Eine Szene in Nelio Biedermanns neuem Roman "Lázár" erinnert Ulrich Greiner an die Bilder von Vilhelm Hammershøi, dem Maler des Schweigens.

Der 22-jährige Schriftsteller Nelio Biedermann erzählt in seinem Roman "Lázár" (2025) die Geschichte einer ungarischen Adelsfamilie (vermutlich seiner eigenen). Er schildert die katastrophalen Folgen der beiden Weltkriege, den relativ kurzen Terror der Nazis, den relativ langen der Kommunisten, den Verlust aller aristokratischen Privilegien, die ersatzlosen Enteignungen und die antisemitischen Pogrome. "Lázár" ist, kurz gesagt, ein Geniestreich, ebenso spannend wie bedrückend, und ich halte das Lob, das nun von allen Seiten erschallt, für berechtigt.

Vilhelm Hammershøi: Diskreter als Vermeer

Eine (eher beiläufige) Szene ist mir aufgefallen. Die Familie flieht vor der heranrückenden sowjetischen Armee. In dem Flüchtlingstreck befindet sich auch eine junge Frau, die stoisch einen Kinderwagen vor sich her schiebt. Es herrscht bitterer Frost. Eva, die auf dem Gespann sitzende Tochter, sieht nur den Rücken der Frau und muss an Vermeer denken, dessen Frauenporträts sie liebt. "Sie konnte nicht genug kriegen von diesen Frauen, die alle ihre Geschichte hatten, die Vermeer aber nur andeutete, ihr Leben, in das er nie mehr als einen flüchtigen Blick gewährte, als sei es ihm wichtig, ihnen ihre Geheimnisse zu lassen."

Eva schätzt die Diskretion des Malers. Hätte sie Vilhelm Hammershøi (1864 bis 1916) gekannt, so hätte sie Bilder gesehen, deren Diskretion die des geliebten Vermeer noch übertrifft. Nur selten zeigt er Menschen, und falls doch, sind es Frauen: seine Gattin, seine Mutter, seine Schwester. Und fast immer sieht man sie nur von hinten, ihr Antlitz bleibt verborgen.

Wer so gut malen kann, wie der dänische Maler malen konnte, kann eigentlich nicht viel weniger malen, als Hammershøi gemalt hat. Türen, Fenster, Tische. Eine Frau im schwarzen Kleid. Rechts ein Stuhl, links ein Stuhl, in der Mitte ein Biedermeiersofa, darüber ein Bild an der Wand. Und immer wieder die Frau im schwarzen Kleid, und immer wieder die Türen. Sie öffnen sich in Zimmer mit Türen, die sich in Zimmer öffnen. Die Räume sind fast leer, durch die Fenster fällt gedämpftes Licht. Ein großes Schweigen liegt über den Bildern.

Als ich kürzlich in Kopenhagen war, besuchte ich auch die Nationalgalerie. Dort gibt es einen Raum mit Bildern von Hammershøi. Eines davon zeigt einen Raum, der so dunkel ist, dass man fast nichts erkennt. In der Mitte ein runder Tisch, auf dem zwei Kerzen brennen. Links ein leerer Sessel. Wohin sind die Menschen verwunden? Werden sie zurückkehren?

Die Hamburger Kunsthalle präsentierte 2003 eine Hammershøi-Ausstellung. Sie war ein Erfolg. Jede Zeit gibt in ihrem Kunstgeschmack etwas von sich selber preis. Dass diese stillen Bilder eine so große Bewunderung erregten, hat wohl damit zu tun, dass sie in allem unserer Gegenwart entgegengesetzt sind.

Eine Welt ohne Farben, ohne Bewegung

Die Welt, in der wir leben, ist schrill und bunt. Hammershøi zeigt uns eine Welt fast ohne Farben. Es gibt da nur ein ins Graue spielendes Rosa (das Altrosa einer alten Zeit), ein sterbendes Blau (jenes bleu mourant, von dem sich das Wort »blümerant« ableitet), ein bräunliches Grün. Von hellem Gelb ist jenes Licht, das durch die Fenster dringt und das Gold der Bilderrahmen zum Leuchten bringt. Auch gibt es keine scharfen Kontraste. Die Bilder wirken wie auf Samt gemalt, die Konturen leicht verwischt, die Übergänge wie ein Schattenspiel im Septemberlicht.

Die Welt, in der wir leben, ist in ständiger Bewegung. Hammershøi zeigt uns eine Welt ganz ohne Bewegung. Die junge Frau mit dem großen Teller unterm Arm steht wie erstarrt, aber das Bild ist nicht Teil einer in Einzelbilder zerlegten Handlung. Wir können nicht erraten, was die Frau, deren Gesicht uns verborgen bleibt, vorher getan hat, was sie zu tun gedenkt. Sie wirkt, als befände sie sich immer schon in dieser selbstgenügsamen Ruhe.

Die Welt, in der wir leben, ist voll mit Menschen und Gegenständen. Hammershøi zeigt uns eine Welt fast ohne Menschen, fast ohne Gegenstände. Und plötzlich werden diese wenigen Dinge, diese zarten Rückenansichten bedeutsam, gewinnt jede noch so schwache Farbnuance eine starke Wirkung. Wir sehen die Innenwelt der Außenwelt.

Natürlich hat Hammershøi die Bilder von Caspar David Friedrich gekannt. Bei Friedrich geht der Blick in die Tiefe eines fernen Raums, der religiöse Bedeutung gewinnt. Der Weg geht vom Irdischen weg zum Himmel. Bei Hammershøi geht der Weg nach innen – so wie Novalis gesagt hat: »Nach innen geht der geheimnisvolle Weg.« Von außen kommt nur das Licht. Es erscheint als Schattenriss auf dem Boden.

Wir sehen nur eine Gegenwelt zu der unsrigen, eine Gegenwelt ohne Appell, ohne greifbare Botschaft. Sie zeigt uns kein Glück am häuslichen Herd, sondern eine kontemplative Abgeschiedenheit, die tröstlich wirkt.

Ich weiß nicht, ob Hammershøi religiös war. Als Kind einer bürgerlichen Familie war er sicherlich Mitglied der dänischen Volkskirche. Doch seine Bilder verraten nicht, was er empfand. Er ist und bleibt ein Geheimnis. Wenn es Gott gibt, dann wirkt er in den Seelen der Menschen. Man kann ihn nicht sehen.

Wir sehen nur eine Gegenwelt zu der unsrigen, eine Gegenwelt ohne Appell, ohne greifbare Botschaft. Sie zeigt uns kein Glück am häuslichen Herd, sondern eine kontemplative Abgeschiedenheit, die tröstlich wirkt. Wobei der Trost vielleicht einfach nur darin besteht, dass man im Betrachten der Bilder zur Ruhe kommt.

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