Will man das Zusammenspiel von göttlicher und menschlicher Freiheit in dramatischen Kategorien deuten, könnte man sagen: Gott ist der Autor, der Heilige Geist der Regisseur und Jesus Christus der Protagonist des Dramas, die Welt aber die Bühne und wir Menschen nicht die Zuschauer, sondern die Mitspielenden.

I.

"Vorsehung" ist ein Thema, dem der alte Briest seine Lieblingswendung kaum versagt hätte: "ein weites Feld". Und "göttliche Providenz" – ein Begriff, den manche angesichts der Katastrophen in Natur, Geschichte und Gegenwart wohl aus dem Sprachschatz streichen würden. Ist Gott, wenn es ihn denn gibt, die Geschichte nicht längst entglitten? Wollte man das Auf und Ab der historischen Ereignisse einem Autor zuschreiben, könnte man mit Imre Kertész vom "Tagebuch eines Wahnsinnigen" sprechen. Wer aber wollte es wagen, in konkreten Ereignissen den Finger Gottes zu identifizieren oder im ganz normalen Chaos eine göttliche Ordnung festzumachen?

II.

Beginnen wir mit einer sprachlichen Beobachtung: Vorsehung hat mit "sehen", die Rede von der göttlichen Providenz mit videre zu tun. Das Wort verweist in die optische Sphäre. Sehen, Gesehenwerden, Sich-sehen-lassen-können, Ansehen finden – wer wollte sagen, dass das nichts mit uns zu tun hätte? Schon Kinder suchen den Blick der Erwachsenen, wenn sie etwas unternehmen: "Mama, schau mal, Papa sieh her." Auch wissen wir, dass wir selbst die Blicke der anderen suchen, dass wir gesehen werden wollen. Die einen mehr, die anderen weniger. Descartes' berühmte Selbstvergewisserungsformel Cogito ergo sum könnte man daher umschreiben: Videor ergo sum. "Ich werde gesehen, also bin ich." Das gilt nicht nur für den Kampf um Anerkennung auf den realen Bühnen der Welt, sondern neuerdings auch auf den digitalen Plattformen. Wer früh erfährt, dass er gesehen und sein Weg von anderen wohlwollend begleitet wird, braucht um das knappe Gut der Aufmerksamkeit vielleicht weniger zu kämpfen. Er ist angesehen. Gewiss, der abschätzige Blick der andern kann ein Gerichtshof sein – und die Tribunalisierung der Lebenswelt hat im Zeitalter der cancel culture und digitalen Erregungswilligkeit zugenommen.

Aber der Blick, der uns sieht und begleitet, legt eine erste Spur zum Thema Vorsehung, zumindest dann, wenn wir bereit sind, den großen Anderen, den wir selbst nicht sehen können, ins Spiel zu bringen: "Gott". In der Heiligen Schrift kommt der Begriff der Vorsehung, der ursprünglich aus der griechischen Philosophie, vor allem aus der Stoa, stammt, nur am Rande vor, dennoch ist der Blick Gottes ein vielschichtiges Thema. Die Psalmen besingen das "Auge Gottes" – nicht als Kontrollorgan, das alles sieht und prüft, sondern als Blick, der bestärkt und begleitet (Ps 33,18). Die Frommen Israels betteln darum, dass Gott sein Angesicht nicht verberge, und wollen nicht aus seinem Blick herausfallen. Und aus dem Angeschautwerden folgt das Versprechen: "Dein Angesicht, Herr, will ich suchen" (Ps 27,8). Im Sinne einer "Theologie des Als ob" hat der Schriftsteller Peter Handke einmal tastend die Vorstellung eines göttlichen Zuschauers umkreist:

"Ich denke mir manchmal, diese Wendung zu Gott ist, dass man innerlich sich angeschaut sieht. Dass man sich gesehen sieht. Dass man sich von einem alles verstehenden, aber nicht allmächtigen, also von einem alles verstehenden Wesen gesehen sieht – und im Handumdrehen oder im Blickaufschlagen wird etwas anders mit dir. Das ist das, was man vielleicht – Punkt Punkt Punkt. Ich möchte da nicht weiterreden, aber  … ich glaube, es gibt wirklich etwas wie ein gottähnliches Zuschauen. Also dass man ganz und gar nicht gottgleich ist, aber ... eine Güte im Zuschauen da ist, ja, ein gütiges, aktives Zuschauen, das man ruhig, glaube ich, ein Ideal nennen könnte, im Leben und im Arbeiten, auch im Lassen, im Sein-Lassen der anderen."

Man sieht, dass Handke sich von der imaginierten Güte des göttlichen Zuschauers anstecken lässt und nun seinerseits die anderen gütig betrachtet. Was wäre eine Welt, in der wir uns alle mit Güte anschauen würden, in der das Theater der Missgunst, der Rivalität und des Hasses keinen Platz hätte!

III.

Und das lenkt mich auf eine zweite Spur: Vorsehung hat mit Fürsorge zu tun. Die Vorsilbe pro im lateinischen Wort providentia und im Griechischen pronoia weist darauf hin, dass es um etwas geht, das für uns da ist. Theologisch geht es um das Zusammenspiel der verborgenen Freiheit Gottes und unserer Freiheit, nicht um Notwendigkeit oder ein göttliches Diktat, das an uns ohne uns handelt. Das ist zumindest die Deutung, für die ich eintreten möchte. Diese Deutung schließt andere Sichtweisen aus.

An die Vorsehung Gottes so zu glauben, dass sie die menschliche Freiheit fördert und begleitet, ist erstens nicht zu verwechseln mit Determinismus. Dieser lehrt, dass der Verlauf der Geschichte lückenlos vorherbestimmt ist, als läge im Archiv der Ewigkeit ein Video bereit, das nur abgespult würde, um die göttliche Providenz im scheinbar chaotischen Weltgeschehen zu zeigen, ohne dass die Freiheit des Menschen eine Rolle spielt.

An die Vorsehung Gottes so zu glauben, dass sie die menschliche Freiheit fördert und begleitet, ist zweitens nicht zu verwechseln mit Fatalismus oder Astrologie. Der Verweis darauf, dass das Schicksal in den Sternen vorgezeichnet ist, kann eine die Freiheit des Menschen entlastende Funktion haben. Aber Gott ist keine anonyme Schicksalsmacht, und die Sterne sind keine Götter, sondern "Lampen am Himmelsgewölbe", wie der biblische Schöpfungsbericht polemisch gegen den altorientalischen Astralkult festhält (vgl. Gen 1,14).

An die Vorsehung Gottes so zu glauben, dass sie die menschliche Freiheit fördert und begleitet, ist drittens nicht zu verwechseln mit dem Deismus der Aufklärung. Dieser lehrt, dass Gott die Welt wie ein Uhrwerk in Gang gesetzt hat und sich seitdem aus der Geschichte heraushält. Offenbarungen oder Handlungen Gottes in der Geschichte lehnen Deisten ab, die es heute vermehrt auch intra muros ecclesiae gibt.

An die Vorsehung Gottes so zu glauben, dass sie die menschliche Freiheit fördert und begleitet, ist viertens nicht zu verwechseln mit Nihilismus, der alles im gähnenden Abgrund des Nichts verschwinden lässt. Aus einer nihilistischen Weltinterpretation kann der hedonistische Imperativ folgen, aus dem Leben so viel herauszupressen, wie eben möglich ist, oder die Weisung postmoderner Lebenskunst, durch meditative Techniken die Selbstrelativierung schon jetzt einzuüben. Beides steht quer zum christlichen Verständnis von Geschichte als einmaligem Zusammenspiel zwischen der Fürsorge Gottes und der Freiheit des Menschen.

An die Vorsehung Gottes so zu glauben, dass sie die menschliche Freiheit fördert und begleitet, ist schließlich nicht mit der Lehre der doppelten Prädestination zu verwechseln. Diese geht davon aus, dass Gott aufgrund eines ewigen Dekrets nur wenige erwählt und viele verwirft. Eine solch "gnadenlose Theologie der Gnade" (Peter Sloterdijk) ist selbst verwerflich, da sie den universalen Heilswillen Gottes geringschätzt. Karl Rahner notiert:

"Es gehört zu den katholischen Glaubenswahrheiten, dass der übernatürliche Heilswille Gottes sich auf alle Menschen aller Zeiten und geschichtlichen Regionen erstreckt. Allen ist das Heil angeboten."

Eine Garantie, dass am Ende alle das Heil finden, ist damit nicht gegeben, denn die menschliche Freiheit kann sich dem göttlichen Heilsangebot definitiv widersetzen.

Was aber bedeutet es positiv, an die Vorsehung Gottes so zu glauben, dass sie die menschliche Freiheit achtet und begleitet? Es bedeutet, Gott und Mensch nicht nach dem Modell der Konkurrenz, sondern nach dem Modell des dialogischen Zusammenspiels zu denken. Gott ist gut – und zu seiner Güte gehört es, sich dem anderen seiner selbst mitteilen zu wollen. Deus vult alios condiligentes. Gott will die anderen nicht als Marionetten, sondern als Mitliebende, sagt Duns Scotus. Der Mensch ist demnach eingeladen, Mitspieler im Theo-Drama zu werden.  Die Geschichte ist der Schauplatz, auf dem sich das nicht näher aufzulösende Geflecht von Interaktionen zwischen den verborgenen Absichten Gottes und den Freiheitsentscheidungen des Menschen abspielt.

IV.

Die Geschichte als ein Drama von Interaktionen zwischen Gott und Mensch zu verstehen, bedeutet, an eine große Erzählung anzuschließen, die die Geschichte als ein Interim zwischen Schöpfung und Vollendung versteht. Nun hat der französische Philosoph Jean-François Lyotard (1924–1998) die These vertreten, dass die großen Erzählungen im Zeitalter der Postmoderne obsolet geworden seien. Und es stimmt ja, dass die leitenden Narrative der Moderne vom unaufhaltsamen Fortschritt von Wissenschaft und Technik, von der zunehmenden Humanisierung und Zivilisierung der Gesellschaft in eine Krise geraten sind. Heute beobachten wir eine Wiederkehr großer Erzählungen unter negativem Vorzeichen. Vom drohenden clash of civilisations ist die Rede, Bewegungen wie die "Letzte Generation" imaginieren das Ende der Geschichte, um den politischen Handlungsdruck beim Klimaschutz zu erhöhen – auch andere dystopische Narrative wie die atomare Selbstauslöschung der Menschheit liegen in diesen Kriegszeiten wieder in der Luft. Der christliche Glaube bleibt hier nüchtern. Er beschönigt und idealisiert die Verhältnisse nicht, propagiert aber auch nicht den Untergang, sondern appelliert an Freiheit und Verantwortung. Der These vom Ende der großen Erzählungen stellt der Glaube das Narrativ gegenüber, dass Gott der Schöpfer und Vollender der Welt, das Alpha und Omega der Geschichte ist. Er hat alles, was ist, aus dem Nichts ins Dasein gerufen, und zur Allmacht seiner Güte gehört es, sich zurücknehmen und Anderes sein lassen zu können. Er begleitet Schöpfung und Geschichte in ihrem evolutiven Werdeprozess. Zugleich wird er alles, was war und gewesen sein wird, durch das Gericht hindurch zur Vollendung führen, damit ihm das Drama der Geschichte nicht entgleitet. Am Prädikat der Allmacht Gottes ist festzuhalten, weil Schöpfung aus Nichts und eschatologische Vollendung der Geschichte nicht von einem ohnmächtigen Gott realisiert werden können. Das Interim zwischen Schöpfung und Vollendung, das wir Geschichte nennen, ist der Schauplatz, auf dem sich Glück und Unglück, Komödien und Tragödien, Heil oder Unheil ereignet. Nur durch das Gericht hindurch lässt sich das abgründige Drama der menschlichen Leidens- und Schuldgeschichte in ein Finale bringen, das den Titel der divina commedia verdient. Denn die Täter dürfen nicht über die Opfer triumphieren – und die Tränen müssen abgewischt und die Klagen der geschundenen Kreatur erhört werden. Das Gericht wird die Wahrheit der Geschichte aufrichten und zugleich ein Akt der eschatologischen Selbstrechtfertigung Gottes sein.

V.

Wie aber komme ich darauf, die Vorsehung Gottes so zu deuten, dass sie mit der menschlichen Freiheit zusammenstimmt? Hat es nicht gerade Versuche gegeben, die menschliche Freiheit in Absetzung zur Allmacht Gottes stark zu machen und die Existenz Gottes im Namen der Autonomie des Subjekts zu bestreiten? Gewiss. Aber hier werden zumeist philosophische Begriffe von Gott – gewissermaßen terminologische Idole – demontiert, nicht aber der lebendige und verborgen wirkende Gott selbst, der sich zurücknehmen kann, um der Freiheit des Menschen Entfaltungsspielräume zu gewähren, den er nicht als Knecht, sondern als Bundesgenossen gewinnen will. Schauen wir, da es ja um eine christliche Deutung gehen soll, zunächst auf die Grundhaltung Jesu als Beispiel und Modell.

Will man das Zusammenspiel von göttlicher und menschlicher Freiheit in dramatischen Kategorien deuten, könnte man sagen: Gott ist der Autor, der Heilige Geist der Regisseur und Jesus Christus der Protagonist des Dramas, die Welt aber die Bühne und wir Menschen nicht die Zuschauer, sondern die Mitspielenden. Bei diesem Gleichnis ist klar, dass es neben Ähnlichkeiten auch Differenzen gibt: Gott agiert nicht auf der gleichen Ebene wie der Mensch, und das Skript des Dramas ist nicht ausgeschrieben, sodass es Überraschungen geben kann. Die Mitspielenden haben Freiräume, und die Frage ist: Spielen sie im Sinne der Autorintention und Regie – oder kreieren sie eigene abweichende Rollen? Und was geschieht, wenn sie rebellisch die ihnen zugedachten Rollen verweigern? Kann das Drama dann in ein finales Fiasko einmünden?

Schauen wir auf den Protagonisten Jesus, so ist dieser nichts aus sich, sondern alles durch seine Ausrichtung auf den Willen des himmlischen Vaters. Jesus ist der Mensch, der in jedem Augenblick seines Daseins dem Willen Gottes Raum gibt, den er liebevoll seinen "Abba" nennt.

"Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat." (Joh 4,34; 5,30; 6,38; 17,4)

Das aber heißt, er verzichtet darauf, sich selbst gegen die Unwägbarkeiten des Kommenden abzusichern, wie wir es immer auch tun; er verzichtet darauf, das unwiederbringlich Versäumte in der Vergangenheit zu betrauern, wie wir es immer auch tun. Unser Zeitbewusstsein hat die drei Dimensionen der Zeit in eine gelungene Synthese zu bringen, damit unsere Aufmerksamkeit in der Gegenwart nicht von Schatten der Vergangenheit überlagert oder von drückenden Zukunftssorgen eingetrübt wird. Jesu Zeitbewusstsein hängt nicht retentional nach und läuft nicht protentional vor, es steht intentional ganz in der Gegenwart der Gegenwart Gottes. Der Schweizer Theologe Hans Urs von Balthasar hat in seiner Theologie der Geschichte notiert:

"Dass Jesus Zeit hat, sagt vor allem dies: dass er den Willen des Vaters nicht vorwegnimmt. Er tut das einzige nicht, was wir Menschen … immer tun wollen: Die Zeit und die in ihr liegenden Verfügungen überspringen, um in einer Art angemaßter Ewigkeit uns Überblicke und Vergewisserungen zu schaffen."

Jesu Passivität, sich bis in die Gottesnacht in Getsemani und Golgatha vom Vater bestimmen zu lassen, ist von einer tieferen Aktivität getragen: der freiwilligen Hingabe an den Willen des Vaters, die echte Zeitlichkeit möglich macht:

"Würde man sich das Wissen Christi so vorstellen, dass er aus einer Art ewiger Schau und Übersicht heraus seine einzelnen Akte in der Zeit disponiert, so wie ein genialer Schachspieler, der vom dritten Schachzug an das ganze Spiel übersieht, die Figuren eines für ihn im Grunde schon abgelaufenen Spieles setzt, so hätte man die ganze Zeitlichkeit Jesu aufgehoben, aber auch seinen Gehorsam, seine Geduld […], er wäre nicht mehr das Urbild christlicher Existenz und somit christlichen Glaubens. Er wäre nicht mehr befugt, die Parabeln des Harrens und Wartens zu erzählen, in denen er das Leben in seiner Nachfolge beschreibt."

Das Wissen Christi ist nicht eingeweiht in einen Masterplan der Vorsehung, nach dem alles ablaufen müsste. Sein Wissen beschränkt sich darauf, gesandt zu sein, und die jeweilige Gegenwart ist die Stelle, an der diese Sendung bewährt wird. Das Ja zum Willen des Vaters bedeutet ein Nein zu jedem eigenmächtigen Vorgriff und schließt die vorbehaltlose Offenheit für die Regie des Heiligen Geistes ein. Diese besteht darin, dem Protagonisten jeden Augenblick neu den Willen des Autors zu übermitteln. Jesus ist – so noch einmal Balthasar – "einem Schauspieler zu vergleichen, der die Rolle, die er zum erstenmal spielt, Szene für Szene, Wort für Wort erst 'inspiriert' bekommt. Das Stück existiert nicht im Voraus, es wird gleichzeitig erdacht, in Szene gesetzt und aufgeführt. Die Menschwerdung ist nicht die x-te Aufführung einer im Archiv der Ewigkeit längst bereitliegenden Tragödie. Sie ist ursprünglichster Vorgang, so einmalig und so unabgegriffen wie die ewige je-jetzt sich vollziehende Geburt des Sohnes aus dem Vater."

Jesus ist demnach der Mensch, der in der Welt Zeit für Gott hat, und daher ist er der Ort, an dem Gott für die Welt Zeit hat.

"Andere Zeit als im Sohn hat Gott für die Welt nicht, aber in ihm hat er alle Zeit."

Jesus aber hat die Armen und Marginalisierten aufgesucht – und damit für Verstörung gesorgt. Er hat die Gerechtigkeit gefordert und gelebt – und damit die Heuchelei und Ungerechtigkeit aufgedeckt. Er hat die Wahrheit Gottes in die Welt gebracht und die Zweideutigkeit und Lüge seiner Zeitgenossen entlarvt, sodass er am Ende den Unmut, ja Hass der vielen auf sich gezogen hat. Seine Orientierung am Willen des Vaters, der ihn sieht und begleitet, hat er in Treue bis ans Kreuz durchgehalten. Kann aber der Mensch als Mitspieler im Theodrama in diese Haltung Jesu eintreten, die nicht nur fromm, sondern auch sozial folgenreich ist? Und welche Konsequenzen könnte dies für ihn haben, wenn ihm der Wille des himmlischen Vaters in den vielen Verrichtungen des Alltags nicht entgleitet, sondern er sich in der Spur Jesu und in seinem Geist vertrauensvoll diesem Willen überlässt?

VI.

Ist das aber nicht ein kühner Gedanke? Statt selbst als Zuschauer sitzen zu bleiben, sind wir eingeladen, ja aufgefordert, im Theodrama mitzuspielen und unsere Rolle zu finden, nicht indem wir uns vom Autor und seiner Regie emanzipieren, um uns selbst zu verwirklichen, sondern indem wir nach dem Willen des Vaters suchen, um so zu werden, wie er uns will. In der Spur seiner Nachfolge zu leben versuchen und am Aufbau des Reiches der Gerechtigkeit und des Friedens mitzuwirken, heißt immer auch, Gegenmächte auf den Plan zu rufen, die den Status quo verteidigen, weil er Vorteile bringt. Aber eine Mystik der geschlossenen Augen, die geschichts- und weltvergessen ist, kann sich nicht auf Jesus berufen, der eine Mystik der offenen Augen vorgelebt hat, die sich von der Not der anderen affizieren lässt und diese praktisch zu lindern versucht.

Wer nun unsicher ist und zweifelt, ob es den göttlichen Zuschauer gibt, der kann so tun, als ob es ihn gebe. Wer sich auf das Experiment einlässt, wird bald merken, dass ein Leben in der verborgenen Gegenwart Gottes zu kritischer Selbstrevision anhält, und zwar jeden Tag neu:

"Erforsche mich Gott, und erkenne mein Herz … sieh her, ob ich auf dem Weg bin, der dich kränkt, und leite mich auch dem altbewährten Weg." (Ps 139,23f)

Gesehenwerden, Begleitetwerden, Geführtwerden – das sind die Momente einer Interpretation von Vorsehung im Sinne eines dialogischen Zusammenspiels von Gott und Mensch, die einen Mittelweg zwischen open theism und klassischem Theismus beschreitet. Der open theism spricht Gott eine offene Zukunft zu, die von den Akten menschlicher Freiheit abhängig ist und im Zweifel auch in ein Scheitern des Weltabenteuers Gottes führen kann; der klassische Theismus hingegen spricht Gott die Attribute der Vollkommenheit, Unveränderlichkeit und Apathie zu und bestreitet, dass Gott ein reales Verhältnis zur Welt hat, was mit dem Motiv der biblisch bezeugten Bundesgeschichte schwer zu vereinbaren ist. Theodramatische Theologie geht von einem dialogischen Zusammenspiel zwischen Gott und Mensch aus, das von der Macht der Güte Gottes begleitet wird. Dabei ist klar, dass die Verborgenheit Gottes, seine Nichtgreifbarkeit in den Koordinaten von Raum und Zeit, sein Schweigen auf konkrete Bitten heute für viele zu einer Erfahrung der Gottesnacht wird, die zu Klagen de profundis Anlass gibt. Auch wer glaubt oder zu glauben versucht, bleibt von solchen Erfahrungen nicht frei – er kann sie mit den Psalmen vor Gott bringen und auf Jesus beziehen, der das Vertrauen auf seinen himmlischen Vater in der Gottesnacht am Kreuz durchgehalten hat:

"Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist." (Lk 23,36)

VII.

Menschen oder religiöse Instanzen, die meinen, den göttlichen Willen genau bestimmen zu können, überspringen den eschatologischen Vorbehalt. Kein Mensch kann die Perspektive Gottes einnehmen. Tut er es doch, begeht er den Fehler "usurpatorischer Theologie" (Eckhard Nordhofen) und vergreift sich am unbegreiflichen Geheimnis Gottes. Wir aber sind im Vorletzten unterwegs und haben keinen Einblick ins Letzte. Das hat auch theologiepolitische Konsequenzen: Autokraten, die sich als Instrument der Vorsehung verstehen, betreiben Selbstermächtigung und sakralisieren ihre Politik. Hitler hat sich bekanntlich als Gottes Werkzeug betrachtet – auch heute gibt es Beispiele. Wenn US-Präsident Donald Trump sagt, dass er durch die Vorsehung Gottes vor der tödlichen Kugel bewahrt worden sei, ist das eine legitime fromme Selbstdeutung des Attentats im Bundesstaat Pennsylvania am 13. Juli 2024. Wenn er aber gleich anfügt, die wunderbare Errettung sei geschehen, um Amerika wieder groß zu machen, ist das eine illegitime politische Usurpation des Gottesnamens. Ich breche hier ab und komme zum Schluss.

VIII.

"Wir haben das Gesehenwerden verlernt", hat der Schriftsteller Botho Strauß einmal notiert. Vielleicht wäre es eine heilsame Lektion, im Sinne einer Theologie des Als ob den göttlichen Zuschauer neu ins Spiel zu bringen und das verborgene Antlitz Gottes wieder zu suchen, der unsere Wege ansieht, sie fürsorglich begleitet, sodass wir uns gerade in Krisenzeiten seiner Navigation anvertrauen können. Das jedenfalls wäre die Einladung des christlichen Glaubens. Wer lieber in der agnostischen Reserve bleibt und den Stimmen der Religionskritik glaubt – denn auch der Unglaube ist vielleicht nur ein Glaube – der höre zum Schluss noch einmal Handke:

"Das Zuschauen ist etwas, das wir alle brauchen …. dass uns jemand zuschaut auf eine umfassende Weise, wie man sich vielleicht das von Gott vorstellt, nicht?, dass Gott eigentlich durch das Zuschauen ... dass das seine einzige Macht ist, denke ich mir manchmal so als Gedankenspiel: die einzige Macht Gottes ist, dass er uns zuschaut – und wenn wir uns gewärtig machen, dass Gott uns umfassend zuschaut, wären wir alle total besänftigt."
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