Zur Genesis des Obrigkeitsstaates in Deutschland

In seinem bekannten Brief über die Obrigkeit hat Bischof Dibelius die Frage aufgeworfen, ob Luthers Übersetzung vom Römer 13 "Jedermann sei Untertan der Obrigkeit" für die heutige Zeit noch Gültigkeit besitze oder ob es nicht besser sei, statt des Wortes Obrigkeit einen anderen Ausdruck zu wählen. Er erinnert an die Herkunft des Wortes aus dem Gottesgnadentum und fährt fort: "Es war begnadetes Sprachgefühl, das dies Wort gewählt hat. Nur - die Sache, die das Wort bezeichnete, die gibt es heute in Deutschland nicht mehr ... Das Wort ist verschwunden, weil die Sache verschwunden ist. Und zwar ist sie seit dem Tage verschwunden, an dem man eine Staatsordnung aufgerichtet hat, die sich auf Parteien aufbaut ... Der Regierende Bürgermeister von Berlin, wenn er zu einer anderen Partei gehört als ich, kann für mich nicht in dem Sinne Autorität sein, wie es für Martin Luther der Kanzler Brück war und der Kurfürst, der hinter seinem Kanzler stand ... Daß der Staat mit seiner Ordnung bejaht, respektiert und in seiner Würde geachtet werde, ist unser aller gemeinsames Interesse. Und wir glauben als Christen, daß das auch Gottes Wille ist. Aber das ist keineswegs gleichbedeutend mit Autoritätsstellung derer, die die staatliche Macht jeweils verwalten ... Um diese Mächte als Ganzes geht es. Es geht um das System. Und dieses System ist heute nicht mehr ungebrochene, sondern gebrochene Autorität." 1

Gebrochene Autorität - das ist für Dibelius keineswegs nur der östliche Einparteistaat, gegen den sich der Obrigkeitsbrief in erster Linie wendet. Auch der westliche Parteienstaat - dessen verschiedene Formen hier nicht näher unterschieden werden - gehört für ihn in die Linie der geschichtlichen Entwicklungen, die zur Auflösung von Obrigkeit im alten Sinn beigetragen haben; auch er ist ein Stück "gebrochener Autorität". Hier wird ein grundsätzlicher Zweifel an der Legitimität demokratischer Regierungen laut, ein innerer Vorbehalt, der aus dem Verlangen nach starken, unverfügbaren, dem Wechsel der Mehrheitsverhältnisse entzogenen staatlichen Ordnungen kommt. Die Frage ist erlaubt, ob dieser Zweifel auf den deutschen Protestantismus oder auf die Generation von Dibelius beschränkt

1 Dem Beitrag liegt der Text eines Vortrags zugrunde, der beim 2. Salzburger Forschungsgespräch im Sept. 1963 gehalten wurde. Zitierung nach dem 1959 veröffentlichten, heute nur schwer zugänglichen Privatdruck von Dibelius: Obrigkeit. Eine Frage an den 60jährigen Landesbischof (sc. Lilje, Hannover). Inzwischen hat Bischof Dibelius eine erweiterte und umgearbeitete Fassung seiner Schrift erscheinen lassen: Obrigkeit (Kreuz-Verlag, Stuttgart-Berlin 1963), in der die Schärfe der ursprünglich vorgetragenen Thesen vielfach abgeschwächt ist. Die oben zitierten Stellen finden sich nur in der ersten Fassung. 

 ist oder ob sich nicht hier vielmehr etwas äußert, was als geistiger oder institutioneller Reflex älterer staatlicher Ordnungen noch heute das politische Leben Deutsch­lands - freilich wohl mit nachlassender Formkraft2 - bestimmt und prägt.

Reformatoren und "Obrigkeit"

Zunächst ist genauer abzugrenzen, in welcher Weise die Reformatoren zur Ent­wicklung des Begriffs Obrigkeit und der Institutionen des "Obrigkeitsstaates" bei­getragen haben, wobei man von vornherein unterscheiden muß zwischen den aus­drücklichen Plänen, Zielen, Willensäußerungen der Reformatoren und den oft un­absichtlich oder unerwünscht sich einstellenden pragmatischen Wirkungen und Nebenwirkungen der Reformation.

Der Traktat von den weltlichen Ordnungen, vom Politischen, steht nicht im Zentrum der reformatorischen Lehre; und die Frage nach einer wie immer gearteten reformatorischen Staatslehre oder Politik führt am eigentlichen Problem vorbei. Es ist oft festgestellt worden (und wird aus Luthers Äußerungen über politische und wirtschaftliche Fragen deutlich), daß die deutschen Reformatoren auf dem Gebiet von Staat und Recht nicht eigentlich schöpferisch waren; sie übernahmen die gängigen Begriffe und Tendenzen ihrer Zeit und formten sie, wenig verändert, in ihre religiöse Predigt ein. Aufgewachsen in einfachen, meist ländlichen Verhältnissen, ohne Berührung mit dem Hofleben oder einer ausgebildeten wirtschaftlichen Stadtkultur, haben die reformierten Schriftsteller die politische Welt fast nur in den kleinräumigen Verhältnissen des Territorialstaats erlebt, in einer engumgrenzten Welt, über der sich der ferne Himmel des Reiches wölbte; ihr politisches Denken - personalistisch, familien- und gemeindegebunden, mit Liebe im engen Kreis hausväterlicher Sorge verweilend - blieb zeitlebens auf diese überschaubaren Verhältnisse fixiert. Wenn Luther vom weltlichen Regiment, von "Oberkeit", Herren, Majestät redet, so vermeidet er damit Begriffe, "die außerhalb der scholastischen oder humanistischen Tradition stehen" und die sich durch ihr "eigentümlich institutionsloses Dasein" und ihre Personalität auszeichnen3. Man sieht leicht, daß sich in dieser Umwelt eine eigentliche Staatstheorie kaum entfalten konnte, wenn man einmal von der humanistischen Pflege der aristotelischen Ethik und Politik an den Schulen und Universitäten des lutherischen Deutschlands

2 Es sei nur an die fast einhellige Ablehnung der Obrigkeitsthesen von Dibelius - soweit sie den modernen Verfassungsstaat im ganzen betrafen - in der westdeutschen Öffentlichkeit erinnert; auch die erfreulich wache und scharfe Reaktion auf die Spiegel-Affäre gehört in diesen Zusammenhang. 3 So A. Voigt in der Einleitung zu einem demnächst in der Reihe POLITICA erscheinenden Textband "Der Herrschaftsvertrag". - Schon hier sei bemerkt, daß dieser familienhaft-personale Zug, diese Neigung, die "herzliche affection, die Lieb und das gute Vertrauen" auch als Grundlage der politischen Ordnung zu nehmen, zu den beständigsten Merkmalen lutherischen Denkens über Staat und Recht gehört: in diesem Sinn hat sich die strenge Vatergestalt Friedrich Wilhelms I. mit seinem hausväterlichen Regiment den lutherischen Untertanen eingeprägt; in diesem Sinn hat noch Novalis in "Glauben und Liebe" (1798) das Königspaar als Repräsentation der preußischen Staatsidee begriffen, indem sich in seinem "poetischen Staat" ein "Hof in eine Familie, ein Thron in ein Heiligtum, eine königliche Vermählung in einen ewigen Herzensbund" verwandelte. 

 absieht4; das deutsche Luthertum hatte deshalb am Kampf der Monarchomachen keinen Anteil, und sein Beitrag zur Ausbildung der naturrechtlichen Vertragstheo­rien blieb gering.

Auf die Probleme der weltlichen Ordnung wurden die Reformatoren durch zwei Umstände gestoßen: zuerst durch den Konflikt mit Kaiser und Reich infolge des reichsrechtlichen Religionsbanns gegen Luther und der Verfolgung seiner Lehre durch die weltliche Gewalt; sodann durch den Konflikt mit dem auf Luthers Lehre sich berufenden Bauern-, Schwärmer- und Täufertum. Aus dieser doppelten Frontstellung, in die sich die Reformatoren von Anfang an hineingedrängt sahen, erklärt sich der oft festgestellte Unterschied in ihren Äußerungen über Obrigkeit, Gehorsamspflicht und Widerstand, der Wechsel zwischen einer mehr aufständischen und einer mehr friedliebenden, duldenden, ja quietistischen Tonart. Auf der einen Seite die heftige Kritik an Machthabern und Zuständen, die sich vom "Christlichen Adel" bis zur Altersschrift "Wider Hans Worst" als Orgelpunkt durch Luthers Werk hindurchzieht, die Mahnung an die Herren, daß "die gemeinen nicht so yhr eigen sind wie sew und hunde"5, der unbedingte Tenor des "Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen", ja die Zuerkennung eines Widerstandsrechtes gegen­über dem Kaiser in all den Dingen, wo Religion gegen weltliches Gebot steht; kurz all das, was der Reformation - weniger in Deutschland selbst als in andern Ländern - ihre gewaltige Stoßkraft gegenüber den älteren politischen Ordnungen verlieh. Auf der anderen Seite ein schroffes Abrücken von allen Versuchen der Fortsetzung der religiösen Reform ins Politische hinein, die barsche Vermahnung zum Gehorsam an alle Aufrührer, seien sie Bauern, Reichsritter oder irregegangene Lutheraner, die Anerkennung der weltlichen Obrigkeit als Schicksalsmacht und "gotes mummerey" und schließlich, hieraus folgend, die Predigt bedingungsloser Unterwerfung gegenüber den politischen Gewalten. In beidem ist kein Widerspruch: gerade die strikte Beschränkung auf die religiöse Botschaft, die Erneuerung der reinen Lehre zwangen Luther zur Abwehr, als die religiöse Bewegung - mächtig gesteigert durch sein Verdammungsurteil über alle bisher gültigen Ordnungen und Autoritäten - ins Politische übergriff und sich mit der demokratischen Volksbewegung des deutschen Spätmittelalters zu verbinden drohte. In der "Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben" ist dieser Gedanke am Vorabend des Bauernkrieges deutlich ausgesprochen: "Es hat Babst und Keyser widder mich gesetzt und getobet. Nu wo mit hab ich da hyn bracht, das yhe mehr Babst und Keyser tobet haben, yhe mehr meyn Evangelion ist fort gangen? Ich habe nie kein schwert gezuckt, noch rache begerd, Ich habe keyn rotterey noch auffrur angefangen, sondern der weltlichen oberkeyt, auch die, so das

4 Darüber P. Petersen, Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland (Leipzig 1921), und H. Maier, Die Lehre der Politik an den deutschen Universitäten vornehmlich vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: Wissenschaftliche Politik, hrsg. von D. Oberndörfer (Freiburg 1962). 5 WA 31, I, 194, 32.

evangelion und mich verfolget, yhr gewalt und ehre helffen verteidingen, so viel ich vermocht. Aber da mit bin ich blieben, daß ichs Gott gar heym gestellt, und allezeit auf seine hand mich trozlich verlassen habe, darumb hat er mich auch zu trotz beyde Babst und allen tyrannen nicht alleyne bey dem leben erhalten .. . sondern mein Evangelion ymer lassem mehr und weyter zunemen. Nun fallet yhr mir dreyn, wollet dem Evangelio helfen, und sehet nicht, daß yhrs damit auffs aller höhest hyndert und verdruckt." 6

Es ist nicht zu verkennen, daß die deutschen Reformatoren, je mehr sie genötigt waren, den gärenden Gehalt der neuen Lehre in feste Formeln zu fassen und gegenüber den Schwärmern abzugrenzen, auch ihre Haltung gegenüber den weltlichen Gewalten modifiziert haben. Die geschilderte Zweiseitigkeit der "Vermahnungen" und Warnungen ging dabei zwar nicht völlig verloren; aber sie wurde jetzt doch immer mehr zu einer Mahnung zum scharfen Durchgreifen nach der einen, zum bedingungslosen Gehorchen nach der anderen Seite hin. Luthers Eingreifen in den Bauernkrieg7 bringt die entscheidende Wendung: die alte Auffassung des politi­schen Gemeinwesens als einer Zweiheit von Dienst und Schutz verblaßt, die bürgerliche Gesellschaft tritt auseinander in ein Gegenüber von Befehlenden und Gehorchenden, wobei sich das aktive Moment ausschließlich am Pol des Fürstentums, das passive ebenso ausschließlich am Pol des Volkes sammelt. Dementsprechend verliert das Widerstandsrecht seine zentrale Stellung, die es in der älteren deutsch­rechtlichen Tradition noch hatte: gegenüber der "christlichen oberkeit" - ein Begriff, der von den Dreißigerjahren an bei Luther auftaucht - hat es keinen Sinn mehr, und eine rein weltliche Legitimität wird ihm nicht zugestanden. Mit dem lutherischen Staatskirchentum kündigt sich die Tendenz zur Überführung des älteren Gemeinwesens in einen scharf nach Befehls- und Gehorsamsfunktionen gegliederten "Obrigkeitsstaat" an. Damit sie sich realisierte, mußten freilich bestimmte Bedingungen gegeben sein, die nicht in der Predigt der Reformatoren, sondern in den staatlichen Verhältnissen des damaligen Deutschlands lagen.

Zunächst war hier entscheidend, daß die Reformatoren zur Durchsetzung, Stabilisierung und institutionellen Bindung ihrer Lehre des Vehikels der Fürstenmacht und des Territorialstaats nicht entraten konnten. Das wird in Luthers Lebensgeschichte hinreichend deutlich; es prägt auch sein seelsorgliches, kirchenorganisatorisches Werk. Man hat den Grund dafür, daß Luther seinen Kirchenaufbau auf die Landesfürsten stützte, im niedrigen Kulturniveau der obersächsischen Bauernbevölkerung und des Landadels sehen wollen, dessen Patronatsrechte der Neuordnung überall im Wege standen; ein wirkliches Gemeindeleben, wie es Calvin und Zwingli in den städtischen Kulturzentren der Schweiz aufbauten, habe sich hier

6 WA 18, 313. 7 In seiner sozialgeschidhtlichen Bedeutung gewürdigt bei F. Lütge, Luthers Eingreifen in den Bauernkrieg in seinen sozialgeschichtlichen Voraussetzungen und Auswirkungen, jetzt in: Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Gesammelte Abhandlungen (Stuttgart 1963), S. 112 ff.; zum folgenden vgl. auch K. von Raumer, Absoluter Staat, korporative Libertät, persönliche Freiheit, in: Historische Zeitschrift 183 (1957), 55 ff.

nicht entfalten können8. Aber waren Stumpfsinn, Gleichgültigkeit in religiösen Dingen und Habgier nur bei den Bauern und beim Adel des flachen Landes anzutreffen? Ist nicht bei aller Bedeutung religiöser Motive ein Grundantrieb für den Übertritt der Fürsten zum Protestantismus die Aussicht auf den Gewinn von Kirchengut gewesen - so sehr, daß der Augsburger Religionsfrieden diesem Drang einen Riegel vorschieben mußte? Und konnte nicht noch Pufendorf den Fürsten den Rat geben, den Protestantismus anzunehmen, da er ihnen mehr Macht über die Untertanen gebe?9 Wie immer man hier die Akzente setzt, sicher ist, daß die Reformation nicht erst den obrigkeitlichen Weg beschritt, nachdem ein genossenschaftlich-demokratischer sich als nicht gangbar erwiesen hatte: schon ihre allerersten Schritte waren nicht denkbar ohne die Mithilfe des Landesfürstentums. Umgekehrt aber war die reformatorische Lehre und ihre landeskirchliche Verfestigung ein wesentliches Bildungsprinzip des werdenden Territorial- und Fürstenstaates, sie hat ihm, über die Schwelle einer unselbständigen Existenz als Reichspartikel und Verwaltungssprengel hinweg, zu realer Eigenstaatlichkeit verholfen.

Man denke nur daran, wie sehr religiöse und politische Einheit in den Terri­torialstaaten einander wechselseitig bedingten und stützten! Dadurch, daß der Augsburger Religionsfriede die Religion, den konfessionellen Besitzstand, schützte, schützte er auch zugleich das konfessionell einheitliche Territorium. Im Reichsgebiet als ganzem konnten sich weder Reformation noch Gegenreformation je völlig durchsetzen; das Reich blieb paritätisch, es widerstand allen Versuchen der Katholisierung oder Protestantisierung. Aber in den Territorien waren die Konfessionen Herren und Meister. "Die Zeiten, worin die Religion sich spaltete", hat später Hegel in seinem Rückblick auf die Verfassung des deutschen Reichs gesagt, "waren zu ungeschickt, die Kirche vom Staat zu trennen und, der Glaubenstren­nung ungeachtet, diesen zu erhalten, und die Fürsten konnten keinen besseren Bundesgenossen finden, um sich der Oberherrschaft des Reichs zu entziehen, als das Gewissen ihrer Untertanen ... Der deutsche Charakter warf sich auf das Innerste des Menschen, Religion und Gewissen, befestigte von hier aus die Vereinzelung, und die Trennung des Äußern als Staaten erschien nur als eine Folge hievon."10

Zwei Züge des lutherischen Territorialstaats erklären sich aus diesem politisch­ religiösen Erbe der Reformation: einmal die Ausdehnung und Intensivierung der Staatsaufgaben, die mit der Übernahme kirchlicher Funktionen, vor allem im Bereich der Schule und Wohlfahrtspflege, Hand in Hand ging, sodann - eng damit zusammenhängend - die allmähliche Auflösung oder doch Abschwächung des für die ältere Staatsbildung im Abendland grundlegenden Dualismus von Kirche und weltlicher Ordnung, der im lutherischen Landeskirchentum einer weitgehenden Verschmelzung, Unifizierung beider Mächte weichen mußte. Man hat von einem

8 Vgl. die bei Lütge a.a.O. 125 m. Anm. 23 angeführte Literatur. 9 Hierzu H. Ehmke, "Staat" und "Gesellschaft" als verfassungstheoretisches Problem, in: Staatsverfassung und Kirchenordnung (Festgabe für R. Smend), Tübingen 1962, 23 ff. (30). 10 G. W. F. Hegel, Die Verfassung des Deutschen Reichs, ed. Mollat (Stuttgart 1935), 58, 61.

religiösen Polizeistaat gesprochen, von einem "um die Kirche bereicherten Staat"11; man könnte ebensogut von einer verstaatlichten, ins Politische aufgelösten Kirche sprechen, die ihrer rechtlichen Autonomie im alten Sinne verlustig gegangen ist12. Nimmt man noch hinzu, daß der lutherische Territorialstaat - klein und ohne starke politische Dynamik - den bürgerlichen Schichten nur geringen Spielraum wirtschaftlicher oder kultureller Betätigung bot, so daß die Aufstiegchancen fast ausschließlich in den staatlichen Ämtern lagen13, bedenkt man weiter, daß bei allem Fortschreiten zu einer religiös gefärbten Staats- und Amtsethik der patriarchalisch-personale Charakter des Gemeinwesens erhalten blieb, Staat und Fürst zusammenfielen, so hat man die Eigenart dieses Staatswesens in den gröbsten Zügen umrissen.

Diese politischen Wirkungen sind aus der religiösen Botschaft der Reformatoren nicht einfach abzuleiten, sie hängen mit den sozialen und politischen Verhältnissen zusammen, in denen ihre Lehren wirksam wurden. Andere Länder haben das, was die Reformatoren über Obrigkeit, weltliches Regiment und Gehorsam schrieben, nach anderen Richtungen hin gewendet: was bei uns zu lutherischem Fürsten-, Untertanen- und Beamtenethos wurde, wurde dort zu einem "sich in Widerstand, Demokratie und Grundrechten auswirkenden Aktivismus"14. Es wäre zu einfach, wollte man den Obrigkeitsstaat geradlinig aus dem Denken der Reformatoren über die Obrigkeit ableiten. Aber die Unbedingtheit, mit der die Reformatoren den weltlich-politischen Bereich vom Glauben trennten und unter die Adiaphora verwiesen, das Absehen von der konkreten Sozialität des religiösen Lebensvollzugs hat doch dahin gewirkt, daß die soziale Umwelt, so wie sie war, übernommen und konserviert wurde oder daß die neu andrängenden politischen Mächte, vor allem der fürstliche Absolutismus, in ihrer Wirkung um so freieren Lauf erhielten.

Politische Institutionen des Territorialstaats - Preußen

Das geschichtliche Leben des Terriorialstaats15 wurzelt nicht mehr in der Zweiheit von Land und Herrschaft - die ständischen Einrichtungen verfallen in Deutschland, von wenigen Schutzzonen abgesehen, vom 16.-18. Jahrhundert fast völlig16-, es nimmt einseitig aus der fürstlichen Kanzlei und Kammer seinen Ursprung. Verwaltung, "gute Polizey", Friedeschutz nach innen und außen, Rationalisierung

11 K. von Raumer a.a.O. 83. 12 Im einzelnen sind hier freilich erhebliche landschaftliche und zeitliche Differenzierungen zu beachten. Vgl. all­ gemein zum landesherrlichen Kirchenregiment J. Heckel, Cura religionis, ius in sacra, ius circa sacra, in: Festschrift U. Stutz (Kirchenrechtliche Abhandlungen) H. 97/98 [1938], 224 ff. 13 Darauf hat A. Müller-Armack in verschiedenen Arbeiten immer wieder hingewiesen; vgl. zuletzt Religion und Wirtschaft (Stuttgart 1959) 125 ff. 14 So die Formulierung von R. Smend, Art. "Staat" im Evangelischen Kirchenlexikon, Bd. III, Sp. 1107; vgl. Ehmke a.a.O. 31. 15 Zum folgenden meine 1965 erscheinende Studie "Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre", wo die geschilderten Zusammenhänge breiter ausgeführt sind. 16 Letzte Übersicht bei F. L. Carsten, Princes and parliaments in Germany from the Fifteenth to the Eighteenth Century (Oxford 1959).

des Rechtsherkommens durch zentralisierte Gerichtsorganisation und Kodifikationen, erste Ansätze einer planvollen Wirtschaftsförderung - das sind die Leistungen einer intensivierten Staatlichkeit, mit denen der Territorialstaat - nicht Rechte usurpierend, sondern ein Vakuum ausfüllend - dem Reich allmählich den Rang abläuft. Als ein auf Verwaltung, Polizei (im älteren Sinn) gegründeter Staat tritt der Territorialstaat aus der älteren Tradition des politischen Gemeinwesens heraus. Das Wort "Staat", zuerst auf ihn, nicht auf das Reich angewendet, spiegelt diesen Vorgang deutlich wider: indem es einen Macht- und Besitzstand des Fürsten bezeichnet, meint es etwas anderes als die ältere societas civilis sive respublica17. Solange das Reich noch bestand, konnte der Territorialstaat bei aller faktischen wirtschaftlichen und militärischen Macht kein wirkliches politisches Gemeinwesen werden. Seine Legitimation beruhte daher - zumal in der Verwirrung und Verwüstung nach dem Dreißigjährigen Krieg - allein auf der Fähigkeit zur Errichtung einer notdürftigen inneren Ordnung. Hier lag der geschichtliche Auftrag des deutschen Landesfürstentums, und hier lag auch der Ansatzpunkt für die spätere staatsrechtliche Gestaltung der Existenz des Territorialstaats: vom jus supremae inspectionis und vom jus politiae - obersten Rechten der Verwaltung - hat die territorialstaatliche Souveränität und "Landeshoheit" ihren Ausgang genommen.

Es ist für die Bildung des Territorialstaats entscheidend gewesen, daß Luther dem Fürstenstand in der Entscheidungsschlacht mit dem Bauerntum zu Hilfe geeilt war und seinem Sieg die religiöse Sanktion verliehen hatte. Der neue Staat erhielt so vom Religiösen her die Weihe, die ihm vom Politischen her fehlte: das Fürstenamt, der Fürstendienst - als Weltamt von Luther in eine religiöse Unmittelbarkeit zu Gott gestellt und von innerem Pflichtethos durchdrungen - stieg jetzt zur Würde einer quasi-geistlichen Berufung empor. Dem entspricht der deutlich veränderte Ton, mit der die Theologen und Prediger des 17. Jahrhunderts von der Obrigkeit sprechen. "Sehen also", sagt der Geraer Superintendent Friedrich Glaser im Jahre 1612, "daß die hohe Obrigkeit dem lieben Evangelium nimmermehr genugsam danken könne, welches Doktor Luther wiederumb purgiert und gereinigt und mit seinen getreuen Mitgehülffen den Baum weltlicher Obrigkeit auß dem Koth und Schlamm wiederumb herfür gezogen und gantz herrlich gemacht haben, dafür sie jhme und seinen getrewen Successorn nimmermehr genugsam dancken können." Oder der Magister Seiferd: "Nu aber das Seligmachende Evangelium wider an den Tag kommen und die Päpstliche Abgötterey und Tyranney entdeckt ist, hat dieser Stand - nämlich die Obrigkeit - seine vorige reputation wider erlanget." 18 Auch die christliche Staatslehre des 17. Jahrhunderts ­Reinking, Friedlieb, Seckendorff - ist voll von solcher Obrigkeitsverehrung; sie verbindet die Ermahnung zum Respekt vor den weltlichen Gewalten mit dem Pathos des strengen Gehorsams gegen Gottes Wort.

17 Ehmke a.a.O. 27 f. 18 Zit. bei W. Elert, Morphologie des Luthertums, Bd. II (Neudruck München 1958) 300.

Der strikt betonte und bis zum Ende des alten Reiches festgehaltene christliche Charakter des Territorialstaats verbot eine Übernahme der aus Italien kommenden Staatsräson-Lehren: bei den lutherischen Gelehrten finden sich zahlreiche und heftige, oft geradezu belustigend anmutende Ausfälle gegen die "Ratio Status Diabolici". Aber auch das moderne Naturrecht hat im lutherischen Territorialstaat keinen rechten Platz gewonnen: hier standen das bildhaft-personale patriarchalische Fühlen und der Ausfall einer spezifischen Moralphilosophie oder -theologie infolge der strikten natura-corrupta-Lehre im Weg. Die naturrechtlichen Gegenströmungen gegen den konfessions-staatlich geprägten Absolutismus waren in Deutschland sehr viel schwächer als in anderen Ländern, und wo sie zum Durchbruch kamen, wie bei Oldendorp, Pufendorf, Thomasius und Wolff, mußten sie sich den institutionellen Gegebenheiten des Territorialstaates und des fürstlichen Regiments anpassen. Das zeigt sich insbesondere bei dem bedeutendsten Vertreter der naturrechtlichen Tradition in Deutschland, bei Samuel Pufendorf19. Sein Naturrecht steht nicht - wie das westliche - in kritischer Distanz zum Staat, es wächst nicht aus einem religiösen Protest gegen Bedrückung des Gewissens oder dem Verlangen nach politischer Freiheit; es ist rein staatsimmanent und wirkt, ganz im Sinn der überlieferten, religiös vertieften Lehre vom "imperium limitatum", vom "gelinden regiment", als inneres, pflichtenethisches Korrektiv einer prinzipiell aus der politischen Kontrolle entlassenen Obrigkeit. Aber Pufendorf konnte seiner Naturrechtslehre eben deshalb eine obrigkeitsstaatliche Wendung geben, ohne in den Absolutismus seines Zeitgenossen Hobbes zu fallen, weil ihm im deutschen Fürstenstaat seiner Zeit kein absolutes Regiment, sondern ein religiös gebundenes Heerscherideal mit ausgeprägter Pflichtenethik gegenüberstand. So hat alles, was in seiner Staatslehre in die Zukunft weist - die Betonung der Freiheit und Würde des einzelnen, die Bedeutung des Sozialen, der wechselseitigen Pflichtbindungen zwischen Herrscher und Untertanen (freilich unter Ausklammerung des Wider­standsrechts) - in dieser Pflichtenethik einer aufgeklärten Obrigkeit seinen Ursprung, und es verkürzt sein Verdienst nicht, daß sich gerade diese Lehren stärker in den westlichen Ländern, vor allem in den USA, ausgewirkt haben als bei uns20 .

So dehnt der fürstliche Absolutismus die Tätigkeiten des Staates auf dem Weg des Gebotsrechts - dem nur noch selten ständischer Schluß oder städtische Verwillkürung bestätigend zur Seite treten - über das soziale Leben und die Masse seiner rechtlich mehr und mehr gleichgestellten Untertanen aus. Den Umkreis der neuen Tätigkeiten findet man in den Landes- und Polizeiordnungen der Zeit bezeichnet; systematisch geordnet werden sie von den frühen Regimentsschriftstellern und später von den Kameralisten und Polizeischriftstellern, den Enzyklopädisten der fürst-

19 Die folgenden Bemerkungen stützen sich vor allem auf De Officio hominis et civis; vgl. auch H. Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs (Berlin 21958); ders., Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (Göttingen 31960) 145 ff.; und vor allem Ehmke a.a.O. 28 ff. 20 Dazu H. Welzel, Ein Kapitel aus der Geschichte der amerikanischen Erklärung der Menschenrechte (John Wise und Samuel Pufendorf), in: Rechtsprobleme in Staat und Kirche (Festschrift R. Smend) 1952, 387 ff.

lichen Verwaltungstätigkeit im 17. und 18. Jahrhundert. Liest man etwa Seckendorffs um die Mitte des 17. Jahrhunderts entstandenen "Teutschen Fürstenstaat", das Grundbuch der Verwaltung des Territorialstaates bis zum Ende des alten Reichs, so wird deutlich, wie sehr die Territorialverwaltung zu dieser Zeit schon über den in den alten Gesetzen und Ordnungen umschriebenen Aufgabenkreis hinausgewachsen ist. Neben die früheren Rechts- und Friedewahr-Aufgaben, die den Kern der mittelalterlichen Staatlichkeit bilden, ist eine umfangreiche Wirtschafts­ und Wohlfahrtspolizei getreten, deren Instrumente Zölle, Taxen und Steuern, unternehmensfördernde Privilegierungen und endlich Zucht-, Waisen-, Armen- und Spinnhäuser sind. Eine umfassende Kameralpolizei, vom Bereich des fürstlichen Kammergutes auf das ganze Territorium übergreifend, betrieben von einem rational, bald auch akademisch geschulten Beamtentum gesellt sich hinzu. Den dritten großen Komplex bilden die durch Auflösung der selbständigen Kirchenorgani­sation dem Staate neu erwachsenen Erziehungs-, Bildungs- und Wissenschaftsaufgaben - unter kräftigem Einschluß bisher in der Kirchendisziplin beheimateter seelsorglicher Obliegenheiten. Gerade hier gewinnt die Polizei des Territorialstaates jene ethisch-religiöse Tönung, die dann als ein charakteristischer Zug in der späten deutschen Verwaltungslehre und im Ethos des landesfürstlichen Beamtentums weiterlebt21.

Der lutherische Fürstenstaat hat den außerordentlichen Machtzuwachs, den er durch die Säkularisierung des Kirchengutes und die Lostrennung der Kirche von der römischen Jurisdiktion erfuhr, bewußt durch eine ethische Politik zu vergelten gesucht. Und obwohl ihm dies auf die Dauer nicht gelang, obwohl infolge mangelnder Unabhängigkeit, mangelnder Möglichkeit zur wechselseitigen Korrektur der Staat allmählich zum sittenregulierenden Polizeistaat, die Kirche zur geschichts­losen Orthodoxie sich zu verhärten drohte, hat sich doch der Ausbruch aus dem christlichen Staatsgefüge in die Ungebundenheit der Machtpolitik und der reinen Staatsräson erst spät, im 18. Jahrhundert, vollzogen. Bis dahin beherrscht eine höchst eigentümliche, für die deutsche Staatsentwicklung bedeutsame Konfiguration von Kirche und Politik das Feld, die noch im 19. Jahrhundert, deutlich etwa in Bismarcks Sozialpolitik, nachwirkt: der christliche Erziehungs- und Wohlfahrtsgedanke - ein politisches Legat, das die verstaatlichte lutherische Kirche dem "Teutschen Fürstenstaat" des 16.-18. Jahrhunderts vererbt hat.

Es ist ein noch nie im Zusammenhang gewürdigtes, ja noch kaum bemerktes Faktum, daß die großen deutschen Staatslehrer der Neuzeit - von Osse und Seckendorff bis zu Hegel und Lorenz von Stein - eigentlich allesamt Verwaltungslehrer, Wohlfahrtstheoretiker gewesen sind. Deutschland hat den großen westlichen Staatslehrern des 16.-18. Jahrhunderts - einem Machiavelli, Bodin, Grotius, Hobbes - kaum einen ebenbürtigen Namen an die Seite zu stellen; weder der Gedanke

21 Vgl. L. von Seckendorff, Teutscher Fürsten-Stat (1656); vgl. auch G. K. Schmelzeisen, Polizeiordnungen und Privatrecht (= Forschungen zur neueren Privatrechtsgeschichte, Bd. 3) (Köln 1955).

der Staatsräson noch der des Naturrechts haben hier in dieser Zeit eine Heimstatt gefunden; aber an den sittlichen Zweck des Staates, an die Schaffung "gemeiner Wohlfahrt" und "guter Polizey" hat man immer gedacht. Hier liegt der eigentümliche Beitrag Deutschlands - und der lutherisch reformierten Länder überhaupt ­ zum modernen Staatsgedanken: es ist ein Denken "aus dem Staat heraus" (Müller-Armack), das zur offenen Distanznahme, zum naturrechtlichen Messen des Staates an einer über ihm stehenden Ordnung ebenso unfähig wie zur langsam bedächtigen Reform des Bestehenden in hohem Maß geeignet ist. Der deutsche Fürstenstaat, aus lutherisch-reformatorischem Antrieb erwachsen, ist so nicht nur der Anfang des modernen kontinentalen Staatskirchentums geworden, sondern zugleich eine erste Ausprägung des neuzeitlichen Kultur- und Wohlfahrtsstaates. Wurde doch fast alles, was die mittelalterliche Kirche - die germanische Herrschaft überholend - an verwaltender und regierender Tätigkeit entwickelt hatte, in diesen Fürstenstaat, so klein er räumlich war, hineingenommen: von den Praktiken der kirchlichen Güter- und Finanzverwaltung bis hin zum Erziehungs-, Gesundheits- und besonders Armenwesen, um das sich der lutherische Staat - sehr im Unterschied zu freikirchlich-calvinistischen Ländern - von Anfang an mit großem Eifer annahm. Hier entstand ein christlicher Amtsgedanke, eine religiöse Berufsauffassung, die dem deutschen politischen Leben für Jahrhunderte eine besondere Färbung gegeben hat, indem sie eine Erscheinung wie das Berufsbeamtentum hervorgebracht und die Formen der Amtsausübung mit ihrem Geiste imprägniert hat.

Man betont im allgemeinen das Verblassen dieser Gedankenwelt bereits im 17. und 18. Jahrhundert: schon mit dem Großen Kurfürsten, spätestens mit Friedrich Wilhelm I. und Friedrich dem Großen soll sich der deutsche Fürstenstaat von den ererbten christlichen Überlieferungen gelöst haben und auf die Linie der Staatsräson eingeschwenkt sein. Aber beginnt mit dem Auftreten Preußens auf der historischen Szene tatsächlich schon die unheilvolle Peripetie des Obrigkeitsstaates in Deutschland? Muß nicht zunächst gefragt werden, worin der preußische Staat die Linie des alten Territorialstaates einfach fortgesetzt hat und worin er von dieser Überlieferung abwich?

Blickt man auf die äußeren Strukturen, so zeigt sich, daß Brandenburg-Preußen vom Typ des deutschen Territorialstaates seiner Zeit nicht wesentlich absticht ­ nur daß dessen Züge hier gleichsam vergrößert, ins Absolute gesteigert, in die letzte Konsequenz getrieben scheinen. Als dynastische Schöpfung eines Fürsten (ohne die für das ältere Staatswesen typische Polarität von Land und Herrschaft), als künstliches Gebilde, in kühner Stückelung von der Memel bis zum Rhein verteilt, zusammengehalten vor allem durch die allmählich vordringende Beamtenverwaltung, lassen die preußischen Staaten - der staatsrechtliche Begriff Preußen datiert erst von späterer Zeit - die charakteristischen Züge eines deutschen Fürstenstaates erkennen. Auch im Stil des Regierens, in der Ausbildung der Beamten, in der Behördenorganisation eilen sie den anderen Staaten höchstens voraus, weichen aber

nicht grundsätzlich von ihnen ab. Und schließlich könnte man selbst in der Staats­und Dienstauffassung der brandenburgischen Kurfürsten und preußischen Könige geradezu eine ins Monumentale gehobene lutherische Berufsethik wiedererkennen, wie sie als Ermahnung zu pflichtgemäßem Regiment, zu Liebe und Treue gegenüber den Untertanen, zu Arbeitsamkeit und Sparsamkeit in eindrucksvoller Steigerung die politischen Testamente der großen Hohenzollern durchzieht22.

Aber gerade hier, im Bereich des Herrscherethos, des Regierungsstils, beginnt der Wandel, durch den Preußen aus der patriarchalischen Tradition des Territorialstaats, aus der langen Reihe der von frommen "Betefürsten" regierten Staaten heraustritt. In erster Linie hängt dieser Wandel mit dem Übertritt der hohenzollerschen Dynastie zum Calvinismus im Jahre 1613 zusammen, mit der neuen Familienverbindung zum oranischen Haus und zu Holland. Droysen hat wohl als erster auf die Bedeutung dieses Konfessionswechsels hingewiesen, durch den sich Brandenburg-Preußen von der introvertierten Kleinwelt, dem Stilleben der lutherisch regierten Territorien trennte und neuen Ideen, einer größeren, lebensreicheren Weltanschauung öffnete23, und Otto Hintze hat diese Feststellungen dahin ergänzt, daß der Calvinismus die Brücke gewesen sei, über die von Holland und Frankreich her die Ideen der Staatsräson in Deutschland ihren verspäteten Eingang fanden24. In jüngster Zeit hat Gerhard Oestreich in einer bedeutenden Arbeit über "Calvinismus, Neustoizismus und Preußentum" auf den breiten Einstrom neustoischer Gehalte aus der niederländischen Bewegung des 17. Jahrhunderts hingewiesen, die dieses calvinische Erbe der Pflicht und Leistungsethik modifiziert und nach der Seite des antiken Glaubens an Schicksal und Notwendigkeit, necessitas und fatum, abgewandelt haben. Der absolute Herrscher als Vollstrecker des historisch Notwendigen - das ist ein Gedanke, der aus dem niederländischen Neustoizismus, aus Lipsius' Politik, nach Preußen kam; und die Herrschermaxime des aufgeklärten Absolutismus, jener Spruch, der über das Portal des königlichen Schlosses in Berlin eingemeißelt wurde "Sic gesturus sum prineipatum, ut rem populi esse sciam, non meam privatam", stammt aus der nämlichen Welt25. Die Unerbittlichkeit calvinisch-stoischer Pflichtethik tritt bei Friedrich dem Großen, dem "philosophe stoicien", wie ihn die Zeitgenossen nannten, wohl am deutlichsten hervor, aber auch Pufendorfs und später Kants Pflichtenlehre gehören in diesen Zusammenhang.

Man muß bei alledem bedenken, daß sich dieser Wandel nur an der Spitze, beim

22 "Der liebe Gott hat euch auf den thron gesetzet nicht zu faullentzen sondern zu arbeitten und seine Lender wohll zu Regiren", so redet Friedrich Wilhelm I. seinem Nachfolger ins Gewissen. Und Friedrichs des Großen Testament hebt an mit dem Satz: "Le premier devoir d'un citoyen est de servir sa patrie; c'est une Obligation que j'ai taché" de remplir dans tous les états différents de ma vie." (G. Küntzel, Die politischen Testamente der Hohenzollern), [1911] Bd. I, 72; Bd. II, 1.) 23 J. G. Droysen, Geschichte der Preußischen Politik, 5 Bde. (Berlin-Leipzig 1855/86). 24 O. Hintze, Die Hohenzollern und ihr Werk (Berlin 1915). 25 G. Oestreich, Calvinismus, Neustoizismus und Preußentum, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd. V (1956).

Königshaus und in den obersten Rängen der Verwaltung, übrigens auch bei der Armee, vollzog, während die Untertanen in ihrer großen Masse nach wie vor Lutheraner blieben. Dadurch entstand ein eigenartiges Verhältnis von obrigkeitlichem Aktivismus und passiver Gehorsamshaltung des Volkes. Während sonst "der Kalvinismus liberalisierend wirkte, hat sich durch die Verbindung des lutherischen Staatsdenkens mit einer asketisch gerichteten Oberschicht jene besondere Verschärfung des lutherischen Staatsdenkens durch eine von oben kommende Staatsdisziplin ergeben."26 Alfred Müller-Armack hat treffend von der Legierung eines weichen und eines harten Metalls gesprochen, und Alexander Rüstow hat dieser preußischen Sozialstruktur eine besondere Bedeutung für die Entstehung des modernen Pflicht- und Arbeitsmenschen zugeschrieben und die großen Leistungen wie auch die besonderen Schwächen des deutschen Volkes aus ihr zu erklären versucht.

Sozialgeschichtlich zeigt sich das tiefer und schärfer eingreifende Regiment des Staates am deutlichsten an der Einbeziehung des bäuerlichen und adeligen Lebens in die preußische Militärverfassung, wie sie mit dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. einsetzt. Gewiß, auch die Zurückdrängung der Ständemacht, die "Stabilirung" der fürstlichen Souveränität, das neue Steuerreglement sind Zeichen einer härter werdenden Staatsstruktur; doch lagen sie in der Linie des europäischen Absolutismus. Aber in keinem europäischen Land, geschweige denn in einem deutschen Territorialstaat, ist die Herausarbeitung einer neuen, im Staat und im Fürsten zentrierten Gesellschaftsordnung aus den alten, aus ihren herrschaftlichen, ständischen und lokalen Bildungen herausgefällten Elementen so radikal voll­zogen worden wie in Preußen. Die Absorption des Soziallebens durch den Staat - im Ansatz schon im alten Territorialstaat vorhanden, dort aber eher die Folge einer gering entwickelten bürgerlichen Dynamik - ist in der preußischen Kantonsverfas­sung unter Friedrich Wilhelm I. durch generelle Militarisierung des gesamten Arbeitslebens in einem Maß gesteigert worden, das den Vergleich mit dem modernen, aus der Französischen Revolution hervorgegangenen Nationalstaat geradezu herausforderte, wäre nicht die zwangsweise Werbung und Enrollierung der Bauern zum Militärdienst ein so auffallendes obrigkeitsstaatliches Gegenstück zur demokratischen "levée en masse". Otto Büsch hat von dem Militärsystem des alten Preußens geurteilt, daß es den ganzen Menschen als soziales Individuum in allen seinen Lebensbereichen erfaßt habe. "Es forderte Geld in Form von Kontribution und Reitergeld und körperliche Dienste beim Vorspann und Festungsbau. Es lieferte den Bauern, der unter der Gewalt des Gutsherrn stand, durch die Kantoneinrichtung zugleich dem Regiment und seinen Offizieren aus ... Der Kompaniechef im Regiment war Gutsherr zuhaus. Die Prügel für den Soldaten im Dienst wie für den Urlauber auf dem Feld erzogen den bäuerlichen Kantonisten, in dessen Person

26 H. von Borch, Obrigkeit und Widerstand (Tübingen 1954), 125.

sich beide vereinten, zu blindem Gehorsam." Es kam hinzu, daß das Militärsystem in sozialer Hinsicht unlöslich mit der in den östlichen Landesteilen bestehenden Agrarverfassung, also der Gutsherrschaft, verbunden war. "Die Verschmelzung beider Systeme zu einem einzigen, die sich unter Friedrich Wilhelm I. vollzog, bildete den Prozeß einer sozialen Militarisierung ihrer Träger, der Bauern und Adeligen, und bezeichnete den Beginn 'preußischer' Lebensform."27

So führt die Sozialverfassung des alten Preußens in vieler Hinsicht über die geruhsamen Lebensformen und die schonende Regierungsweise des älteren Territorialstaats hinaus. Aber es zeigt sich doch auch deutlich, in welcher Weise das ältere Staatswesen dem jüngeren, ausgebildeteren Obrigkeitsstaat vorausgegangen war und vorgearbeitet hatte. Denn fast alles, was wir als grundlegend für die spätere preußische Form erkennen, findet sich in nuce schon im früheren Territorialstaat: die scharfe Scheidung in Obrigkeit und Untertanen; die absolute Gehorsamsverpflichtung der einen, die nur pflichtenethische, nicht mehr politische Verantwortung der andern; die Auflösung ständischen, genossenschaftlichen, individuellen Eigenlebens im abstrakten "Dienst am Staat"; endlich die Reduktion des Politischen auf die Polarität von Befehl und Gehorsam, die, ins Extrem getrieben, Staat und Kasernenhof vertauschbar machte. In alledem hat das "Sparta des Nordens" äußerste Möglichkeiten der territorialen Staatsstruktur genutzt und realisiert; und die geschichtlichen Wirkungen, die von Preußen ausgingen, sind denn auch folgerichtig für die anderen deutschen Territorien und endlich für Deutschland im ganzen zum Schicksal geworden.

Der Bürger im Territorialstaat

Und nun die entscheidende Frage, auf die unsere Überlegungen zu guter Letzt zulaufen müssen: die nach dem Bürger, seiner Freiheit, seinen Lebensmöglichkeiten in dem so beschaffenen Staat. Die Frage also, wie es sich in dem Gebäude wohnte, dessen Grundriß und innere Einrichtung wir zu skizzieren versuchten.

Die Frage versetzt uns zunächst in eine gewisse Verlegenheit. Denn derjenige, der zuerst befragt werden und Auskunft geben müßte, der sogenannte "kleine Mann", der preußische Bauer, großenteils auch noch der Ackerbürger, also der überwiegende Teil der Bevölkerung, ist stumm. Der Bauer kann nicht schreiben, er kann keine Selbstzeugnisse ablegen, da er keine Schulen besucht hat und auch keine braucht. Der Historiker muß sich sein Schicksal von denen erzählen lassen, die für ihn das Schreiben besorgten, Gutsherren, Landräten, Behörden; und er muß dabei gewärtig sein, daß diese Zeugnisse vom Interesse der herrschenden Schicht nicht unbeeinflußt sind28.

27 So O. Büsch, Militärsystem und Sozialleben im alten Preußen 1713-1807. Die Anfänge der sozialen Militarisie­rung der preußisch-deutschen Gesellschaft (Berlin 1962) 71 ff. 28 O. Büsch a.a.O. 13.

~

Immerhin ist es aufschlußreich, wenn in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts, also vor Einführung des sogenannten Kantonreglements, die Flucht der Bauernsöhne vor den Werbern des Königs besonders im Westen Preußens solche Formen annahm, daß nach Berichten der Behörden das flache Land "depeuplirt" zu werden drohte, und wenn wir hören, daß sogar die Grundherrschaft bei der Flucht gelegentlich Hilfe leistete. Die Einrichtungen des Staates gegen Soldaten- und Bauerndesertionen verraten deutlich, wie stark der Drang nach Freiheit in diesen einfachen Menschen blieb, die unablässig gegen die doppelte Einspannung in die Gutsherrschaft und in das Militärsystem revoltierten. Otto Büsch, der nach Hans Rosenberg der Militarisierung des preußischen Soziallebens die eindringlichste Studie gewidmet hat29, hat aus den gewiß unverdächtigen Acta Borussica und anderen Quellen zur preußischen Verwaltungsgeschichte zahlreiche Tatbestände erhoben, die den nur langsam abnehmenden Widerstand der Bevölkerung gegen diesen Druck des Staates zeigen. So mußte z. B. in Hinterpommern an jedem Ort ein Nachtwächter gehalten werden, um dadurch "die Desertiones der Soldaten sowohl als Bauern zu verhindern"; die Bauern waren verpflichtet, entlaufene Deserteure zu fangen; besonders die Bewohner der in der Nähe der Garnisonen gelegenen Dörfer mußten sich Tag und Nacht in der Wache ablösen. "Konnte das Dorf die 100 Taler Geldstrafe nicht zahlen, so wurden die zwei vornehmsten Bauern des Dorfes dazu verurteilt, zwei Monate lang auf der Festung Steine zu karren. Auf die 'Durchbringung' eines Deserteurs stand der Galgen oder doch Geld- und Leibesstrafe, wenn es sich um Eltern oder Verwandte handelte. Obendrein wurde selbstverständlich das Vermögen des Deserteurs eingezogen. Als Deserteur galt schließlich auch schon, wer als Zivilist ohne besondere Erlaubnis außer Landes ging, eine Einrichtung, die mitunter von den Regimentern mißbraucht wurde. Wenn aber ein Soldat floh und die Sturmglocke geläutet wurde zum Zeichen, daß wieder ein Fluchtversuch gewagt worden war, mußten die Bauern den Offizieren ihre Pferde zum Nachsetzen zur Verfügung stellen. Die schweren Ackergäule wurden dabei oft ruiniert. Und die Behörden scheinen Grund gehabt zu haben, immer wieder nachzufragen, ob den Bauern der Entzug der Pferde vergütet wurde, wie ein Edikt es befahl." 30

Was den bäuerlichen Untertan die Militarisierung fürchten ließ, war nicht nur der erhebliche, oft lebensgefährliche Eingriff in die bäuerliche Wirtschaft durch die starken Entnahmen von Arbeitskräften und Diensten, die noch dazu unregelmäßig erfolgten und daher jedes planmäßige Wirtschaften unmöglich machten. Es war vor allem die Aussicht auf ein lebenslängliches Verbleiben unter den Fahnen des Königs. Seitdem Friedrich Wilhelm I. die lebenslängliche militärische Dienstpflicht erklärt und angeordnet hatte, daß ihm "die junge Mannschaft nach ihrer natür-

29 Büsch op. cit.; H. Rosenberg, Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy. The Prussian Experience 1660-1815 (Cambridge, Mass. 1958). 30 Büsch a.a.O. 27 ff.; zum folgenden auch 15 ff.

lichen Geburt und des höchsten Gottes eigener Ordnung und Befehl mit Gut und Blut zu dienen schuldig und verpflichtet" sei, war der Werber zum gefürchtetsten Mann im Land geworden. Zwar hat das Kantonreglement, die Verbindung von Urlaubssystem und frühzeitiger Eintragung in Stammrollen mit späterer Einziehung, die ärgste Willkür beseitigt; aber wenigstens drei Monate im Jahr - unter Friedrich dem Großen zwei Monate - war der Bauer zum Heer abgerufen, und wenn er als Urlauber zum Hof zurückkehrte, mußte er als äußeres Kennzeichen seiner Zugehörigkeit zum Militärsystem Montierungsrock, Hut oder Halsbinde und am Sonntag in der Kirche die volle Uniform tragen, wie der "enrollierte" Bauernbursch die rote Halsbinde oder den Püschel am Hut. Die Rückübertragung der militärischen Disziplin auf das Rittergut hat umgekehrt die disziplinären Methoden auf dem Land und allgemein die Beziehungen zwischen Herrschaft und Untertanen verschärft: der blinde Gehorsam, zu dem das Heer, nach Friedrichs des Großen eigenem Zeugnis im "Politischen Testament", die Soldaten erzog, fand Eingang in die Sphäre patriarchalischen Zusammenlebens von Gutsherrn und Bauern, so daß die alte Sozialordnung durch die Militarisierung, das Durchdringen der militärischen Befehlsstruktur, langsam aber stetig umgestaltet wurde.

Das gilt auch für den Adel, den Partner und Gegenspieler des Bauern in der alten Sozialverfassung. Es wäre ein Irrtum zu glauben, daß dessen Einbeziehung in das Herrschaftsgefüge des Obrigkeitsstaates eine geringere Revolution gewesen wäre oder auch nur sich reibungsloser vollzogen hätte als die Heranziehung des Bauern zum Militärdienst. Man darf ja nicht vergessen, daß die Verbindung der adeligen Vasallen zur Armee in älterer Zeit recht oberflächlich war - so "oberflächlich und teilweise so feindlich wie zum Staat selbst. Das Heer war Instrument des Herrschers, und ihm allein oblag die Sorge um seine Ergänzung und Erhaltung. Die Ritterfolge der adeligen Vasallen hatte sich durch die Errichtung der stehenden Armee seit dem Großen Kurfürsten überholt. Mit dem Offizierskorps dieser Armee fühlte sich der Adel nur insoweit verbunden, als er in ihm eine standesgemäße Unterkunft sah." 31 Ebensogut wie zum König ging man auch in die Fremde, um dort beim Heer zu dienen. Indem die preußischen Könige von Friedrich Wilhelm I. an den Adel systematisch in das Offizierskorps der Armee drängten und ihn zugleich durch Beschränkung der Verfügung über seine Güter an seinen Besitz fesselten, engten sie die soziale Bewegungsfreiheit des Standes erheblich ein, gar nicht zu reden vom Verlust der alten ständischen Privilegien der Mitregierung im Staat. Freilich hat die Garantierung der patrimonialen Rechte, die das Königtum dem Adel zum Ausgleich für den Verlust seiner politischen Rechte gewährte, einen gewissen Ersatz geboten; der Leidtragende dieses Kompromisses war hier wiederum wie in vielen anderen Fällen der bäuerliche Untertan.

Fragen wir endlich nach dem Bürgertum der Städte und seiner Stellung in diesem Staat, so zeigt sich, daß der Spielraum, der für eine selbständige Entfaltung

31 Büsch a.a.O. 79 ff.

dieses Standes im alten Preußen zur Verfügung stand, zunächst noch recht klein bemessen war. Noch zu Ende des 18. Jahrhunderts war das Verhältnis von Stadt- und Landbevölkerung in Preußen wie 7:2, in der städtereichen Kurmark wie 2:1. Die Bedeutung, die die Militarisierung des preußischen Lebens auch für das Bürgertum hatte, wird etwa an der Tatsache deutlich, daß die Residenzstadt Berlin im Jahre 1755 auf eine Bevölkerung von 125 000 Menschen eine Garnison von 20000 Mann besaß; 1806 sind es auf 172 500 Einwohner 33 250 Mann32. Noch mehr als durch die Einbettung in ein bäuerlich-adelig strukturiertes Sozial- und Militärsystem ist aber die wirtschaftliche Aktivität des Bürgertums durch die nachdauernde Pflicht- und Dienstethik der Könige und ihr streng patriarchalisches Fühlen in Schranken gehalten worden. Schon das Scheitern der Kolonisationsprojekte des Großen Kurfürsten zeigt den Mangel einer dynamischen Wirtschaftsgesinnung, für die das gleichzeitige Holland so hervorragende Beispiele bot33, und bei Friedrich Wilhelm L, dessen merkantilistischer Gründertätigkeit und "fast privatwirtschaftlichem Erwerbssinn" (St. Skalweit) die preußische Industrie entscheidende Antriebe verdankt, hat sein Biograph Carl Hinrichs in seiner Monographie über die preußische Wollindustrie einen eigentümlich fiskalistischen, "staatssozialisti­schen" Zug, einen "fast krankhaften Argwohn" gegenüber Kaufmannschaft und Unternehmertum nachweisen können34. Wenn die preußische Wirtschaftspolitik später andere Wege einschlug und nach 1806 und 1815 die süddeutschen - politisch liberalen - Staaten an wirtschaftlicher Liberalität weit übertraf35, so sind doch die alten Vorbehalte gegenüber der bürgerlichen Wirtschaftsgesinnung und Wirtschaftspraxis auch im 19. Jahrhundert erhalten geblieben. Spengler hat diese Zusammenhänge in seinem oft einseitigen Buch "Preußentum und Sozialismus" beschrieben, und die preußische Sozialpolitik im 19. Jahrhundert - in ihren Initiativen den anderen Kontinentalstaaten weit vorauseilend - hat diesem Erbe des Obrigkeitsstaates eine positive Seite abgewinnen können36. Noch in Bismarcks Sozialgesetzgebung lebt etwas von der Pflichtethik des Edelmanns, der seine Untertanen gegen die Übergriffe der Besitzenden schützen will; ihre Problematik liegt darin, daß sie für das Verlangen der Arbeiterschaft nach politischer Freiheit und Mitbestimmung keinen Sinn besaß37.

32 Diese Zahlen von H. Herzfeld mitgeteilt in der Einführung zu Büsch a.a.O. VI. 33 Vgl. A. Müller-Armack, Geistesgeschichte der Kolonialpläne und der Kolonialexpansion des deutschen Barock, in: Religion und Wirtschaft, 245 ff. (266 ff.). 34 St. Skalweit, Friedrich Wilhelm I. und die preußische Historie, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, VI (1957), 107 ff. (124); C. Hinrichs, Die Wollindustrie in Preußen unter Friedrich Wilhelm I. (Berlin 1953). 35 Vgl. die Beiträge von W. Conze und R. Koselleck, in: Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815-1848 (Stuttgart 1962), bes. 93 ff. und 236 ff. 36 Hier ist vor allem an die preußische Kinder- und Fabrikschutzgesetzgebung des Vormärz zu erinnern. 37 Zu den Motiven und der Entstehungsgeschichte der Bismarckschen Sozialgesetzgebung vgl. O. Voßler, Bismarcks Sozialpolitik, in: Historische Zeitschrift 167 (1943), 336 ff. Über das Weiterleben der Autorität des alten obrigkeitlichen Ordnungsstaates in den sozialen Institutionen des modernen Staates in Deutschland (z. B. der Sozialversicherung) bemerkt F. Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft (Karlsruhe 1953): "Die Betrachter aus jenen Ländern, in denen der Dritte Stand über den Obrigkeitsstaat einmal ganz gesiegt hatte, werden diese Verbindung nicht ohne Furcht und Abneigung bemerken. Den deutschen Liberalen bewegen mit gutem Grund ähnliche Empfindungen" (16).

Die Emanzipationsrichtung des Bürgertums gegenüber dem preußischen Obrigkeitsstaat ging denn auch nicht auf die Etablierung wirtschaftlicher Bewegungsfreiheit oder gar politischer Teilnahme am Staat wie in den westlichen Ländern; sie ging nach innen, in die Freiheit geistiger und religiöser, bei äußerer Beschränktheit oft weltweiter Autonomie38. Hier lag die Möglichkeit - wie die deutsche Bewegung von Herder bis zu Weimar und zur Philosophie des Idealismus zeigt -, aus den verhärteten Begriffen der protestantischen Orthodoxie und den Institutionen des Landeskirchentums in eine freiere, wenngleich noch immer christliche Geistigkeit, in eine kosmopolitische Republik freier Forschung und Wissenschaft oder in ein Arcanum der Dichtung vorzustoßen. Seit Immanuel Kant, in dessen Leben das dürftige Dasein des zeitlebens an seine Vaterstadt gehefteten Gelehrten mit der weltbürgerlichen Existenz des "Philosophenkönigs" seltsam kontrastierte, ist dieser Weg nach innen zum immer wieder nachgeahmten Vorbild bürgerlicher Freiheit in den äußeren Bindungen des Obrigkeitsstaates geworden - bis hin zum "Inneren Reich" im Dritten Reich und bis zu der mit besonderem Anspruch der äußeren gegenübergestellten "Inneren Emigration". -

Auf die Problematik dieser Dinge sei hier nicht weiter eingegangen. Doch sei auf ein Dokument der Zeit, in dem jener Widerspruch zwischen innen und außen, Politik und Geist in Deutschland sehr scharf gesehen ist, zum Schluß wenigstens noch hingewiesen. Als Madame de Stael im Herbst 1803 das damals im Westen noch fast unbekannte Deutschland bereiste, um es ihren Landsleuten als neuentdeckte Welt zu schildern, nahm sie aus den bürgerlichen Salons und den niederen Stuben der deutschen Dichter und Gelehrten den Eindruck mit, daß die Deutschen "die größte Gedankenkühnheit mit dem untertänigsten Charakter vereinen". Das Übergewicht des Militärstandes und die Rangunterschiede - hier ist von Preußen die Rede - hätten ihnen die größte Untertänigkeit zur Gewohnheit gemacht. "Bei ihnen ist der Gehorsam aber keine Unterwürfigkeit, sondern genaue Beobachtung der Schicklichkeitsregeln. Sie sind in der Ausführung jedes erhaltenen Befehls so gewissenhaft, als ob jeder Befehl eine Pflicht wäre ... Die Gebildeten Deutschlands machen einander mit größter Lebhaftigkeit das Gebiet der Theorien streitig und dulden in diesem Bereich keine Fessel, ziemlich gern aber überlassen sie dafür den irdischen Machthabern die ganze Wirklichkeit des Lebens. Diese Wirklichkeit, die sie so gering schätzen, findet jedoch Besitzer, die dann Störung und Zwang selbst im Reich der Phantasie verbreiten." 39

Vielleicht ist es das Unglück des deutschen Bürgertums gewesen, daß es bis tief ins 19. Jahrhundert hinein überwiegend von einer guten, pflichtbewußten, väterlich besorgten und aller Tyrannei abgeneigten Obrigkeit regiert wurde. Die wirtschaftliche und geistige Freiheit, die zunehmende Rechtssicherheit, die man seit dem

38 Raumer a.a.O. 80. 39 Mme de Stael, De l'Allemagne, ed. Jean de Pange, t. I (Paris 1958) 61 f.; ich folge der Übersetzung von Robert Habs.

~<p<aufgeklärten>40. So sind die obrigkeitlichen Strukturen des Militär- und Beamtenstaates in der großen verfassungsgeschichtlichen Entwicklung des 19. Jahrhunderts, in der Wendung zur konstitutionellen Monarchie, zum Nationalliberalismus der Bismarckzeit, endlich zur parlamentarischen Parteiregierung nach 1917 nicht getilgt, sondern - in je charakteristischer Abschwächung, Auslese, Neubelebung - beibehalten worden; sie gehören bis heute zu den Traditionsbelastungen unserer Demokratie, wie sie Ernst Fraenkel in größerem Zusammenhang am Beispiel des deutschen Parlamentarismus gezeigt hat41.</p<aufgeklärten>

Dieses Erbe darf heute wohl in seiner Wirkungskraft nicht mehr überbewertet, es sollte aber gleichwohl auch nicht unterschätzt und verharmlost werden. Der Obrigkeitsstaat war nicht Bismarck: er war Bismarcks unfreiwilliger Helfer. Der Obrigkeitsstaat war nicht Hitler: er war Hitlers unzulänglicher Gegenspieler. Die obrigkeitsstaatliche Tradition bedroht uns heute weniger in ihren aktiven Wirkungen - das "persönliche Regiment", aber auch das Dienstethos der Könige sind von der modernen Säkularisierung und Differenzierung der Lebensverhältnisse aufgezehrt worden -, sie bedroht uns durch ihre passive, dafür um so hartnäckigere Resistenz. Diesen Widerstand, diese Verhärtung aufzulösen scheint die eigentliche Schwierigkeit, freilich auch die wichtigste Aufgabe heutiger Politik zu sein.

Man könnte das deutsche Problem in einem Paradox so formulieren: Wieviel trägt Treue, Loyalität, vernunftlos geleisteter Gehorsam nicht zur Festigung, sondern zur Zerstörung; und wieviel trägt Illoyalität und Widerstand zur Stabilisierung des Gemeinwesens bei? Die stärksten westlichen Demokratien sind nicht auf dem Fundament des Gehorsams, sondern auf dem des Widerstandsrechts errichtet worden. In diesem Sinn darf auch ein Stoßseufzer des spanischen Konservativen Salvador de Madariaga verstanden werden: "Europa könnte gerettet werden, wenn die Deutschen es lernten ungehorsam zu sein."42

40 So wird z. B. in den "Acht Gesprächen über die Beschlüsse der Französischen Nationalversammlung", die der preußische Jurist und Mitarbeiter von Svarez am Allgemeinen Landrecht Ernst Ferdinand Klein 1790 unter dem Titel "Freiheit und Eigentum" herausgab, zwischen politischer und bürgerlicher Freiheit unterschieden. Die politische Freiheit gewährt Anteil an der Gesetzgebung, während die bürgerliche Freiheit "in der Freyheit der Einzelnen, ihre eigene Wohlfahrt nach besten Einsichten zu befördern" besteht. In Kleins Dialog führt Kriton ( = Svarez) aus, niemand habe Grund, sich über den Mangel der politischen Freiheit zu beklagen, solange er die bürgerliche Freiheit genieße, eine Meinung, der sich Kleon (= Klein) mit dem Bemerken anschließt: "Wer also in einer Monarchie lebt, worinn die bürgerliche Freyheit gehandhabt wird, wird kein Verlangen tragen, ein Republicaner zu werden" (die Zitate entnehme ich der Schrift von H. Conrad, Die geistigen Grundlagen des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten von 1794 [Köln 1958], 42). Die Trennung von bürgerlicher und politischer Freiheit ist für die deutsche Tradition des "Rechtsstaats" symptomatisch geworden; vgl. U. Scheuner, Die neuere Entwicklung des Rechtsstaats in Deutschland, Festschrift Deutscher Juristentag, Bd. II (1960) 229 ff.; Ehmke a.a.O., passim, u. H. Maier, Zur Frühgeschichte des Rechtsstaats in Deutschland, in: Neue politische Literatur 7 (1962) 234 ff. 41 E. Fraenkel, Historische Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 8 (1960) 323 ff. 42 Der Leser sei nachdrücklich auf die nach Abschluß des Manuskripts erschienenen Gesammelten Abhandlungen des Altmeisters der preußischen Historie Carl Hinrichs hingewiesen: Preußen als historisches Problem, hrsg. von G. Oestreich (Berlin 1964).

Stimmen der Zeit (1964) 18-35

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