Die grundsätzliche Entscheidung ist schon vor fast 80 Jahren gefallen: Papst Pius XII. hat schon 1946 in einer Ansprache an neuernannte Kardinäle formuliert, das Subsidiaritätsprinzip gelte „auch für das Leben der Kirche, unbeschadet ihrer hierarchischen Struktur“. Bis heute ist das noch nicht einmal angegangen, geschweige denn ernsthaft umgesetzt worden – obwohl das Subsidiaritätsprinzip aus dem gesellschaftlich-politischen Bereich nicht wegzudenken ist. Könnte die Kirche nicht von der Gesellschaft „fremdlernen“?
Das Subsidiaritätsprinzip hat zwei Seiten: Die kritische Seite betont Recht und Pflicht der Einzelnen und kleineren Gruppen, die eigenen Angelegenheiten selbstbestimmt zu regeln und Eingriffe der größeren Einheiten abzuwehren. Bei der konstruktiven Seite geht es um die solidarische Unterstützung der Einzelnen und der sozialen Gruppen: Das Subsidiaritätsprinzip ist ein Kompetenzanerkennungs- und Freiheitsermöglichungsprinzip. Auch bei der Reform der Kirche müssten beide Seiten des Subsidiaritätsgrundsatzes in angemessener Weise berücksichtigt werden.
Oft wird Verantwortung und Eigenständigkeit der unteren Ebene als Gefahr interpretiert, diese kleineren Einheiten werden dann nur noch zum ausführenden Organ der Anordnungen „von oben“. Da hilft der Blick auf das Subsidiaritätsprinzip zu einem Perspektivwechsel – weg von der Konzentration allein auf das Amt hin zu Partizipation und Kooperation aus der Tauf- und Firmwürde jedes Christen, jeder Christin heraus, weg von einem Verständnis von Weltkirche als Top-down-Unternehmen hin zu einem Verständnis von Katholizität, das geprägt ist vom Verständnis einer Einheit in Vielfalt und vom katholischen „et … et“.
Gerade in Bezug auf das Verhältnis einzelner Gemeinden zu den (Groß-)Pfarreien oder der Pfarreien zur Bistumsleitung, aber auch der Teilkirchen gegenüber Rom geht es um die Entwicklung einer Ermöglichungskultur, deren Aufgabe darin zu sehen ist, Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass die unteren Ebenen ihre Ziele gut erreichen können. In einer solchen Konzeption wird viel freiheitliches Tun der „unteren“ Ebenen möglich, ohne dass die Verbindung zur nächsthöheren Ebene verlorengeht, aber auch, ohne dass jeder Selbststand beschnitten wird. Das bedeutet nicht einfach Dezentralisierung und auch nicht Arbeitsteilung, auch nicht simpel laissez faire für jeden Akteur, sondern ein engeres Ineinander-Verwoben-Sein der einzelnen Ebenen. Dabei erweist sich von der „oberen“ Ebene her das Zutrauen in die jeweiligen Akteure als unverzichtbar, dass sie ihre Freiheit in Verantwortung für das Ganze nutzen.
So betrachtet steht das Prinzip der Synodalität in untrennbarem Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsgrundsatz. Papst Franziskus hat sie für die Kirche als Weltkirche immer wieder als entscheidend hervorgehoben hat. Die Idee der Synodalität verschafft den jeweiligen Teilkirchen Eigenstand und Autonomie, ohne die Zugehörigkeit zu und Verbindung mit der Weltkirche zu vernachlässigen.
Das Subsidiaritätsprinzip ist also, allen Fehlinterpretationen zum Trotz, geeignet, Struktur auch in kirchlichen Kontexten zu prägen, Freiheit und Verantwortung, Einheit in Vielfalt zu ermöglichen und gerade so zur Realisierung von Katholizität im Vollsinn beizutragen.