Lange war es erwartet worden, das erste Schreiben von Papst Leo XIV. Jetzt liegt es vor. Bei dem Schreiben mit dem Titel "Dilexi te – Ich habe dich geliebt" handelt sich um eine "Apostolische Exhortation" – ein literarisches Genus, das in der Hierarchie päpstlicher Dokumente nach Konstitutionen und Enzykliken die dritthöchste Rangstufe einnimmt. Der Titel des Mahnschreibens nimmt mit der Liebe die dichteste Form der Beziehung auf, die es zwischen Gott und Mensch gibt: die Liebe. Speziell geht es um die "Liebe zu den Armen". Der Titel spielt auf die letzte Enzyklika von Papst Franziskus Dilexit nos "über die menschliche und göttliche Liebe des Herzens Jesu" aus dem Jahr 2024 an. Leo greift das unvollendete Erbe seines Vorgängers auf und führt es mit eigenen Akzenten weiter.
Armut hat viele Gesichter. Sie kann materielle Not, soziale Ausgrenzung, digitale Stigmatisierung, Krankheit oder Vereinsamung im Alter bedeuten. Statt apathisch mit geschlossenen Augen am vielgestaltigen Leid vorbeizugehen, ist es der Kirche aufgetragen, an der Seite der Armen zu stehen und ihre Not zu lindern. Das wird von Leo – systematisch betrachtet – unter mindestens fünf Gesichtspunkten entfaltet.
Armut in Heiliger Schrift und kirchlicher Tradition
Zunächst wird (1) israeltheologisch betont, dass Gott den Schrei des armen Volkes in Ägypten "hörte", dass er das Elend der Unterdrückten "sah". Gott bleibt nicht apathisch, er lässt sich von der Not affizieren – und handelt. Das steht am Beginn des Exodus-Narrativs, das an die wunderbare Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten erinnert und für Juden und Christen gleichermaßen zentral ist. Auch die Propheten fordern die besondere Aufmerksamkeit für die Armen und üben Sozialkritik, wenn die Reichen faul in ihren Sesseln liegen, während die Armen ausgebeutet werden.
Leo XIV. geht weiter und erinnert (2) christologisch an den Weg Jesu. Die Wehrlosigkeit in der Krippe, die Herkunft aus einer armen Handwerkerfamilie, die Nähe zu den Sündern und Armen – die Sinnrichtung des Lebens und Sterbens Jesu weist insgesamt nicht nach oben, sondern nach unten: "Er, der reich war, ist arm geworden, damit die Armen reich werden", zitiert Leo den Apostel Paulus. Dieser Weg der Entäußerung ist ein Akt der Barmherzigkeit mit den Armen, eine Manifestation der Solidarität mit den Entrechteten.
Die Gemeinschaft mit Jesus aber kann nicht folgenlos sein, aus ihr ergeben sich (3) ethische Weisungen. Das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe, das Jesus der Tora entnimmt, ist hier leitend. Der karitative Einsatz für die Leidenden und Entrechteten ist Ausdruck und Bewährung der Gottesliebe.
Das tangiert (4) das Verständnis der Kirche: Wenn Gläubige, die im Wohlstand leben, ihre Brüder und Schwestern in Armut ignorieren, dann gibt es Risse in der kirchlichen Communio. Man kann nicht die memoria passionis in Gestalt des gebrochenen Brotes feiern und die Leidenden draußen vergessen. Das widerspricht dem Evangelium.
Schließlich ist die Liebe zu den Armen (5) eschatologisch virulent. Die Gerichtsparabel im Matthäus-Evangelium zeigt, dass das Verhalten gegenüber den Notleidenden ein Spiegel der Christus-Beziehung ist, der sich mit ihnen identifiziert hat. "Armut ist keine soziologische Kategorie, sondern Fleisch Christi." Auf die Werke der Barmherzigkeit aber kommt es am Ende an. Christus ist nicht die Inkarnation der Gleichgültigkeit, sondern der Liebe, die am Ende der Tage jeden befragen wird, wie er sich gegenüber den Armen verhalten hat.
Leo unterstreicht das, was Kritiker des Christentums notorisch unterbelichten: die Kultur der Gastfreundschaft, die Pflege der Kranken, die Sorge um die Armen, der Dienst an den Gefangenen und die Unterweisung der Bedürftigen durch Ordensgemeinschaften.
Leo XIV. zeigt, dass der Weg der Kirche in den vergangenen 2000 Jahren ein Weg mit den Armen war. Er lässt den Reichtum der biblischen Überlieferung sprechen und bietet das vielstimmige Zeugnis der Kirchenväter auf. Augustinus, der im Armen ein "Sakrament der Gegenwart Christi" sieht, wird ebenso genannt wie Johannes Chrysostomos, der den "Luxus der Reichen" anprangert und in der Metropole Konstantinopel soziale Gerechtigkeit predigt. Leo unterstreicht das, was Kritiker des Christentums notorisch unterbelichten: die Kultur der Gastfreundschaft, die Pflege der Kranken, die Sorge um die Armen, der Dienst an den Gefangenen und die Unterweisung der Bedürftigen durch Ordensgemeinschaften. Mutter Teresa, die auf den Straßen Kalkuttas Kranke und Sterbende versorgt hat, erscheint als leuchtendes Vorbild.
Die Option für die Armen
Die "vorrangige Option für die Armen" – ein Motiv, das aus der lateinamerikanischen Bischofskonferenz stammt – wird von Leo bejaht, ohne dass er eine kritische Auseinandersetzung mit der Marx-Rezeption der Befreiungstheologie noch für nötig hielte, die in den 1980er Jahren in Rom für einige Unruhe gesorgt hat. Die kirchliche Soziallehre hat im 19. Jahrhundert die prekäre Situation des Industrieproletariats thematisiert, sie ist im 20. Jahrhundert kontinuierlich fortgeschrieben worden. Im Blick auf die wachsende Schere zwischen Arm und Reich greift Leo die von vielen Ökonomen als unterkomplex eingestufte Rede von der "Diktatur einer Wirtschaft, die tötet" (Franziskus) auf.
Das Schreiben, das in den Schlusspassagen sehr viel Papst Franziskus zitiert, greift Anliegen der Befreiungstheologie auf, die den "Schrei der Armen" hörbar machen und Praktiken der Solidarität anstoßen will.
Das Schreiben, das in den Schlusspassagen sehr viel Papst Franziskus zitiert, greift Anliegen der Befreiungstheologie auf, die den "Schrei der Armen" hörbar machen und Praktiken der Solidarität anstoßen will. Durch die Feststellung, dass die Armen Subjekte sind, ist auch eine Nähe zur neuen politischen Theologie gegeben, die das Prinzip der "Subjektwerdung aller vor Gott" gegen Formen einer systematischen Entwürdigung geltend macht und für eine "Mystik der offenen Augen" geworben hat.
Eine Leerstelle
Bemerkenswert ist eine Leerstelle. Der aus dem Augustinerorden stammende Leo geht nicht auf die Denkfigur des "Ordo amoris" ein, die der heilige Augustinus entwickelt hat. Dieses Konzept von Liebe, das unterschiedliche Grade der Zuwendung kennt und von manchen als realitätsgerechtere Alternative zum christlichen Universalismus empfohlen wird, kommt in "Dilexi te" nicht vor. Vielleicht auch deshalb, weil es zur theologischen Rechtfertigung einer harten Migrationspolitik herangezogen wird, die Migranten von der Straße weg verhaftet, sie in Sammellager verfrachtet, um sie dann abzuschieben.
Als Kardinal hatte Robert Prevost dem Vize-Präsidenten der USA, JD Vance, klar widersprochen, der die Ausweisung illegaler Einwanderer unter Rückgriff auf das Konzept des "Ordo Amoris" verteidigt hat. Als Brückenbauer und Papst hat Leo der Versuchung widerstanden, sich als Anti-Trump zu positionieren. Allerdings hat er mit Franziskus betont, dass sich die Antwort auf die Migration "in vier Verben zusammenfassen lässt: aufnehmen, schützen, fördern und integrieren". Das ist deutlich. Leos Mahnung zur "Liebe zu den Armen" wird man daher nicht überhören können. In den USA nicht und hierzulande auch nicht.