Selbstverschuldete ArmutDen Ruf der Weisheit hören – das Buch der Sprichwörter

Zwischen der achten und neunten Lehrrede werden vier Typen verfehlten Menschseins vorgestellt. In einem davon geht es um den Faulen und um die von ihm selbst verschuldete Armut. So wird bereits im grundsätzlich ausgerichteten ersten Teil des Buches der Sprichwörter deutlich, dass es bei der zu erlangenden Weisheit letztendlich immer um eine konkrete Lebensform geht.

Aufgeschlagene Bibel
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Im ersten Teil des Buches der Sprichwörter (Spr 1-9) wird in zehn Lehrreden in sehr grundsätzlicher Weise über die Weisheit gesprochen: "Wer mich findet, findet Leben und erlangt das Gefallen des HERRN. Doch wer mich verfehlt, der schadet sich selbst; alle, die mich hassen, lieben den Tod" (Spr 8,36). Der erste Teil des Buches schließt mit einer an "die Unwissenden und Unerfahrenen" gerichteten Einladung von "Frau Weisheit", in ihr Haus zu kommen und an einem exquisiten Festmahl teilzunehmen:

"Die Weisheit hat ihr Haus gebaut, ihre sieben Säulen behauen. Sie hat ihr Vieh geschlachtet, ihren Wein gemischt und schon ihren Tisch gedeckt. Sie hat ihre Mägde ausgesandt und lädt ein auf der Höhe der Stadtburg: Wer unerfahren ist, kehre hier ein. Zum Unwissenden sagt sie: Kommt, esst von meinem Mahl und trinkt vom Wein, den ich mischte! Lasst ab von der Torheit, dann bleibt ihr am Leben und geht auf dem Weg der Einsicht!" (Spr 9,1-6).

Zwischen der achten und neunten Lehrrede wurde ein Abschnitt eingeschoben, in denen vier Typen verfehlten Menschseins vorgestellt werden (Spr 6,1-19). In einem davon geht es um den Faulen und um die von ihm selbst verschuldete Armut (Spr 6,6-11). So wird bereits im grundsätzlich ausgerichteten ersten Teil des Buches deutlich, dass es bei der zu erlangenden Weisheit letztendlich immer um eine konkrete Lebensform geht – nach dem Motto: "An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen" (Mt 7,20).

Armut bekämpfen

Wenn in kirchlichen und theologischen Kreisen von Armut gesprochen wird, dann kommt seit einigen Jahren so gut wie ausschließlich die unverschuldete Armut in den Blick. Die Armen sind diejenigen, denen der gerechte Lohn vorenthalten wird, die von den Reichen an den Rand gedrängt und ausgebeutet werden. Diese schreiende Ungerechtigkeit, so der Tenor, widerspreche dem Evangelium und es müsse alles getan werden, um den Armen zu helfen; gesellschaftliche Strukturen, die derartige Zustände herbeiführen oder begünstigen, müssten abgebaut oder gegebenenfalls sogar zerstört werden. Diese Form einer unverschuldeten Armut ist der Bibel sehr wohl bekannt. Vor allem die Propheten beklagen sie, und in der Tora finden sich einige Gesetze, die darauf ausgerichtet sind, eine Gesellschaft ohne Armut zu schaffen: "Eigentlich sollte es bei dir gar keine Armen geben", heißt es im deuteronomischen Gesetz (Dtn 15,4).

Da aber die "Armen niemals ganz aus deinem Land verschwinden werden, mache ich es dir zur Pflicht: Du sollst deinem notleidenden und armen Bruder, der in deinem Land lebt, deine Hand öffnen" (Dtn 15,11). Im Buch Levitikus sollen auch die verarmten Fremden in die Versorgung mit einbezogen werden: "Wenn dein Bruder verarmt und sich neben dir nicht halten kann, sollst du ihn, auch einen Fremden oder Beisassen, unterstützen, damit er neben dir leben kann" (Lev 25,35). Ob die Armut verschuldet oder unverschuldet ist, lassen diese Gesetze offen. Die Hilfe, die den Armen zuteil werden soll, kommt hier von außen, von anderen Menschen, von denen, die die Möglichkeit haben zu helfen.

Armut vermeiden

Im Buch der Sprichwörter wird aus einer anderen Perspektive auf die Armut geschaut. Offensichtlich gibt es auch selbstverschuldete Armut. Es gibt Menschen, die arm sind, weil sie zu faul sind, um zu arbeiten. Um seine Schüler vor dieser Gefahr zu bewahren, scheut unser Weisheitslehrer nicht vor einer deutlichen Ansprache zurück:

6 Geh zur Ameise, du Fauler,
betrachte ihr Verhalten und werde weise!
7 Sie hat keinen Anführer,
keinen Aufseher und Herrscher
8 und doch sorgt sie im Sommer für Futter,
sammelt sich zur Erntezeit Vorrat.
9 Wie lang, du Fauler, willst du noch daliegen,
wann willst du aufstehen von deinem Schlaf?
10 Noch ein wenig schlafen, noch ein wenig schlummern,
noch ein wenig die Arme verschränken, um auszuruhen.
11 Da kommt schnell die Armut über dich,
die Not wie ein bewaffneter Mann.

Das Buch der Sprichwörter richtet sich vor allem an junge Menschen. Kinder und Jugendliche werden, wenn sie in einigermaßen geordneten Verhältnissen aufwachsen, von ihren Eltern über einige Jahre mit allem, was sie zum Leben benötigen, versorgt. Doch mit zunehmendem Alter müssen sie lernen, aus dieser Versorgungshaltung herauszukommen und sich selbst zu versorgen. Die rechte Sorge für sich und für andere ist ein wesentliches Ziel des im Buch der Sprichwörter vertretenen Ethos. Wer, obwohl er es könnte, nicht bereit ist, aus der Passivität der Versorgungshaltung herauszukommen, verdient keine Unterstützung, sondern muss ermahnt werden, sein Verhalten zu ändern.

Sich über die selbstverschuldete Armut lustig zu machen, ist als literarisches Stilmittel erlaubt, wenn der Spott darauf abzielt, junge Menschen vor den Folgen dieser Fehlhaltung zu bewahren; diese pädagogische Maßnahme darf aber nicht zu einer grundsätzlichen Verachtung der Armen führen. Auch den Armen gebührt die allen Menschen zukommende Würde; auch sie sind Geschöpfe Gottes:

14,31 Wer den Geringen bedrückt, schmäht dessen Schöpfer,
ihn ehrt, wer Erbarmen hat mit dem Bedürftigen.

Das Thema der selbstverschuldeten Armut kommt in den folgenden Teilen des Buches der Sprichwörter in verschiedenen Variationen mehrmals vor. Dass es nach vorne, in den ersten Teil gezogen wurde, deutet darauf hin, dass das Thema im Rahmen einer edukativen Weisheit als bedeutend angesehen wurde. Faulheit gilt als Zeichen von Dummheit. Der Faule bedenkt die Folgen seines Verhaltens nicht:

10,4 Träge Hand bringt Armut,
fleißige Hand macht reich.
5 Wer im Sommer sammelt, ist ein kluger Mensch,
in Schande gerät, wer zur Erntezeit schläft.
12,11 Wer sein Feld bestellt, wird satt von Brot,
wer nichtigen Dingen nachjagt, ist ohne Verstand.

Der Faule gerät nur allzu leicht in wirtschaftliche Abhängigkeit. Wer mit Fleiß und Klugheit seiner Arbeit nachgeht, kann ein selbstbestimmtes Leben führen, ist Herr im eigenen Haus:

12,24 Die Hand der Fleißigen erringt die Herrschaft,
die lässige Hand muss Frondienste leisten.

An diesem Beispiel können wir sehr schön sehen, dass das im Buch der Sprichwörter vertretene Weisheitskonzept auf Praxis hin angelegt ist, auf eine durch Klugheit geformte und auf Effizienz hin angelegte Lebensform, die der aktiven, wertorientierten Gestaltung bedarf. Bei seinen Ratschlägen beruft sich der Weisheitslehrer auf seine alltägliche Erfahrung. Dazu bedarf es keiner außergewöhnlichen Offenbarung. Wir sprechen von Erfahrungsweisheit, die von der sogenannten Offenbarungsweisheit zu unterscheiden ist. Der Weisheitslehrer macht seine Beobachtungen, denkt darüber nach, zieht Schlussfolgerungen daraus und erteilt einen Rat:

24,30 Am Acker eines Faulen ging ich vorüber,
am Weinberg eines unverständigen Menschen:
31 Sieh da, er war ganz überwuchert von Disteln,
seine Fläche mit Unkraut bedeckt,
seine Steinmauer eingerissen.
32 Ich sah es und machte mir meine Gedanken,
ich betrachtete es und zog die Lehre daraus:
33 Noch ein wenig schlafen, noch ein wenig schlummern,
noch ein wenig die Arme verschränken, um auszuruhen.
34 Da kommt schnell die Armut über dich,
die Not wie ein bewaffneter Mann.

Der Faule versucht, sein Verhalten mit fadenscheinigen Gründen zu rechtfertigen. Der Weisheitslehrer gibt sie der Lächerlichkeit preis:

13 Der Faule sagt: Ein Löwe ist auf dem Weg,
ein Raubtier ist auf den Straßen.

Genau besehen, leistet auch unser Text einen bedeutenden Beitrag zur Überwindung der Armut. Er nimmt den Angesprochenen als ein Subjekt wahr, das selbst dazu beitragen kann, sich vor Armut zu schützen. Es geht um Selbstermächtigung und Wirkmächtigkeit. Der Vergleich mit den fleißigen Ameisen, die keinen "Anführer, Aufseher und Herrscher über sich haben", soll den Schüler ermutigen, selbst die Initiative zu ergreifen und nicht abzuwarten, bis andere ihm sagen, was er tun soll. Ganz ohne Selbstüberwindung geht es nicht. Der Schüler muss lernen, der Falle einer selbstgefälligen Vermeidungsstrategie zu entkommen.

Sorge für sich und für andere

Wie wichtig dem Autor dieses Thema ist, zeigt das berühmte Schlussgedicht über die tüchtige Frau (Spr 31,10-31), das gewissermaßen die Summe des ganzen Buches darstellt. Weil die tüchtige Frau auf überaus kluge und vorausschauende Weise für sich und ihr eigenes Haus Sorge trägt, weil sie als Unternehmerin kluge Investitionen tätigt, deshalb kann sie auch den Armen und Bedürftigen helfen: "Sie öffnet ihre Hand für den Bedürftigen und reicht ihre Hände dem Armen" (Spr 31,20). Wer in der rechten Einstellung mit Fleiß seiner Arbeit nachgeht, der ist auch in der Lage, anderen Gutes zu tun. Der Faule hingegen schadet nicht nur sich selbst, sondern auch der Gemeinschaft.

"Wer nicht arbeiten will, …"

Das hier skizzierte Arbeitsethos wird auch im Neuen Testament vorbehaltlos anerkannt. Im 2. Brief an die Thessalonicher heißt es:

"Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen. Wir hören aber, dass einige von euch ein unordentliches Leben führen und alles Mögliche treiben, nur nicht arbeiten. Diesen gebieten wir und sie ermahnen wir in Jesus Christus, dem Herrn, in Ruhe ihrer Arbeit nachzugehen und ihr eigenes Brot zu essen" (2 Thess 3,12).

Bereits im 1. Brief an die Thessalonischer hatte Paulus die Mitglieder der Gemeinde ermahnt, sich in angemessener Weise um sich selbst zu kümmern, um anderen nicht zur Last zu fallen:

"Setzt eure Ehre darein, ruhig zu leben, euch um die eigenen Aufgaben zu kümmern und mit euren Händen zu arbeiten, wie wir euch aufgetragen haben. So sollt ihr vor denen, die nicht zu euch gehören, ein rechtschaffenes Leben führen und auf niemanden angewiesen sein" (1 Thess 4,11f).
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