Verachtung der Welt?Den Ruf der Weisheit hören – das Buch der Sprichwörter

Mit einem Blick in die christliche Auslegungsgeschichte soll die kleine Reihe zum Buch der Sprichwörter fürs Erste beendet werden. In der Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte biblischer Bücher können Sinndimensionen entdeckt und in Erinnerung gerufen werden, die zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind.

Aufgeschlagene Bibel
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In der christlichen Auslegungsgeschichte wurden die drei salomonischen Bücher Sprichwörter, Kohelet und Hohelied zu den drei Fächern der antiken Philosophie in Beziehung gesetzt:

Sprichwörter → Ethik (disciplina moralis)

Kohelet → Physik (disciplina naturalis)

Hohelied → Theologie (disciplina inspectiva)

In der Abfolge der drei Bücher sah man die moralisch-geistige Entwicklung des Menschen vorgezeichnet. Mit Hilfe des Buches der Sprichwörter soll der junge Mensch in die Grundlagen des sittlichen Lebens eingeführt werden. Das Buch Kohelet klärt den erwachsen gewordenen "jungen Mann" über die wahre Natur ("Physis") der sichtbaren Dinge auf: Sie sind vergänglich ("Windhauch") und verdienen nicht, vorbehaltlos geliebt zu werden. Will der Mensch nicht mit dem Vergänglichen zugrunde gehen, muss er Ausschau halten nach dem, was nicht vergeht. Dazu lädt das Hohelied ein, indem es der Seele in den Bildern von Braut und Bräutigam die Liebe zum Himmlischen einflößt.

Origenes

Ausführlich äußert sich Origenes (185-253 n. Chr.) im Vorwort zu seinem Hoheliedkommentar zur logischen Abfolge der drei salomonischen Bücher:

"Zunächst also lehrte er [Salomo] im Buch der Sprichwörter die Moral, indem er, wie es sich geziemt, in kurzen und präzisen Sätzen die Regeln des Lebens zusammenstellte. Die zweite [Disziplin], welche die natürliche genannt wird, fasste er im Buch Ecclesiastes [Kohelet] zusammen. Hier unterscheidet er, indem er vieles aus dem Bereich der Natur erörtert, das Nichtige und Sinnlose vom Nützlichen und Notwendigen, und er ermahnt, das Sinnlose zurückzulassen und das Nützliche und Richtige zu befolgen. Er behandelt auch die [Disziplin der] Betrachtung in diesem kleinen Buch, dem Hohelied, das wir in Händen halten. Hier flößt er der Seele im Bild von Braut und Bräutigam die Liebe zum Himmlischen und das Verlangen zum Göttlichen ein, indem er lehrt, auf den Wegen der Liebe und des Verlangens zur Gemeinschaft mit Gott zu gelangen" (in cant. prol. 3,6f.).

Weiter schreibt der alexandrinische Gelehrte:

"Hat jemand nun sein sittliches Verhalten gebessert und die Gebote beachtet, die im Buch der Sprichwörter zur Sprache kommen, und auf diese Weise die erste Etappe des Weges durchlaufen, dann gelangt er, wenn er die Nichtigkeit der Welt erfasst und die Zerbrechlichkeit aller hinfälligen Dinge erblickt hat, zur Absage an die Welt und an alles, was in der Welt ist, um konsequenterweise zur Betrachtung und zum Verlangen jener Dinge zu gelangen, die ewig sind und nicht gesehen werden" [cf. 2 Kor 4,18] (in cant. prol. 3,22).

Die bei Origenes erstmals anzutreffende Zuordnung der drei salomonischen Bücher zu den aufeinander aufbauenden Phasen der seelisch-geistigen Entwicklung des Menschen formte sich in der christlichen Tradition zu einem spirituellen Programm. Es prägte den Rahmen, in dem sich – bei allen Unterschieden im Einzelnen – die Auslegung dieser Bücher bis zu Beginn der Neuzeit in der christlichen Tradition vollzog.

Gregor von Nyssa

In der Tradition des Origenes steht auch Gregor von Nyssa (338-394 n. Chr.), wenn er schreibt:

"Da das Leben in den unterschiedlichen Lebensabschnitten nicht unter gleichen Bedingungen für uns fortschreitet – denn weder geht das Kleinkind den Werken der Erwachsenen nach, noch wird der Erwachsene je wieder in die Arme der Amme aufgenommen; vielmehr ist jedem Stadium des Lebens etwas anderes zuträglich und angemessen [...]. Darum erziehen die Sprichwörter auf eine Weise, und Kohelet spricht in anderer Weise; und die Philosophie, die durch das Hohelied vermittelt wird, übertrifft durch ihre höheren Glaubenssätze beide. Denn die Lehre, die durch die Sprichwörter mitgeteilt wird, richtet ihre Worte an ein noch unmündiges Kind, indem sie die Ermahnung dem Lebensalter anpasst. [...] Und so beginnt er [Salomo], ihm die Weisheit in bunter und vielfältiger Weise zu beschreiben [...] Danach schließt er die im Buch Kohelet enthaltene Philosophie für denjenigen an, der durch die Anleitung der Sprichwörter ausreichend eingeführt ist in das Verlangen nach den Tugenden. Er verwirft in dieser Abhandlung die Haltung der Menschen den sichtbaren Phänomen gegenüber und sagt, alles Unstete und Vergehende sei nichtig. [...] Und nachdem er das Herz auf diese Weise gereinigt hat von seiner Neigung zu den sichtbaren Phänomenen, führt er daraufhin das Denken durch das Hohelied im Inneren des göttlichen Adyton in die Geheimnisse ein. Was dort beschrieben wird, ist eine Art Hochzeitsvorbereitung, was aber darunter zu verstehen ist, ist die Vermischung der menschlichen Seele mit dem Göttlichen" (in cant. I, 19.22.23).

Hieronymus

Auch Hieronymus (347-419 n. Chr.) steht in der Tradition des Origenes, wenn er entsprechend der verbreiteten kanonischen Vorgabe die Abfolge der drei salomonischen Bücher drei Etappen der vom Menschen zu durchlaufenden geistig-seelischen Entwicklung zuordnet:

Im Buch der Sprichwörter lehrt Salomo "das kleine Kind (parvulum), indem er es gleichsam mit Hilfe von Sentenzen über die Pflichten unterrichtet, weshalb auch die Anrede 'Sohn' so oft wiederholt wird. Im Buch Ecclesiastes jedoch unterweist er den Mann reifen Alters, unter den Dingen der Welt nichts als bleibend anzusehen, sondern alles, was wir wahrnehmen, als flüchtig und vergänglich. Schließlich führt er im Hohelied den bereits fortgeschrittenen und in der Geringschätzung des Zeitlichen geübten Mann in die Umarmung des Bräutigams. [...] Nicht fern von dieser Ordnung der Lehre lehren auch die Philosophen ihre Schüler. Zunächst lehren sie die Ethik, dann erklären sie die Physik und schließlich führen sie denjenigen, von dem sie erkennen, dass er in diesen Fächern Fortschritte gemacht hat, bis zur Theologie" (in eccl. I, 1, 17-30).

Das Buch der Sprichwörter führt junge Menschen in ein tugendhaftes Leben ein (Ethik). Das Buch Kohelet deckt die Beschaffenheit der Welt auf (Physik), indem es dessen Unbeständigkeit und Vergänglichkeit vor Augen führt. Dabei geht es um Ablösung von falsch verstandenen Anhänglichkeiten. Kohelet ist ein Buch des Abschieds (vgl. Koh 12,1ff.). Das Hohelied bereitet denjenigen, der sich von der Welt gelöst hat, auf eine bleibende Ankunft vor (Theologie):

"Denn bevor wir nicht die Laster zurückgelassen und auf die Pracht dieser Welt verzichtet und uns auf die Ankunft Christi vorbereitet haben, können wir nicht sagen: 'Er küsse mich mit dem Kuss seines Mundes' (Hld 1,1)" (Hieronymus, in eccl. I, 1, 24-27).

Das Koheletbuch, so Hieronymus, will seine Leser zur Geringschätzung dieser Welt ("ad contemptum istius saeculi") führen und in ihnen die Einsicht wecken, dass alles in der Welt im Grunde nichtig sei ("et omne quod in mundo cerneret, putaret esse pro nihilo" (in eccl. praefatio 2-4).

Verachtung der Welt?

Spätestens an dieser Stelle dürfte sich Widerstand regen. Verachtung der Welt – ist das nicht ein Programm, das der biblischen Schöpfungstheologie und dem Glauben an die Fleischwerdung des göttlichen Wortes zutiefst widerspricht?

In der Tat ist das Motiv der Geringachtung der Welt (contemptus mundi), bisweilen auch "Entweltlichung" genannt, vielfältigen Missverständnissen ausgesetzt. Contemptus mundi bedeutet nicht, eine von Gott gut geschaffene Welt zu verachten: "Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Und siehe, es war sehr gut" (Gen 1,31). Bei der Auslegung von Koh 1,2 geht Hieronymus sofort auf dieses naheliegende Missverständnis ein: "Wenn alles, was Gott gemacht hat, sehr gut ist [Gen 1,31], wie kann dann alles Windhauch [nichtig] sein, und nicht nur Windhauch, sondern sogar ‚Windhauch der Windhauche‘ (vanitas vanitatum)?" (I, 2, 73-75). Die Aussage "omnia vanitas", so Hieronymus, ist nicht als universale und absolute Aussage zu verstehen. Die Welt ist nicht "an sich (per se)" vanitas, sondern nur "im Hinblick auf Gott (ad Deum comparata)":

"So können wir sagen, dass der Himmel, die Erde, die Meere und alles, was in diesem Erdenrund enthalten ist, für sich gesehen gut, im Hinblick auf Gott aber als nichts (pro nihilo) anzusehen sind. Ebenso bin ich, wenn ich ein kleines Lämpchen sehe, mit seinem Licht zufrieden; später aber, wenn die Sonne aufgegangen ist, kann ich nicht mehr erkennen, dass es leuchtet. Ebenso sehe ich die glänzenden Lichter der Sterne nur, wenn die Sonne untergegangen ist. So bewundere ich die Größe der Schöpfung, wenn ich die Elemente und die große Vielfalt der Dinge sehe. Erkenne ich aber, dass alles vorübergeht und dass die Welt ihrem eigenen Ende entgegengeht und nur Gott immer der ist, der er war, dann verstehe ich, nicht nur einmal, sondern zweimal zu sagen: ‚Windhauch der Windhauche, alles ist Windhauch‘" (I, 2, 85-96).

Geordnete Liebe zur Welt

Das Motiv der Geringachtung der Welt (contemptus mundi) ist in Analogie zur Dreiteilung der antiken Philosophie nicht zur Ethik, sondern zur "Physik" zu rechnen. Die Physik deckt auf, wie die Dinge der Welt in Wahrheit beschaffen sind: unbeständig. Contemptus mundi heißt, sich entsprechend dieser Einsicht zu verhalten. Es geht um eine sachgemäße Einstellung zu den Dingen der Welt und der Welt als ganzer. Das Konzept steuert einer im Menschen angelegten Tendenz entgegen, die Welt als einen Ort bleibender Erfüllung anzusehen. "Geringschätzung der Welt" heißt also: sie für "geringer" zu erachten, als der in Illusionen befangene Mensch dies gewöhnlich tut. "Verachtung der Welt" ist, genau besehen, eine Form von Aufklärung und Emanzipation. Der in Leidenschaften und Täuschungen verstrickte Mensch soll über die Wahrheit der Dinge aufgeklärt und aus deren Verstrickungen herausgeführt werden. "Verachtung der Welt" bleibt, wenn sie recht verstanden wird, in der christlichen Tradition eingebunden in eine Theologie der Schöpfung. Sie revoziert nicht die Welt als gute Schöpfung Gottes. Sie richtet sich vielmehr gegen eine (oft unbemerkte) Vergötterung der Welt, gegen Formen der Anhaftung, die der im Menschen auf Transzendenz hin angelegten Natur entgegenstehen. Nach christlichem Verständnis unterstützt das Koheletbuch den für die menschliche Reifung notwendigen Prozess der Desidentifikation mit einem falschen Ich-Konzept:

"Es täuschen sich also diejenigen, die meinen, wir würden durch dieses Buch zur Lust (ad uoluptatem) und zu einem ausschweifenden Leben aufgerufen. Das Gegenteil ist wahr: Es wird gelehrt, dass alles, was wir in der Welt wahrnehmen, eitel (uana) ist und dass wir nicht das mit Eifer erstreben dürfen, was zugrunde geht, während es (von uns) festgehalten wird" (Hieronymus, in eccl. I, 1, 67-71).

Bonaventura (1217-1274 n. Chr.) hat diese Dialektik mit Hilfe eines Bildes zu erklären versucht. Auch für ihn steht fest: Ziel (finis) des Koheletbuches ist die Geringachtung der Welt (contemptus mundi; in eccl. q. I). Dabei stellt auch er, ähnlich wie bereits Hieronymus, die Frage, wie dies mit der Güte der Schöpfung zu vereinbaren sei. Wenn die Schöpfung verachtet wird, wird dann nicht auch ihr Schöpfer verachtet ("qui contemnit mundum contemnit Deum", q. 1 sed contra 1)? Bonaventura löst das Problem anhand eines schönen Vergleichs. Er vergleicht die Welt mit dem Hochzeitsring einer Braut. Diese nimmt ihn an und liebt ihn. Würde sie ihn verachten, würde sie zugleich den Bräutigam verachten, der ihr den Ring als Zeichen seiner Liebe geschenkt hat. Würde sie den Ring aber mehr lieben als ihren Bräutigam, dann hätte sie das Wesen des Ringes nicht erkannt. So ist es auch mit der Welt. "Verachtung der Welt" (contemptus mundi) heißt also: einer im Menschen angelegten Neigung, die Schöpfung mehr zu lieben als ihren Schöpfer, zu widerstehen. Sie ist also, genau besehen, eine Form von Liebe, eine "reine Liebe" (amor castus), eine gereinigte Liebe zur Welt. (in eccl. q. I in corp. art.).

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