"auf der schlachtstrasse des absoluten"Raoul Schrott und die Kunst, an nichts zu glauben

Unhintergehbar sollte sie sein, die Lektüre kluger Atheisten. Nicht nur Gewissheiten, mit denen wir uns womöglich umstandslos beruhigen, stellen sie herausfordernd auf den Prüfstand. Manche Überraschung zudem vermag das Nachdenken über Befindlichkeiten ohne Gott bereitzuhalten. Wesenhafte Existenz jedenfalls kann von den Horizonten der Frage nach ihm wohl kaum getrennt werden.

Raoul Schrott auf dem Erlanger Poetenfest 2015
Raoul Schrott auf dem Erlanger Poetenfest 2015© Kritzolina, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

I.

"Sie werden lachen, die Bibel!" So antwortete Bertolt Brecht, der Atheist, 1928 auf die Frage einer Zeitschrift nach jenem Buch der Weltliteratur, das den stärksten Einfluss auf ihn ausgeübt habe. Bei mir, als Student der Theologie (Zweitfach fürs Lehramt nur), verhielt es sich mit den Lese-Präferenzen sozusagen umgekehrt: "Ihr werdet lachen: Nietzsche". Die Kommilitonen waren verblüfft bis irritiert. Das steigerte sich noch, als ich darzulegen versuchte, Bestreiter von Metaphysik hätten den Gläubigen gegenüber wohl immer die einleuchtenderen Argumente.

In der Kneipe kamen wir rasch auf andere Themen.

II.

Die Marotte (nennen wir das Phänomen einmal so) ist geblieben. Während mich kirchliche Selbstbezüglichkeiten – und ganz besonders in Deutschland! – eher kalt lassen, brenne ich nach wie vor für die Gottesfrage, als gehe es hier um alles. Tut es ja auch. 'Gibt' es IHN? Das Primärste ist damit aufgerufen. Geistige Ausrichtung wie praktische Gestaltung des Lebens werden durch die Antwort entscheidend berührt.

Nun bin ich selbst im galoppierend postchristlichen Zeitalter noch nicht zum Atheisten geworden. Angesichts des Schatzes "in zerbrechlichen Gefäßen" (2 Kor 4,7) jedoch pflege ich mich gern herausfordern zu lassen, ob meine Entscheidung keiner völligen Unplausibilität unterliegt. "Intellectuale Redlichkeit" nannte Nietzsche das. Ein ehrwürdiger Begriff.

Wert lege ich bei derlei Auseinandersetzung freilich auf Substanz im Umgang mit dem Thema. Also das Gegenteil von jener Wurschtigkeit, die in unseren Breiten (über die "Gen Z" hinaus) Raum zu gewinnen scheint: "Gott? Seh' ich nicht. Brauch' ich nicht. Lebe angenehm auch ohne ihn" (was durchaus von dem Anspruch abhängt, welchen man an sein Dasein stellt). Als soziale Mentalität verdient derlei natürlich Interesse.

III.

Unter den deutschsprachigen Intellektuellen ist Raoul Schrott solch ein denkender Atheist. Ein klasse Poet dazu, der besten einer und dazu gescheitesten, die wir haben. Einer, der habilitiert ist und trotzdem wunderbar einnehmend zu schreiben versteht.

Enorm der Radius des höchst produktiven Autors. Von Dada zu Beginn (in Tirol, seiner Heimat, wo man so etwas kaum vermuten würde) auf die Dichtung vielfältiger Kulturen ausgreifend. Mit deren Ursprungsäußerungen zumal kennt er sich aus (dem Gilgamesh-Epos, Hesiod und Homer). Brücken von da zur Gegenwart sind in einem Werk zu begehen, das Prosa wie Verse umfasst, Übersetzungen wie Filme. Ein Himmelsatlas samt anderthalb Dutzend unterschiedlicher Schöpfungsmythen kam jüngst von ihm heraus. Eine Art Epos menschheitsgeschichtlichen Imaginationsvermögens. Hinreißend.

Zehn Jahre her ist es, dass er zuletzt einen Gedichtband vorlegte: Die Kunst, an nichts zu glauben. Weil er von Raoul Schrott war, hatte ich ihn mir sogleich besorgt, in diesem Falle fast mehr noch des Titels wegen.

IV.

Denn geht das überhaupt: an nichts zu glauben? Und wenn ja: bedürfte es eigens künstlerischer Fertigkeiten hierfür? Liefe also auf "Arbeit" hinaus (wie ein Karl Valentin zugeschriebenes Wort richtigerweise unterstellt)? Kann man dabei auch Schiffbruch erleiden oder doch immerhin in Seenot geraten? Hinein in die Lektüre!

V.

Mit mystifizierender Philologie am Anfang. Vorredend nämlich berichtet der Autor davon, wie er in Ravennas Bibliotheca Classense auf ein noch unveröffentlichtes Manuskript gestoßen sei: "Manuale Dell´ Esistenza Transitoria (De Arte Nihil Credenti)". Um 1700 entstanden. Jegliche "Idee Gottes" und eines "Jenseits" werde in dieser frühen "Bibel der Weltlichkeit" zurückgewiesen. Auf damit zugleich entstehende "Leere" zu reagieren jedoch sei unabdingbar.

Nicht ohne Pathos wird ein gemeinsamer Zug der folgenden Texte angekündigt. All ihre "Fluchtlinien" zeugten von einer Haltung, "die Schönheit zu finden sucht im Scheitern – um ihm eine Moral abzuringen." Schon hier erscheint jener Atheismus keineswegs auftrumpfend. (Das war bei Nietzsche übrigens ebenso.) Vor dem Horizont des Misslingenden vielmehr steht er, von Lädiertem, Brüchigen, mag angesichts der "Zufälligkeiten und Unbestimmbarkeiten" des Daseins wie einer "nicht zu ermessenden Totalität der Natur" auch die Annahme Gottes als Anker oder "Mitte" definitiv "keinen Bestand" haben.

VI.

Zitate aus dem angeblichen Manual und Gedichte wechseln in Schrotts Band einander ab. Die Sentenzen schöpfen aus einem bekannten Inventar des Atheismus, setzen unter seinen Spielarten aber bestimmte Akzente. Weniger die erkenntniskritischen und ethischen Einwände überraschen dabei. Solche gegen die Indifferenz Gottes ebenso wenig, gegen den (gäbe es ihn denn) "aufzubegehren" einzig angebracht wäre. Schließlich auch nicht Verweise auf Unzulänglichkeit und Widersprüchlichkeit christlicher Narrative. Vielmehr ist es die durchgehend dunkle Instrumentierung der conditio humana, welche überrascht.

Ja, "dem glauben ist nicht zu vertrauen". An der vorherrschenden Misere ändert solche Beschwörung jedoch nichts: "mein leben ist ephemer · meine Arbeit ist vergeblich", sickert durch: "ich schaue und sehe nichts wirklich · begehre und bin nicht erfüllt" – "ratlos geht man so ins grab".

VII.

In den Gedichten verstärkt sich jene Doppelpoligkeit eher noch. Gleich das erste (Sant' Apollinare in Classe) rekurriert bildsemantisch auf "gebete im unterholz · diese stotterei / unserer worte geht auf im sanften echo / der heilsfigur die ihre arme zum a und o / des erdballs ausbreitet". Dem folgt ein schroffes Dementi: "sich einem allherrscher anheim zu geben / sich beim sterben in ihm zu sehen wird stets nur vorstellung sein / ist ungreifbares kolorit / wir in dieser erlösung gleichermassen mit uns allein". Finis.

Häufig sind es Rollentexte, in denen sich höchst diverse Sozialcharaktere artikulieren (Fotografin wie Pizzabäcker, Informatiker, Dolmetscherin, Richter, oder auch In Scheidung – männlich – Anfang Vierzig), grundiert meist von Splittern eines unbefriedigten bis unglücklichen Bewusstseins. "nichts wird jemals fertig", lässt Schrott einen Straßenbauarbeiter doppelsinnig sagen, wie in trotzig gereimter Selbstermahnung am Ende dann: "spitzwegerich / und holunder / das aufblitzen ihrer staubig weissen dolden ist mir genug an wunder".

Kommt das Leben nicht einem "passionsspiel" gleich? Die deprimierende Frage kontert der Schlussappell, darüber bloß nicht "scheinheilig" zu werden. Als "so gottvergessen" (!) bezeichnet sich Der Schlachter im Bewusstsein, dass er sich denen zurechnet, die "stichfleisch auf der schlachtstrasse des absoluten" sind. Gleichwohl: "ich werd mich vor nichts niederknien", versichert Ein Mann der Feder.

VIII.

Manchmal indes wird jene(r Wille zur) Entschlossenheit porös. So beobachtet Die Souffleuse: "zwischen text und deklamation ist es öfters als ob es spuke / und einer der schauspieler anhebe zu schweben / stumm die erlösung anzustimmen · aber es bleibt ein stabat mater / bei dem ich jedesmal zusammenzucke". Der große Verheißungsbegriff, "eine wiederkehr / die einmal alles erlöst": untergründig geht er in diesen Auskünften noch um.

Was könnte ihn wenigstens annähernd ersetzen? Welche "glorie" gäbe es zu "feiern", wie dringlich man sie auch postuliert? "sein heil zu erfinden und das eigene hosianna / erst das macht ein gedicht", unverdrossen, obwohl "man es immer nur auf wasser schreibt". Funktioniert das? In "momenten" womöglich, wo Zeit gleichsam komprimiert oder aufgehoben erscheint? Durch Liebe und Geliebtwerden als Erfahrung innerweltlicher Transzendenz? "nicht wie ich bin sondern wie ich gern wäre", schränkt Die Ärzin ein, "weil auch ich insgeheim an die eigene ewigkeit glaube". Um "ein ex voto", handle es sich bei ihr, heißt es anderswo über die Liebe. Doch "auch darin allein".

"das ungetröstete bleibt". Kein "zuspruch" trägt. Die Landschaft zeigt das Dilemma an: "der himmel · sein lichtriss von unbekannten orten / zu denen keine strassen führen – nur fragen ohne antworten".

IX.

Schrott erkennt, dass die Erkundigung nach Gott, wie auch immer sie beantwortet wird (gerade auch im Horizont seines "Fehl") Voraussetzung ist, um eine "existenz" zu führen, die diesen Namen auch verdient. Nicht selten linst Heidegger durch seine Verse.

Und ein Ganz Anderes bleibt dem Bewusstsein mithin wie auch immer provozierend 'da'.

X.

"das absolute wirkt im nichts". So lautet die letzte Zeile des bemerkenswerten Bandes. Wie eine Übersetzung dessen liest sie sich, was Meister Eckhart, der Mystiker, über Gott sagt, IHN – 'der' sämtlichen positiven Bestimmungen, ja allem Denken entgegen steht. "Nichts": das meint hier kein Vakuum. Unausschöpfbar-unendliche Fülle vielmehr, jeglichem zugrunde liegend, aus der unerschöpfliche Möglichkeiten hervorsprudeln. Es "in sprache [zu] pressen" (um eine Wendung Schrotts anzubringen), bliebe bodenlos.

Wie Der Architekt den Titel des Bandes variiert: "ans nichts zu glauben ist eine kunst". In jedem Sinne mag das wohl stimmen.

XI.

Atheismus ist keine Weltsicht des easy going. Kaum minder wund scheuert man sich an ihm wie an der Religion. Mag sein, er hat die nachvollziehbareren Argumente für sich. Dass "in dieser welt etwas absent" bleibt, schimmert daneben stets durch.

Hoffnung: "jede", heißt es in Schrotts Manual, "ist willkürlich und gespalten". Selbst freilich wenn sie eine "wider alle" gar (Röm 4,18) wäre, ja Sehnsucht, oder (noch so ein grandioser Vers!) "heimweh nach einem ort den man nicht kennt", von dem das Ich sagt: "an den geglückten tagen geht mir manchmal das herz über / als gäbe es" ihn – dürften sie, bei aller Vorsicht, vielleicht nicht auch als Fermente der den Anschein übersteigenden Erkenntnis gelten?

Manche Wege zum Eigentlichsten mögen dunkel sein und buchstäblich durch die Leere führen. Paradox? Abgemacht! Beweiskraft eignet ihnen nicht. Lassen wir uns aber darauf ein, werden wir nie fertig damit. "ohne das unverständliche ist der mensch antriebslos", schreibt Raoul Schrott.

XII.

Um ihm letztmalig noch das Wort zu erteilen: "ein vernünftiger mensch glaubt an seine ansichten – weiss aber dass einige sich als falsch herausstellen werden". Besser: könnten. Dem Salto mortale muss der Glaube damit keineswegs gleichen, doch bleibt die Zirkusnummer ein schönes Bild dafür, dass es sich bei im letztlich auch um Artistik handelt, wie Nietzsche die Kunst nannte.

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