlüsselwort der Gegenwartskultur geworden ist und stets die Frage nach dem guten, richtig gelebten Leben einschließt. Seit mehr als 100 Jahren ist der Buddhismus als geistig-religiöse Unterströmung im Westen präsent, doch vollzieht sich die Begegnung mit asiatischen Spiritualitätstraditionen eher leise. Übergänge zum Christlich-Kirchlichen sind so zahlreich wie rein säkular praktizierte Achtsamkeitsmeditationen. Unprätentiös, ohne überzuckerte Esoterik bringt Mangels tiefenresonantes Buch das Kunststück fertig, dem Nachdenken über Leben und Tod als übergroßen Herausforderungen für unser Verstehen eine stille Dankbarkeit und Freude über das Geschenk des Daseins abzugewinnen, um jeden Augenblick bewusst zu leben. Christoph Gellner