Die Ausführungen in dieser und in
der nächsten Ausgabe der Zeitschrift
Gottesdienst wollen eine
Einführung in die neue Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder geben, die
zum 1. Advent 2018 in der Evangelischen
Kirche in Deutschland in Kraft getreten ist.
Eine solche Einführung sieht sich in diesem
Kontext vor das Problem der konfessionellen
Differenz gestellt, die erstens dazu führt, sich
auf das für den/die Leser/in Wesentliche zu
konzentrieren und alles andere beiseite zu
lassen. Dieser Konzentration steht die gegenläufige
Tendenz gegenüber, das an Inhalt,
Aufbau und Nomenklatur Fremde durch Erklärung
und Vergleich vertraut zu machen.
Daher erfolgt die Einführung in die Ordnung
gottesdienstlicher Texte und Lieder (kurz:
OTL) im Folgenden immer im Vergleich zur
katholischen Leseordnung für die Messfeier
(Ordo Lectionum Missae, kurz: OLM).
Evangelische und
katholische Ordnung
Sowohl der katholische OLM als auch die
evangelische OTL ordnen biblische Perikopen
entlang des Kirchenjahres, ihre Auswahl
und Präsentation beruhen allerdings
auf unterschiedlichen Prinzipien:
1. Der OLM gründet auf mindestens
fünf Prinzipien: (a) Die aus drei Lesungen
bestehende Leseordnung wird auf drei
Jahre hin angelegt und jedes Lesejahr wird von einem der synoptischen Evangelien bestimmt.
(b) Innerhalb der Lesejahre wird
das das Lesejahr bestimmende Evangelium
außerhalb der Festkreise in „ausgewählter
Bahnlesung“ angeordnet. (c) Auch die Perikopen
der Epistellesung beruhen außerhalb
der Festkreise auf dem Prinzip der
„ausgewählten Bahnlesung“, wobei kein
Zusammenhang zwischen Evangelientexten
und Episteltexten besteht. (d) Innerhalb
der Geprägten Zeiten herrscht das Prinzip
der „thematischen Abstimmung“ zwischen
den einzelnen Lesungen vor. (e) Die Perikopen
aus dem Alten Testament werden in
konsonanter Weise zu den Texten aus dem
Neuen Testament, insbesondere der Evangelientexte,
ausgewählt.
Die OTL ist dagegen eine Kombination
aus Lesetexten und Predigttexten (letztere
werden von der Kanzel in der Predigt selbst
gelesen), bei der zwar alle Texte gleichermaßen
auch Predigttexte sind, aber nur eine
bestimmte Auswahl davon für die regelmäßig
gelesenen Texte im Gottesdienst vorgesehen
sind. Dabei weisen Lektionar und Perikopenbuch
(siehe Randspalte links) zwar
ebenfalls drei Lesungen (AT, Epistel, Evangelium)
aus, die liturgische Praxis kennt in
der Regel aber nur zwei Lesungen. Für jeden
Sonn- und Festtag sind seit 1958 insgesamt
sechs Texte vorgesehen, wobei die Kombination
aus Lesetexten und Predigttexten dazu
führt, dass die aus der gesamten Ordnung
ausgewählten Lesetexte in einem jährlichen Zyklus gelesen werden, die Predigttexte dagegen
in einem sechsjährigen Zyklus zur
Grundlage einer Predigt dienen.
Die lutherische Tradition hat die beiden
sog. altkirchlichen Perikopen-Reihen aus
Epistel- und Evangelientexten bewahrt und
in der liturgischen Erneuerungsbewegung
zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder neu
zu den Orientierungsgrößen für das sog.
Proprium des jeweiligen Sonn- und Festtages
gemacht. Zu diesem Proprium zählen
außerdem noch der Wochenspruch, der
Wochenpsalm und das Wochenlied, die mit
den altkirchlichen Perikopen ein Gesamtbild
vorgegeben haben, zu dem die Predigttexte
ausgewählt worden sind. Hinzu kamen noch
eine sog. Marginal-Reihe und eine sog. Continua-
Reihe mit weiteren Predigttexten für
fast jeden Sonn- oder Festtag im Kirchenjahr.
Diese komplexe, aus mehreren Teilen
bestehende Ordnung ist in den Jahren 1978
und 2018 einer Revision unterzogen worden.
Mit „Proprium des Tages“ ist das eine
Auswahlprinzip der Perikopen benannt,
mit „Konsonanz“ trat mit der Revision 1978
ein weiteres hinzu. Diesem Prinzip zufolge
sollen nicht nur alle sechs Perikopen eines
Sonn- und Feiertages in einem Zusammenhang
mit dem Proprium des Tages, sondern
auch untereinander stehen. Inhaltlich bestimmt
werden diese beiden eher formalen
Prinzipien freilich von zwei theologischen
Auswahlkriterien: Während 1958 die Texte
so ausgewählt werden sollten, dass die
„Christuswirklichkeit in einer möglichst
großen Mannigfaltigkeit und Breite aus dem
neutestamentlichen und auch dem alttestamentlichen
Zeugnis“ (Perikopenbuch zur
Ordnung der Predigttexte, Berlin 1966) zum
Tragen kommt, sollten bei der Revision 1978
„die auszuwählenden Texte zwar nicht unbedingt
selbst die Dialektik von Gesetz und
Evangelium oder das Verhältnis von Indikativ
und Imperativ enthalten, aber dazu Veranlassung
geben, in der Predigt selbst beides,
jene Dialektik und dieses Verhältnis, zum
Ausdruck zu bringen“ (Alfred Niebergall).
2. Aufgrund der Beweglichkeit des Ostertermins
auf der einen und der Fixierung des
Weihnachtstermins auf der anderen Seite
braucht es im Kirchenjahr zwei Ausgleichsstellen.
Der OLM lässt den Weihnachtsfestkreis
am Sonntag nach dem 6. Januar mit der
Taufe Christi (zugleich 1. Sonntag im Jahreskreis)
enden. Der Osterfestkreis, der mit dem
Aschermittwoch beginnt, „schwimmt“ gewissermaßen
auf den Sonntagen im Jahreskreis
und verdrängt sie einmal mehr in die
eine oder in die andere Richtung. Die evangelische
Ordnung von 1978 kannte bisher
zwei „Dehnungsfugen“: die Sonntage in der
Epiphanias-Zeit (bis auf den letzten Sonntag
nach Epiphanias) und die letzten Sonntage in
der Trinitatis-Zeit (bis auf die letzten Sonntage
im Kirchenjahr).
Mit diesen beiden Punkten sind im
Wesentlichen Aufbau und Prinzipien der
bisherigen Lese- und Predigttextordnung
in der evangelischen Kirche benannt, an
denen nun auch die Revision angesetzt hat.
Ein transparenter
Revisionsprozess
Nach der Beschlussfassung zur Durchführung
einer Revision in den Jahren 2008 und
2009 ist im Jahr 2010 der Arbeitsprozess
mit einer empirischen Studie einerseits
und andererseits mit einer wissenschaftlichen
Fachtagung eingeläutet worden, in
denen getrennt und doch einhellig der Bedarf
der Revision erhoben worden ist. Daraufhin
sind konzeptionelle Grundlinien
für eine „moderate Revision“ vereinbart
worden, an denen sich die Arbeitsgruppe
orientieren sollte. Nach zwei Einblicken in
die Erarbeitung ist Anfang 2014 ein Entwurf
zur Erprobung an alle Landeskirchen gegangen.
Innerhalb eines Kirchenjahres konnten
Rückmeldungen abgegeben werden, die in
den einzelnen Landeskirchen zu Stellungnahmen
verarbeitet worden sind. Aufgrund
dieser Stellungnahmen sind dann noch
einmal Veränderungen am Entwurf vorgenommen
worden, der dann schließlich zum
1. Advent 2018 als Ordnung gottesdienstlicher
Texte und Lieder eingeführt worden ist.
Welche konkreten Änderungen die Perikopenrevision
für die evangelische Leseordnung
gebracht hat, erfahren Sie in der
nächsten Ausgabe dieser Zeitschrift.