Weisheit rettetDen Ruf der Weisheit hören – das Buch der Sprichwörter

Die zweite Lehrrede im 2. Kapitel des Buches der Sprichwörter stellt eine kunstvolle Komposition dar, die sich als eine programmatische Zusammenfassung alttestamentlicher Weisheitstheologie zu verstehen gibt.

Aufgeschlagene Bibel
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Die 22 Verse der zweiten Lehrrede im 2. Kapitel des Buches der Sprichwörter verweisen auf die 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets und deuten an, dass hier so etwas wie eine Summe dessen gegeben wird, was im weiteren Verlauf des Buches entfaltet und vertieft wird. Hinzu kommen Bezüge zu anderen Büchern des Alten Testaments, insbesondere zu einigen Psalmen und zum Buch Deuteronomium, die erneut zeigen, dass die Weisheit keinen Fremdkörper in der Heiligen Schrift darstellt.

Die rechte Balance halten

Die Lehrrede besteht aus einem einzigen Satz, dessen einzelne Teile Schlüsselbegriffe weisheitlicher Theologie einspielen und zugleich die Grundstruktur einer weisheitlichen Lebensform entwerfen:

"Wenn du annimmst (V. 1) ...,
dann wirst du verstehen die JHWH-Furcht (V. 5)...,
dann wirst du verstehen Gerechtigkeit und Recht (V. 9)...,
um dich zu retten vor dem Mann, der Falsches redet (V. 12)...,
um dich zu retten vor der fremden Frau,
die den Bund ihres Gottes vergessen hat (V. 16)...,
damit du gehst auf dem Weg der Guten (V. 20) ..."

Im Vordersatz wird die Bedingung genannt, unter der die Weisheit in das Herz eines Menschen eintritt. In einem Satz zusammengefasst: Ohne Anstrengung geht es nicht! Mit einem flüchtigen Hinhören oder einer oberflächlichen Kenntnisnahme ist es nicht getan. Die geforderte Haltung beschreibt eine Bewegung von außen ("hören mit den Ohren") nach innen ("verstehen mit dem Herzen") und bewegt sich in einer feinen Balance zwischen Rezeptivität und Aktivität:

1 "Mein Sohn, wenn du meine Worte annimmst
und meine Gebote bei dir bewahrst,
2 indem du der Weisheit dein Ohr leihst,
dein Herz der Einsicht zuwendest,
3 ja, wenn du nach Erkenntnis rufst,
nach der Einsicht deine Stimme erhebst,
4 wenn du sie suchst wie Silber,
und wie nach verborgenen Schätzen nach ihr forschst …"

Unser zeitgenössisches Bildungskonzept versteht Wissen beinahe ausschließlich als Folge einer zielgerichteten Aneignung, als Folge eines aktiven Zugreifens auf die Wirklichkeit ("Forschen"). Dass ein Übermaß an Aktivität tiefere Prozesse des Verstehens geradezu verhindert, ist bei diesem Konzept weitgehend in Vergessenheit geraten. Folgerichtig fällt Weisheit aus dem zeitgenössischen Bildungs- und Wissenschaftsbetrieb weitgehend heraus. Dass uns etwas anspricht, sich uns etwas zeigt und zeigen will, dass uns bei unseren Bemühungen um Erkenntnis etwas aufgeht – das ist nur möglich, wenn die zielgerichtete Aktivität von einer Haltung des Empfangens innerlich durchdrungen wird. Letztlich ist bei aller notwendigen Anstrengung Erkenntnis eine Gabe, die der Annahme bedarf. In dem Wort Jesu: "Wer bittet, der empfängt; wer sucht, der findet; wer anklopft, dem wird geöffnet" (Mt 7,8), wird das Ineinander von aktivem Tun ("bitten, suchen, anklopfen") und einem Geschehen, das sich der Kontrolle entzieht ("empfangen, finden, geöffnet werden"), anschaulich ins Wort gefasst.

Im ersten Teil unserer Lehrrede versucht der Weisheitslehrer seinen Schüler ("mein Sohn") auf diese Balance zwischen einem aktiven, eifrigen Bemühen einerseits und einer Haltung offener Empfänglichkeit andererseits einzustimmen. Man kann die Weisheit nicht an sich reißen; das käme einer Vergewaltigung gleich und wäre der sicherste Weg zum Nichtverstehen. Der Schüler soll nach ihr rufen, seine Stimme zu ihr hin erheben, dann, so sagt unser Weisheitslehrer, wird sie selbst aktiv und "in dein Herz kommen" (Spr 2,10). Die Folge ist, dass ein zweifacher Prozess des Verstehens in Gang gesetzt wird. Sachlich entspricht dieser dem Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe: "Dann wirst du die Furcht des HERRN verstehen und Gotteserkenntnis finden […], dann wirst du Gerechtigkeit und Recht verstehen."

Sich von der Weisheit führen lassen

Wenn das geschieht, dann verändert sich das Leben von Grund auf: Nicht mehr der Schüler muss ständig auf der Hut sein und sich vor Gefahren absichern, sondern die Weisheit selbst wird diese Aufgabe übernehmen. Zweimal wird von Rettung gesprochen, ein Tun, das gewöhnlich Gott zugesprochen wird, dem "Retter aus allen Nöten" (Ps 91,3): "Weisheit kommt in dein Herz, Wissen beglückt deine Seele, Besonnenheit wird dich bewachen und Einsicht dich behüten, um dich zu retten vor dem Weg des Bösen, vor dem Mann der Falsches redet […], um dich zu retten vor der fremden Frau" (Spr 2,10–12).

Was hier in weisheitlicher Terminologie zur Sprache kommt, wird in der Theologie gewöhnlich unter dem Begriff der göttlichen Vorsehung erörtert, ein Glaubensartikel, mit dem sich viele Theologen schwer tun. In unserer weisheitlichen Lehrrede sehen wir, wie die Dinge auf ganz natürliche Weise ineinander greifen: Es geht nicht um ein blindes, quietistisches Vertrauen auf eine mir innerlich fremde göttliche Vorsehung, sondern um die Bereitschaft, mich von Gott durch die Gabe seiner Weisheit beschenken und führen zu lassen, freilich unter der Voraussetzung, dass ich auch meinen Teil dazu beitrage, "dann wirst du die Furcht des HERRN verstehen und Gotteserkenntnis finden, denn der HERR gibt Weisheit, aus seinem Mund stammen Erkenntnis und Einsicht, er gewährt den Aufrichtigen Erfolg, ein Schild ist er denen, die aufrichtig wandeln, indem er behütet die Pfade des Rechts und den Weg seiner Frommen bewahrt" (Spr 2,5–8).

Den Verlockungen widerstehen

Eine erstaunliche Aussage! Die Weisheit, die nach intensivem Bemühen in das Herz des Schülers Einzug gehalten hat, macht immun gegen vielfältige Gefahren. Sie wirkt wie eine Schutzschild. Paradigmatisch werden geschlechtergerecht zwei dieser Gefahren genannt: der Mann, der Falsches redet und Böses tut (V. 12–15), und die fremde Frau, die ihre Worte geglättet, den Freund ihrer Jugend verlassen und den Bund ihres Gottes vergessen hat (V. 16–19).

Ausführlich befasst sich das Buch der Sprichwörter mit den Gefahren, die von der fremden Frau ausgehen. Allein drei Lehrreden sind ihr gewidmet (Spr 5; 6; 7), auch in der ägyptischen Weisheit ist sie ein fester Topos. Wir werden uns noch eingehend mit ihr befassen. In dieser zweiten Lehrrede steht sie weitgehend in Parallele zum "Mann, der Falsches redet", der zu einer Gruppe von Männern gehört, "die auf den Wegen der Finsternis gehen und sich über die Falschheit der Bösen freuen". Die Gefahr, die von der fremden Frau ausgeht, scheint subtiler zu sein; sie hat den "Bund ihres Gottes" vergessen und scheint sich nicht an die Gebote der Tora zu halten. Es könnte sich um eine Ehebrecherin handeln; von Jer 3,4 her gelesen, wo es in einer Gottesrede heißt: "Hast du nicht von da an zu mir gerufen: ‚Mein Vater, der Freund meiner Jugend bist du‘" könnte allerdings die Aussage: "die den Freund ihrer Jugend verlassen hat" metaphorisch gemeint und auf Gott zu beziehen sein; wahrscheinlich ist Doppeldeutigkeit beabsichtigt. Wie dem auch sei, wer ihren Wegen folgt, "sinkt zur Totenwelt hinab" (V. 18).

Die Weisheit führt auf den Weg des Lebens. Wer sich ihrer Führung anvertraut, wird das Land bewohnen. Damit greift die zweite Lehrrede die Landtheologie des Buches Deuteronomium auf: Diejenigen, die sich nicht an Gott und seine Gebote halten, "werden aus dem Land herausgerissen werden" (Dtn 28,63). Unser Weisheitslehrer sagt es mit den gleichen Worten:

21 "Die Rechtschaffenen werden das Land bewohnen,
und die Redlichen werden darin verbleiben,
22 die Frevler aber werden aus dem Land vertilgt
und die Abtrünnigen aus ihm herausgerissen werden" (Spr 2,21f).
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