Zu den herausragenden Eigenschaften eines altorientalischen Königs gehört seine Weisheit. So zumindest sollte es sein – der Theorie nach. Von König Salomo wird erzählt, dass er diese Eigenschaft in außergewöhnlicher Weise besaß. Geradezu sprichwörtlich ist das salomonische Urteil. Eine derartige Weisheit konnte nicht von dieser Welt sein und so ist uns im Buch der Könige eine Erzählung überliefert, die davon berichtet, wie der noch junge und unerfahrene König in den Besitz dieser alles menschliche Maß überschreitenden Weisheit gelangte: In einem nächtlichen Traum im unmittelbaren Anschluss an eine Opferhandlung wurde ihm von Gott ein Wunsch freigestellt.
Die Bitte des Königs lautete: "Verleih deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht!" Daraufhin gab ihm Gott zur Antwort: "Weil du gerade diese Bitte ausgesprochen hast und nicht um langes Leben, Reichtum oder um den Tod deiner Feinde, sondern um Einsicht gebeten hast, um auf das Recht zu hören, werde ich deine Bitte erfüllen. Siehe, ich gebe dir ein so weises und verständiges Herz, dass keiner vor dir war und keiner nach dir kommen wird, der dir gleicht" (1 Kön 3,9-12).
König Salomo gilt in der biblischen Tradition als der Patron der Weisheit. Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass man ihm die weisheitlichen Bücher Sprichwörter, Kohelet und Hohelied sowie das auf griechisch verfasste Buch der Weisheit zugeschrieben hat:
"Er verfasste dreitausend Sprichwörter und die Zahl seiner Lieder betrug tausendundfünf. […] Von allen Völkern kamen Leute, um die Weisheit Salomos zu hören, Abgesandte von allen Königen der Erde, die von seiner Weisheit vernommen hatten" (1 Kön 5,12-14).
In dieser Tradition steht die Überschrift des Buches der Sprichwörter: "Sprichwörter Salomos, des Sohnes Davids, des Königs von Israel." Die Überschrift bezieht sich auf das ganze Buch, nicht nur auf den ersten Teil (Spr 1-9).
Weisheit und Bildung
Im unmittelbaren Anschluss an die Überschrift folgt der Prolog, der den Zweck des Buches angibt. Dabei fällt auf, dass sich das Buch der Sprichwörter an zwei unterschiedliche Adressatenkreise richtet: zum einen an die "Unerfahrenen und die Jugend", zum anderen an "den Weisen". Für das Verständnis des Buches ist diese doppelte Adressatenangabe von großer Bedeutung. Denn es konzipiert damit so etwas wie einen lebenslangen Lernprozess. Zum einen vermittelt das Buch die Grundlagen der Erziehung und Bildung. Damit richtet es sich an diejenigen, die noch nicht viel wissen, die "Unerfahrenen". Das sind gewöhnlich, wie ausdrücklich gesagt wird, junge Menschen. Doch darin erschöpft sich das Buch nicht. Auch derjenige, der bereits weise ist, soll hören und das, was er an Weisheit empfangen hat, vermehren.
Mit insgesamt zehn Begriffen aus dem Bedeutungsfeld von Wissen, Weisheit, Bildung und Erziehung sowie Gerechtigkeit und Redlichkeit werden die Inhalte des zu vermittelnden Wissens und die damit einhergehenden Haltungen umschrieben. Dabei kommt dem Begriffspaar "Weisheit und Bildung" eine Schlüsselrolle zu, da es am Anfang und am Ende der Einführung begegnet und somit den Text in einen Rahmen spannt:
1 Sprichwörter Salomos, des Sohnes Davids, des Königs von Israel:
2 um zu erkennen [kennenzulernen und anzunehmen] Weisheit und Bildung,
um zu verstehen Worte der Einsicht,
3 um anzunehmen verständig machende Bildung,
Gerechtigkeit und Recht und Redlichkeit,
4 um zu geben Unerfahrenen Klugheit,
dem Jugendlichen Wissen und Besonnenheit.
5 Es höre der Weise und füge Lehre hinzu,
und der Verständige erwerbe Führungskunst,
6 um zu verstehen Sprichwort und Anspielung,
Worte der Weisen und ihre Rätsel.
7 Die Furcht des HERRN ist Anfang der Erkenntnis,
Weisheit und Bildung verachten die Toren.
Weisheit für Anfänger
In dem komplexen Geflecht von Begriffen aus dem Bedeutungsfeld von Wissen, Bildung, Erziehung und rechtem Verhalten lässt sich bei allen Überschneidungen doch so etwas wie eine Systematik erkennen. Das alle Zielgruppen umfassende Programm dürfte in Vers 2 mit dem Begriffspaar Weisheit und Bildung umschrieben sein. Das hebräische Wort mȗsar, das hier mit Bildung wiedergeben wird, wird in vielen Übersetzungen auch mit "Zucht" oder mit "Erziehung" übersetzt. Das deutsche Wort "Zucht" klingt nach einer "Pädagogik des Stocks" und wird wohl deshalb in neueren Übersetzungen gerne vermieden, wenngleich es auch in jüngst erschienenen Kommentaren wieder anzutreffen ist. Die Bedeutung des Wortes scheint am besten mit dem deutschen Wort "Erziehung" getroffen zu sein, wobei je nach situativem und kulturellem Kontext die Methoden der Erziehung sehr unterschiedlich sein können.
Das Buch der Sprichwörter kennt die im gesamten Alten Orient einschließlich der griechischen und römischen Antike bis in unsere jüngste Vergangenheit hinein verbreitete Methode körperlicher Züchtigung im Rahmen der Erziehung und verwirft sie nicht: "Wer den Stock spart, hasst seinen Sohn, wer ihn liebt, nimmt ihn früh in Zucht (mȗsar)" (Spr 13,24). Die Bedeutung von mȗsar darf allerdings nicht auf "körperliche Züchtigung" eingeengt werden; Ermahnung, Zurechtweisung und Verwarnung gehören ebenfalls dazu. Es geht bei mȗsar um all jene Maßnahmen, die nach dem Wissen der damaligen Zeit am besten geeignet erschienen, dafür zu sorgen, dass ein junger Mensch nicht in der Verwahrlosung endet, weil die für seine Erziehung verantwortlichen Eltern und Lehrer nicht bereit waren, dem Heranwachsenden in angemessener Weise entgegenzutreten, wenn sich zeigte, dass sein Verhalten der Gemeinschaft schweren Schaden zufügte, weil er nicht bereit war, verständige Rede anzunehmen.
Es mag paradox klingen, doch dem damaligen Selbstverständnis nach erfolgte die Züchtigung aus Liebe.
Es mag paradox klingen, doch dem damaligen Selbstverständnis nach erfolgte die Züchtigung aus Liebe. In Spr 23,12-14 wird zunächst der Sohn angesprochen: "Öffne dein Herz für die Unterweisung / Erziehung (mȗsar), dein Ohr für verständige Reden!" Anschließend wird der Erzieher ermahnt:
"Erspare dem Knaben die Züchtigung (mȗsar) nicht; wenn du ihn schlägst mit dem Stock, wird er nicht sterben. Du schlägst ihn mit dem Stock, bewahrst aber sein Leben vor der Unterwelt" (Spr 23,12-14).
Das Buch der Sprichwörter bewegte sich mit dieser Maxime auf dem damaligen internationalen Stand des pädagogischen Wissens. In der ägyptischen Lehre des Papyrus Insinger aus der Zeit um 300 v. Chr. heißt es: "Ein Junge stirbt nicht von der Strafe seines Vaters; wer aber seinen Sohn so liebt, dass dieser zugrunde geht, der geht mit ihm zugrunde. Stock und Ehrgefühl bewahren seinen Sohn vor dem Bösen." Die Beispiele ließen sich vermehren. Der Vater wird dazu angehalten, bei aller Strenge der Erziehung das rechte Maß nicht zu überschreiten: "Züchtige deinen Sohn, solange noch Hoffnung ist, doch lass dich nicht hinreißen, ihn zu töten!" (Spr 19,18).
Der hebräische Begriff mȗsar weist also ein breites Bedeutungsspektrum auf. Die Septuaginta übersetzt ihn mit paideia, einem Schlüsselbegriff der griechischen Kultur, die Vulgata mit disciplina. Die christliche Tradition ist bemüht, bei aller erforderlichen Strenge in der Erziehung den Geist der Liebe deutlicher hervortreten zu lassen: "Ihr Väter, reizt eure Kinder nicht zum Zorn, sondern erzieht sie in der Zucht (paideia) und Weisung des Herrn!" (Eph 6,4). "Ihr Väter, schüchtert eure Kinder nicht ein, damit sie nicht mutlos werden!" (Kol 3,21).
Für das Verständnis des Prologs ist nun wichtig zu sehen, dass die mit dem Begriff mȗsar verbundenen Ziele und Methoden ausschließlich auf den noch jungen, unerfahrenen Menschen zu beziehen sind. Dieser muss erzogen und gebildet werden. Darum geht es im ersten Teil des Prologs (V. 3–4). Dabei wird zunächst die Sicht des Zöglings angesprochen. Er soll "annehmen verständig machende Bildung (mȗsar), Gerechtigkeit und Recht und Redlichkeit" (V. 3). Anschließend wird die Aufgabe des Erziehers genannt. Er soll "geben (vermitteln) den Unerfahrenen Klugheit, dem Jugendlichen Wissen und Besonnenheit" (V. 4).
Weisheit für Fortgeschrittene
Im zweiten Teil des Prologs geht es um Weisheit für Fortgeschrittene (V. 5-6). Hier kommt das Wort Erziehung (mȗsar) nicht mehr vor, denn der Weise, der hier angesprochen wird, ist bereits erzogen; er hat das Curriculum der grundständigen Bildung erfolgreich durchlaufen. Doch auch dieser, so die Auskunft des Prologs, kann und soll aus dem Buch der Sprichwörter weiterhin lernen. Allerdings nimmt bei ihm der Prozess des Lernens eine andere Gestalt an. Sie ist mehr aktiv als rezeptiv ausgerichtet: Der Weise soll sich an der Fortschreibung der Lehre beteiligen, er soll sich selbst literarisch betätigen. Voraussetzung ist allerdings auch bei ihm, dass er ein Hörender bleibt: "Es höre der Weise und füge Lehre hinzu" (V 5a). Die Inhalte des von ihm zu erwerbenden Wissens gehen weit über die Elementarbildung hinaus. Der Verständige soll Führungs- und Leitungskompetenz erwerben: "Der Verständige erwerbe Führungskunst" (V. 5b).
Es handelt sich bei vielen Sprichwörtern um komplexe, anspruchsvolle Worte, die den Leser zum Nachdenken führen und ihm ein differenziertes Verständnis der Wirklichkeit erschließen sollen.
Ferner soll er in das Verständnis literarisch anspruchsvoller Texte eingeführt werden. Dieser Punkt ist für das Verständnis biblischer Texte von kaum zu überschätzender Bedeutung. Literarische Texte, zumal wenn sie in einem über Jahrhunderte hin gewachsenen Corpus – dem später so genannten biblischen Kanon – gewachsen sind, weisen einen hohen Grad an Intertextualität, das heißt: an literarischen Verknüpfungen und Anspielungen auf. Diese zu erkennen, setzt ein hohes Maß an literarischer Bildung voraus. Darum geht es bei der zu erwerbenden Weisheit für Fortgeschrittene.
Es gibt biblische Bücher, wie beispielsweise das Hohelied und das Buch Kohelet, die über weite Strecken hin als Rätseltexte verfasst worden sind. Der Sinn dieser und ähnlicher literarischer Techniken besteht darin, die Rezipienten an der Sinnkonstitution der Texte in besonderer Weise zu beteiligen, so dass sie in einen Prozess tieferen Nachdenkens hineingezogen werden. Dieser Prozess lässt sich bereits im Buch der Sprichwörter selbst beobachten. Wie noch zu zeigen sein wird, handelt es sich bei vielen Sprichwörtern, nicht zuletzt aufgrund ihrer Zusammenstellung und Kontextualisierung, um komplexe, anspruchsvolle Worte, die den Leser zum Nachdenken führen und ihm ein differenziertes Verständnis der Wirklichkeit erschließen sollen.
Bildungsreligion
Was mit wenigen Worten im Prolog des Buches der Sprichwörter zur Sprache kommt, ist für das Selbstverständnis des Judentums wie des Christentums von grundlegender Bedeutung: Beides sind Bildungsreligionen. Ohne Verstehen geht es nicht. "Verstehst Du auch, was du liest?", fragt der Diakon Philippus den äthiopischen Kämmerer, der auf dem Heimweg von einer Wallfahrt nach Jerusalem in der Rolle des Propheten Jesaja liest. "Wie könnte ich es, wenn mich niemand anleitet?", entgegnet er (Apg 8,26-40). Das Buch der Sprichwörter greift dieses Anliegen auf und hat vor über 2.000 Jahren ein Bildungsprogramm entworfen, von dem wir auch heute noch einiges lernen können.