Beim Betreten der Kirche Santa Maria dell'Anima, die sich direkt neben der Piazza Navona befindet, erfährt man einen großen Kontrast. Hinter der schlichten Fassade in Renaissancestil verbirgt sich ein durch goldene Atmosphäre bezaubernder Innenraum. Der Blick wird sofort von dem in lebendigen Farben bemalten Altarbild, das die Gottesmutter Maria mit dem Jesuskind und dem heiligen Joseph sowie weiteren Heiligen darstellt, angezogen.
An diesem pulsierenden Ort in der römischen Innenstadt sind Schicksale vieler Jahrhunderte aus dem deutschsprachigen Raum in den Inschriften verewigt.
Wer jedoch das Privileg hat, mit dem Epigrafiker Dr. Eberhard J. Nikitsch in der Kirche zu verweilen, für den werden die Inschriften lebendig, welche die Kirche an zahlreichen Stellen schmücken. Seit mehr als einem Jahrzehnt widmet sich der wissenschaftliche Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften und Literatur Mainz der Entschlüsselung der Inschriften in der römischen "Anima". Die ersten Ergebnisse seiner Arbeit sind 2014 in dem Band mit dem Titel Das Heilige Römische Reich an der Piazza Navona. Santa Maria dell’Anima in Rom im Spiegel ihrer Inschriften aus Spätmittelalter und Früher Neuzeit veröffentlicht worden, die Forschungen gehen jedoch weiter. Mit ansteckender Leidenschaft lässt uns Herr Nikitsch an seinen Entdeckungen teilhaben.
An diesem pulsierenden Ort in der römischen Innenstadt sind Schicksale vieler Jahrhunderte aus dem deutschsprachigen Raum in den Inschriften verewigt und werden nun zum Leben erweckt. Im 15. Jahrhundert als kleines Hospital mit einer Kapelle von einem niederländischen Ehepaar gegründet, wird Santa Maria dell'Anima bald das kirchliche und politische Zentrum des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in der Ewigen Stadt. Die besten Leute aus dem deutschsprachigen Raum kommen hierher, um an der Kurie zu wirken. Dank deren großzügigen Stiftungen wurde im 15. Jahrhundert zunächst eine gotische, dann an gleicher Stelle im 16. Jahrhundert eine neue Kirche gebaut. Die innere Ausstattung der Kirche ist im Laufe der Zeit gewachsen, Kapellen und prächtige wie auch einfache Grabdenkmäler bereichern den Raum.
So finden die unterschiedlichsten Persönlichkeiten ihre letzten Ruhestätten im selben Kirchenraum: etwa ein Hauptmann namens Melchior von Frundsberg, der an dem berüchtigten Sacco di Roma, der Plünderung Roms am 6. Mai 1527, beteiligt war und einige Monate später an Pest verstarb; ein paar Schritte weiter hängt das Epitaph des Erzbischofs von Uppsala, Olaus Magnus († 1557), der die Visionen der heiligen Brigitta von Schweden herausgab.
Ein Hamburger in Rom
Auf eines der Grabdenkmäler macht Herr Nikitsch besonders aufmerksam. Links neben dem Altarraum trifft man auf ein aus weißem, gelbem und schwarzem Marmor gestaltetes Epitaph, dessen ausführliche Inschrift an das beeindruckende Schicksal eines ursprünglich protestantischen Gelehrten des 17. Jahrhunderts, Lucas Holste, genannt Holstensius, erinnert. Der gebürtige Hamburger, bewandert in den klassischen Sprachen, ferner in der Philosophie, zieht auf Fußwanderungen durch ganz Europa, bis er in Paris auf Kardinal Francesco Barberini, den Neffen des damaligen Papstes Urban VIII., trifft und katholisch wird. Holste übernimmt die Leitung der Bibliothek seines Kardinalfreundes, der Barberiniana. Bald wird er durch Papst Innozenz X. auch mit der Leitung der Vatikanischen Bibliothek beauftragt. Ihm wird die Ehre zuteil, die zum katholischen Glauben konvertierte Christina, Königin von Schweden, nach Rom zu begleiten, die ihrerseits ihre Bibliothek in die Obhut des gebildeten deutschen Humanisten gibt. Der mit drei Bibliotheken betraute Holste, der mit den prominenten Persönlichkeiten seiner Zeit in Kontakt stand, war zudem Provisor der Anima.
Das Grabmal des humanistischen Gelehrten Lucas Holste in der Kirche Santa Maria dell'Anima in Rom
Privat
Unter den vielfältigen Details seines Grabmals fällt die Mitte auf: In einem Relief im kreisförmigen Format sieht man eine Inschrift in griechischen Buchstaben, die übersetzt so heißt: "Den Honig aus dem Felsen saugend". Die drei allegorischen Figuren, welche die Inschrift umgeben, sind die drei Wissenschaften, die das Leben des Lucas Holste prägten: die Geografie mit einer Kugel, die Philosophie mit der Sonne und die Kirchengeschichte auf einem Kirchengebäude sitzend. Weltzugewandtheit und Weltdeutung fließen aus der Erkundung des (geografischen) Raums und dem Studium der (geschichtlichen) Zeit wie aus derer philosophischer Durchdringung.
Vor einer kurzen Inschrift in der Kapelle rechts neben dem Eingang, die übersetzt "Geweiht dem heiligen Benno, Bischof von Meißen" heißt, erzählt Herr Nikitsch die Geschichte eines frühmittelalterlichen sächsischen Heiligen, dessen Verehrung in der Reformationszeit aus dem protestantisch werdenden Sachsen nach München verlegt wurde und von dem erst vor Kurzem Reliquien nach Rom in die Anima gelangt sind. Benno, der wundertätige Bischof von Meißen im 11. Jahrhundert, wurde ausgerechnet von Papst Hadrian VI. im 16. Jahrhundert heiliggesprochen, von jenem Papst, dessen Grabinschrift wohl die berühmteste in der Anima ist: "Proh dolor! Quantum refert in quae tempora vel optimi cujusque virtus incidat! – Ach, wieviel hängt doch davon ab, in welche Zeit auch des besten Mannes Wirken fällt!"
So treffen sich manche Schicksalswege in dieser Kapelle, wie auch in der gesamten Kirche, die einlädt, über Lebenswege und Geschichte, Fügungen und Vorsehung, Vergängliches und Bleibendes nachzusinnen.