#40 ZahnReligion ist ein hartes Brot

Vom Zahn der Gottesvergessenheit: Über leere Klöster, Phantomschmerzen des Glaubens und wie die Gottesfrage neue Dringlichkeit gewinnt.

Zähne
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Unter dem Stichwort Gottvergessenheit oder Glaubensschwund beklagen Theolog:innen das Phänomen, das Menschen ziemlich gut ohne Gott auskommen, ihnen nichts zu fehlen scheint, wenn sie durchs Leben gehen. Die letzten Nonnen verlassen ein Kloster, der prachtvolle Gebäudekomplex steht plötzlich wie ein hohler Zahn in der Landschaft.

Andersörtchen

Großer Augenblick der Investoren und Hotelketten. Oder kirchliche Planer versuchen mit ihren verklemmten Andersort-Strategien nach einer neuen Nutzung, die dann als religiös offener und zeitgemäßer ausgestaltet sein soll. Gesucht wird sodann nach kirchlichen Konzepten, die mehr Biss haben.

Nun treten die Innovationspropheten auf. Ihre Ideen sind zwar meist ebenso fad wie ihre spröden Funktionärsrhetoriken, aber der Kirchenort ist ja schließlich nicht aus budgetären Gründen geschlossen worden. Also auf zum Andersörtchen!

Warum Zähne faulen

Doch: Wer möchte schon mit einem kaputten Zahn zubeißen? Wie ist es zur Aushöhlung gekommen?

Lange Zeit hin fressen sich Bakterien durch den Zahn, bis er schmerzt. Zu spät. Höllisch reizen sie schon den vielfaserigen Nerv: lassen ihn anschwellen und entflammen ihn. Sie nisten, befallen und vermehren sich in den winzigsten Rissen, scheiden Säuren aus, fermentieren, bilden Gase und Gifte, sickern immer tiefer durch Schmelz und Zahnbein, und korrodieren auf ihrem Weg alles, womit sie in Berührung kommen.

Zitiert Thomas Mann nicht irgendwo in seinem Dr. Faustus (1947) seinen Dichterkollegen Clemens Brentano, als der Komponist Adrian Leverkühn nachts mit dem Fliegengott, dem blutigen Ludwig, also dem Teufel selbst, im Gespräch ist? "Es hat sich an der Wunde / die Schlage festgesaugt."

Wohl lieber mal früher zum Zahnarzt gegangen, hä? Oder anders gesagt: Was motiviert mich, zum Arzt zu gehen, wenn doch alles super ist, wenn es nirgends sticht, zwickt oder drückt?

Ich fürchte mich etwas vor Menschen, die so ungefragt nach Gott zu suchen scheinen, die ihn allerorts und überall als selbstverständlich, ja als zwingende Realität, Instanz oder Gegenüber voraussetzen.

Voraussicht, sagen manche Cleverle jetzt. Aber ich darf die Metapher erweitern: Warum soll ich einen Arzt oder einen Gott aufsuchen, der heilt und schützt, wenn ich weder das Bedürfnis nach Schutz noch Heilung verspüre? Wer jetzt mein utilitaristisches Gottesverständnis beklagt: Deal with it.

Ich fürchte mich etwas vor Menschen, die so ungefragt nach Gott zu suchen scheinen, die ihn allerorts und überall als selbstverständlich, ja als zwingende Realität, Instanz oder Gegenüber voraussetzen. Diese Voraussetzung ist auch die Anmaßung der Andersort-Manie, der Glaube, man könnte Gott heraufbeschwören, wo gerade ein Gebäude frei ist oder irgendeine heterotopische Lücke in der Gesellschaft zu klaffen scheint.

Das Wort Gott kommt von dem Wort Stachel

Lieber Gott in der U-Bahn, lieber Gott auf dem Gipfelwanderweg, lieber Gott in der Eiskunsthalle oder im Skate Park, lieber Gott im Evensong, lieber Gott beim Strandgottesdienst. Als sei die Gottesfrage, also eine Glaubensfrage, stets zu beantworten mit einem passenden Ort, passenden Personen, passendem Konzept, passendem Medium, passender Uhrzeit, oder passender Kommunikation.

Vergessen ist, was eine genaue Lektüre der alttestamentlichen Schriften zeigen könnte: welches Ringen, welche Situationen von Gottesfinsternis, Gottesschweigen und Gottesabwesenheit, welche Erfahrungen von Strenge, Zorn und Härte Gottes das Volk Israel gemacht hat.

Vielleicht setzen Christinnen und Christen das neutestamentliche Gottverständnis, das jesuanische Gottvertrauen, die Jünger-Theologien der Nachfolge, den marianischen Glauben hier viel zu leichtfertig voraus.

Vergessen ist, was eine genaue Lektüre der alttestamentlichen Schriften zeigen könnte: welches Ringen, welche Situationen von Gottesfinsternis, Gottesschweigen und Gottesabwesenheit, welche Erfahrungen von Strenge, Zorn und Härte Gottes das Volk Israel gemacht hat. Und: Wie so ihr Glaube sich bewährte und seine Formen reiften. Weil sie ihn spürten.

Was war Noah gestresst und schockiert von der angekündigten Flut! Wie er sich eilen musste, die Arche zu bauen, die Schöpfung zu sammeln, ausharren in Sturm und weite Ödnis des Meeres. Was für einen harten Umgang pflegte Gott mit den Patriarchen – von Abraham bis Joseph. Unter welcher Mühsal führte Moses das Volk Israel aus dem Ägypterland in die Selbstbestimmung; wie schwer war es, diese nicht wieder zu verlieren. Die Theologien des Alten Testaments sind nicht so naiv, sondern besitzen einen bewundernswerten Verismus. Dieser gerät in der dusseligen Romantik des Neuen Testaments gelegentlich aus dem Blick. Religion, das ist ein hartes Brot: mühevoll, nicht selten schrecklich. Sie braucht den Stachel, der die Gottesfrage triggert und reizt, dringlich macht bis ins Mark. Klagt nicht Hiob über seinen Schöpfer: "Sein Zorn zerreißt, befehdet mich, knirscht gegen mich mit den Zähnen" (Hiob 16.9)?

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