Karl Rahner zu vermissenEine politisch-theologische Erinnerung aus Anlass seines 40. Todestages

Kurz vor seinem Tod 2019 wollte Johann Baptist Metz, der wohl bekannteste Schüler von Karl Rahner, seinem Lehrer eine letzte Publikation widmen. Ein Blick in das Textkonvolut zeigt: 40 Jahre nach seinem Tod muss man mit Rahner über Rahner hinaus gehen – und man darf ihn zugleich vermissen.

Karl Rahner (links) und Johann Baptist Metz (rechts)
© Lambiotte, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

In diesem Text werden Sie nichts Neues über Karl Rahner erfahren. Zumindest nichts, was nicht schon in zahlreichen Texten aus Anlass seines 120. Geburtstages rund um den 5. März hier wie andernorts gesagt und gewürdigt wurde. Während vor rund vier Wochen das Eingedenken der enormen theologischen Leistungen Rahners als Konzilstheologe, als Ordensmann, als große theologische Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts im Fokus stand, soll hier das Vermissen Thema sein. Denn das Vermissen trägt – anders als die erinnernde, gleichsam historisierend einordnende und damit die Sache ad acta legende Würdigung – noch einen Glutkern Unerledigtes, noch einen Funken Unabgegoltenes in sich.

Ich selber habe Rahner nie persönlich kennengelernt. Wenn ich hier vom Vermissen schreibe, so ist dieses daher ein angeeignetes Vermissen aus zweiter Hand. Artikuliert wurde es in einem Textkonvolut, das mir der vielleicht prominenteste Schüler Karl Rahners, Johann Baptist Metz, wenige Jahre vor seinem eigenen Tod 2019 übereignete. Lange schon hatte der "Vater der Neuen Politischen Theologie" seinen eigenen theologisch-schöpferischen Zenit überschritten; zuletzt arbeitete er noch mit an seinen von Johann Reikerstorfer herausgegebenen Gesammelten Schriften, erschienen bei Herder. Eines aber wollte er noch publizieren: ein kleines, Karl Rahner gewidmetes Büchlein. Es sollten dies keine neuen Texte sein, sondern eine sanft überarbeitete Zusammenstellung älterer Texte – in Würdigung der Lebensleistung seines Lehrers, aber mehr noch in der Intention, einer zusehends sich gegen die Welt, die Geschichte abdichtenden, von Metz als neo-scholastisch wahrgenommenen, mutlosen Theologie und Kirche mit Rahner Mut zuzusprechen.

In die Zukunft weisendes Vermissen

Über die Planungsphase und eine Anordnung der vorgesehenen Texte kam das Projekt – leider – nie hinaus. Es sollte neben einer biografischen Hinführung in seinem Hauptteil acht Texte enthalten: Vier "Geburtstagsbriefe" von Metz an Rahner (zu dessen 60., 65., 70. und 80. Geburtstag), drei Nachrufe, die im Abstand von jeweils fünf und 10 Jahren nach Rahners Tod erschienen sind, sowie schließlich als Conclusio den Text "Unterwegs zu einer nachidealistischen Theologie" – angeordnet im Büchlein als eine Art Höhepunkt und Vermächtnis "auf dem Weg zu einem neuen Paradigma im Geiste Rahners".

Liest man die Texte heute, mit dem Abstand von teils 50 Jahren, bleibt vieles notwendigerweise unverständlich, bezieht es sich doch auf längst erledigte theologische Debatten und Scharmützel oder atmet es doch den Geist eines postkonziliaren "Aufbruchs aus dem Weltanschauungsghetto des Katholizismus", so Metz bei Rahners Antrittsvorlesung in Münster 1968, der heute weitgehend erloschen und erlahmt scheint. Auch spricht Metz in einer leichtfüßigen Selbstverständlichkeit von der Kirchlichkeit der Theologie und der Einheit von Glauben und Theologie, die heute im hoch ausdifferenzierten theologisch-akademischen Diskurs nurmehr für Kopfschütteln sorgen dürfte.

Damit aber ist bereits ein Punkt berührt, der für Metz ein in die Zukunft weisendes Vermissen Rahners beschreibt: Es ist dies die Einheit von Biografie und Theologie, die er bei Rahner in besonderer Weise ausgeprägt sieht. "Beim ihm waren Werk und Person, Leben und Theologie in einer nahtlosen Weise eins: Alles war Werk, und das Werk war eine einzige Gestikulation christlicher Existenz in unserer spätmodernen Zeit." An anderer Stelle nannte Metz das Rahnersche Unternehmen eine "lebensgeschichtliche Dogmatik" oder auch eine "mystische Biografie", wie sie wahrhaften Lehrern der Theologie, aber mehr noch "Vätern im Glauben" eignet:

"Rahners Theologie ist die lebensgeschichtlich angelegte Dogmatik des einfachen, ich wage zu sagen: des durchschnittlichen Christenmenschen – die mystische Biographie eines undramatischen Lebens, ohne große Wandlungen und Wendungen, ohne besondere Erleuchtungen und Konversionen. (…) Seine biographische Dogmatik ist die eines ausgesprochen antibiographischen Typs."

Dabei blieb Rahner laut Metz zeitlebens selber "heimatlos" und zugleich von großer Sehnsucht nach Heimat gekennzeichnet. Auch dies eine Qualität, die man heute vermissen darf, entspringe dieser "wehrlosen Heimatlosigkeit" doch zugleich eine besondere Fähigkeit, zuzuhören, solidarisch zu sein mit dem geheimnisleeren Menschen der Gegenwart, so Metz, der "immer unfähiger wird zu trauern und unfähig darum, sich trösten zu lassen; immer unfähiger, sich zu erinnern und darum manipulierbarer als je; glücklich am Ende nur im Sinne eines sehnsuchts- und leidensfreien Glücks, das heißt aber eines wunschlosen Unglücks."

Rettung durch Kritik

Vermissen darf man laut Metz mit Rahner auch dessen Grundgebärde der Rettung durch Kritik: "Seine leidenschaftlichste Kritik ist am Ende immer rettende Kritik". Kritik üben kann jeder – den "ersten Mut" des Nonkonformismus aufbringen, wider den Strom schwimmen ebenso. Was es jedoch brauche und wofür der Vorwärtsverteidiger Rahner einstand, sei seine spezifische Melange aus Kritik und Loyalität, sein "zweiter Mut", selbst dann noch für das Reformerische einzustehen, wo es auf vehemente Widerstände der Hierarchie stieß. Vielen Reformern ging der Atem aus, ihnen sank der erste Mut. Alles, so Metz in einem Brief 1969 an Rahner, komme nun darauf an, "dass die Reformer in dieser Situation den zweiten Mut aufbringen: den Mut, demokratisch zu sein, zur Stange zu halten, wo ihre Sache nun – endlich! – Sache des Kirchenvolkes zu werden beginnt."

Wo nämlich Öffentlichkeit zu einem "Medium theologischer Wahrheitsfindung" wird, da kann es am Ende gelingen, dass Wahrheit ins Praktische gewendet wird. Oder konkreter und geradezu prophetisch gewendet im selben, 55 Jahre alten Brief:

"Wenn nun gegenwärtig in der Auffassung der Ämter und Autoritäten in der Kirche von vornherein entschiedener auf das Ganze dieser Kirche als des Gottesvolkes geblickt und von hier aus Sinnfunktion der kirchlichen Leistungsaufgaben verstanden wird, dann darf dies meines Erachtens nicht vorschnell als Ausdruck eines ungeläuterten, von außen modisch aufgedrängten Demokratisierungswillens in der Kirche verdächtig werden; dann muß dieser Prozeß zunächst als die konsequente Bewahrheitung einer theologischen Aussage des Konzils selbst verstanden und gewürdigt werden."

Festhalten an der Wahrheitsfähigkeit des Gottesvolkes

Rahners "zweiter Mut", den es heute zu vermissen gilt, ist laut Metz also jener Mut, ernst zu machen mit der Wahrheits- und Theologiefähigkeit des Gottesvolkes. Nicht geschmäcklerisch oder anbiedernd, sondern zuhörend und unterstützend.

Auch wenn diese Texte von einer gewissen Naivität im Verständnis von Öffentlichkeit geprägt sind, so bleibt doch der normative Kern erhalten: Öffentlichkeit – so be-, ja, zersetzt sie auch scheinen mag – bleibt ein Forum, hinter das sich auch die theologische Wahrheitsfrage nicht zurückziehen kann. Gewiss, die Frage bleibt, wie die Lehrautorität der Glaubenden ins Wort zu bringen ist, wie die theologische Ehre des einfachen Menschen zu Ehren kommt. Diese Frage, schreibt Metz in einem Nachruf, habe er Rahner immer wieder gestellt. Rahner wollte sie in einem letzten theologischen Beitrag angehen. "Sein Tod trat dazwischen", schrieb Metz. Eine offene Frage bis heute.

Rahner hat es als Teil seines "Kampfes um die theologische Ehre des Menschen" verstanden, die Realität des Leidens nicht soteriologisch aufzufangen, es auch nicht als Folge menschlicher Freiheit wegzuerklären oder gar christologisch in das Leiden des Gottesknechtes hinein zu verlegen und so zu relativieren.

Zu vermissen ist laut Metz bis heute zudem Rahners vorsichtiges Tasten in der alles ins Wanken bringenden Theodizeefrage. Rahner hat vergleichsweise wenig zu dieser Frage publiziert – ihm sei aber die vom sterbenden Romano Guardini überlieferte Frage "Warum, Gott, zum Heil die fürchterlichen Umwege, das Leid der Unschuldigen, die Schuld?" stets als ebenso bedrängend und beängstigend erschienen. Rahner hat es als Teil seines "Kampfes um die theologische Ehre des Menschen" verstanden, die Realität des Leidens nicht soteriologisch aufzufangen, es auch nicht als Folge menschlicher Freiheit wegzuerklären oder gar christologisch in das Leiden des Gottesknechtes hinein zu verlegen und so zu relativieren. "Um aus meinem Dreck und Schlamassel und meiner Verzweiflung herauszukommen, nützt es mir doch nichts, wenn es Gott genauso dreckig geht", so Rahners kecke Formulierung.

Rahner hielt die Leidensfrage offen und weigerte sich, sie voreilig zu beruhigen. Ein bleibender Stachel auch heute, so Metz, wo doch auf das Leiden gern mit der mitleidenden Liebe Gottes geantwortet werde. "Was aber ist das eigentlich für ein Leiden, das letztlich gar nicht verlieren, gar nicht scheitern kann, das nicht im Horizont des drohenden Untergangs steht?" Dagegen verwahrten sich Rahner wie Metz.

Mit Rahner über Rahner hinaus

Mit Rahner über Rahner hinaus – das bedeutete für Metz in seiner eigenen Theologie, sich von Rahners "transzendental-idealistischen Paradigma" zu lösen und einen Schritt weiter zu gehen – hin zu einer nachidealistischen Theologie, die er in der Neuen Politischen Theologie entfaltet sah. Gleichwohl dabei immer von Rahner lernend wie von einem "Klassiker der Theologie, von dem man auch noch lernend empfängt, wenn man ihnen widersprechen zu müssen meint".

Rahners Theologie komme das große Verdienst zu, gerade in der Nachkonzilszeit vorangeschritten zu sein und "neue Formen christlichen und kirchlichen Lebens" aufgezeigt zu haben. Inzwischen jedoch habe sich das Rad der Geschichte weitergedreht – neue Herausforderungen zeichneten sich ab, auf die die Rahnersche Theologie teils mit Sprachlosigkeit reagiere, führt Metz im letzten geplanten Text des nicht erschienenen Büchleins aus. Dies sei die Herausforderung durch ein wahrhaftes Ernstnehmen der Geschichte; in Folge die Herausforderung, die für Metz mit dem Namen Auschwitz auch vor der Theologie und der Rede von Gott nicht Halt macht; und schließlich die Herausforderung einer "polyzentrischen Welt" und dem gleichzeitigen "Ende des Eurozentrismus".

Auf manche dieser Herausforderungen antwortete Metz im Laufe seiner eigenen theologischen Biografie mit einer Hingabe, die auch ihn für viele zu einem Vater des Glaubens werden ließ. Ob Versuche zum Ineinander von Leidens- und Heilsgeschichte, zur apokalyptischen Verschärfung der Zeit unter biblischer Perspektive, ob Einsprüche gegen jede Form neo-traditionalistischer Versuchungen und zuletzt sein Beharren auf einer der "memoria passionis" geschuldeten Autorität der Leidenden: All dies, bei Metz subsumiert unter dem Begriff der Neuen Politischen Theologie, bleibt Karl Rahner verdankt.

Man darf Rahner daher auch heute und selbst dort, wo er fremd wurde, noch vermissen. Und vielleicht ergibt sich noch einmal eine Gelegenheit, das kleine Rahner-Büchlein doch noch herauszugeben. Und damit zugleich seines Schülers Johann Baptist Metz, dessen Todestag sich heuer zum fünften Mal jährt, zu gedenken. Nein, ihn zu vermissen.

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