Weltweite Migrationen als politische Herausforderung Europas

Die zunehmende Zahl von Flüchtlingen löst in Europa, vor allem auch in Deutschland, Ängste und Aggressionen aus. Johannes Müller, Dozent für Sozialwissenschaften und Entwicklungspolitik an der Hochschule für Philosophie München, sieht darin eine gewaltige Herausforderung, die nur be­standen werden kann, wenn man zuerst die Tatbestände und ihre Ursachen darstellt und zu erklären versucht.

In Europa wächst gegenwärtig die Furcht vor einer als bedrohlich empfundenen "neuen Völkerwanderung". Deutschland mit mehr als fünf Millionen ausländischen Mitbürgern, zum überwiegenden Teil Gastarbeiter mit ihren Familien, ist davon besonders betroffen, denn seit 1989 kommen jährlich etwa eine Million Menschen in das Gebiet der alten Bundesrepublik, in der Mehrzahl deutschstämmige Aussiedler aus Osteuropa und Umsiedler aus der ehemaligen DDR, aber auch eine zunehmende Zahl von Flüchtlingen aus einer Vielzahl von Ländern. Die Zahl der Asylbewerber hat sich 1988 bis 1991 von 103 000 auf 256000 erhöht und könnte 1992 auf knapp eine halbe Million ansteigen. Der in diesen Zahlen sichtbare Zuwanderungsdruck wird vermutlich auf absehbare Zeit bestehenbleiben, selbst dann, wenn die Grenzen dichter gemacht werden.

Diese Entwicklung hat viele, teils verständliche, teils grundlose Ängste und Aggressionen ausgelöst. Je nach ihrer Herkunft werden die Zuwanderer als Fremde oder gar "Eindringlinge" betrachtet. Schon die Aussiedler (teils auch die Umsiedler aus den neuen Bundesländern) stoßen häufig auf offene Ablehnung. Vor allem aber die Asylbewerber, von denen - entgegen weitverbreiteter Meinung - nicht einmal ein Drittel aus der Dritten Welt kommt, sind Opfer eines Klimas wachsender Ausländerfeindlichkeit.

Diese Entwicklungen sind eine neue und gewaltige Herausforderung, auf die nur dann angemessene Antworten gefunden werden können, wenn man die Tatbestände und ihre Ursachen möglichst vorurteilsfrei darstellt und zu erklären versucht, denn: "Was die Menschen verwirrt, sind nicht die Tatsachen, sondern die Meinungen über die Tatsachen" (Epiktet)1.

Allgemeine migrationstheoretische Gesichtspunkte

Schon immer gab es Menschen oder ganze Bevölkerungsgruppen, die ihre Heimat verlassen haben, um an anderen Orten zu siedeln2. So wanderten im 19. Jahrhundert über fünf Millionen "Wirtschaftsflüchtlinge" aus Deutschland aus, während gleichzeitig vor allem Polen ins Ruhrgebiet einwanderten.

Die Gründe für dieses Verhalten sind so vielfältig wie die Formen der Wanderungsbewegungen. Es gibt daher auch keine allgemeinen (deterministischen) Ge­setze der Migration, sondern nur nachträgliche Erklärungen bzw. Prognosen über mögliche Entwicklungen, deren Zuverlässigkeit davon abhängt, daß die länder- bzw. regional- sowie kulturspezifischen Einzelfaktoren jeweils sehr genau untersucht werden. In der Migrationstheorie3 bedient man sich dazu der Unterscheidung von Druck- und Sogfaktoren.

Druckfaktoren (Push-Faktoren) sind negative Zustände am Herkunftsort, welche Menschen zur Migration veranlassen, meist ein ganzes Bündel von Faktoren. Sie können physischer (Klima, Naturkatastrophen), demographischer (Bevölkerungsdichte), ökonomischer (Armut, Arbeitslosigkeit), soziokultureller (Diskriminierung) oder politischer Natur (Unterdrückung) sein.

Sogfaktoren (Pull-Faktoren) sind tatsächliche oder vermeintliche Bedingungen am Zielort, die eine Umsiedlung anziehend machen. Auch sie können physischer (günstigeres Klima), demographischer (geringe Bevölkerungsdichte), ökonomischer (unbewirtschaftetes Land, Arbeit, höhere Einkommen), soziokultureller (individuelle Freiheit, Freizeitmöglichkeiten) oder politischer Natur (Kolonisation, politische Zuflucht, staatliche Umsiedlungsprogramme) sein.

Ausschlaggebend für die Migrationsentscheidung ist (außer bei Zwangsvertreibungen oder -Umsiedlungen) die subjektive Bewertung dieser Faktoren, die sowohl individuell wie kollektiv erfolgen kann. Migranten wägen dabei in der Regel sehr genau ab, welche Vor- und Nachteile ihnen ein Ortswechsel vermutlich bringen wird. Das Verlassen der Heimat ist nämlich immer auch ein Verlust, und ein Neubeginn in der Fremde bringt unvermeidlich viele Probleme und Unsicherheiten mit sich. Außerdem hat der Wanderungsvorgang selbst eine eher abschreckende Wirkung, besonders im Fall von Fluchtbewegungen mit ihren Entbehrungen und Risiken; man denke nur an das Schicksal der "boat people". Migrationen beruhen daher immer auf einer komplexen Kosten-Nutzen-Rechnung mit einem stark psychologischen Moment. Dies erklärt auch, warum sich unter den Migranten überdurchschnittlich viele, oft ledige Männer im ökonomisch aktiven Alter (15-30 Jahre) befinden, die eine (in bezug auf ihren Herkunftsort) relativ gute Ausbildung besitzen. In letzter Zeit ist aber auch eine zunehmende "Feminisierung" der Migration festzustellen.

Migrationen sind darum sehr vielschichtige Vorgänge, die sich teils überschneiden. Da es neben Einwanderern meist auch Aus- und Transitwanderer gibt, liefert allein der Wanderungssaldo ein realistisches Bild. Außerdem vollzieht sich die Migration häufig stufenweise, sowohl was ihre Dauer (Pendler, saisonale Wanderarbeiter, Dauermigranten) wie was ihre Entfernung (Dorf, Kleinstadt, Hauptstadt, Ausland) angeht. Dies zeigt besonders das quantitativ wie qualitativ drängendste Migrationsproblem, nämlich die Land-Stadt-Wanderung bzw. Urbanisierung in der Dritten Welt. Schließlich hoffen manche, auch langjährige Migranten und Flüchtlinge, in ihre Herkunftsorte bzw. -länder zurückkehren zu können, sobald sich dort lebenswürdige Verhältnisse einstellen.

Eine theoretisch wichtige, in der Praxis aber oft schwierige Unterscheidung ist die zwischen freiwilliger und zwangsweiser Migration. Dies gilt besonders für das politisch so umstrittene Problem der Fluchtbewegungen4, die - im Unterschied zu anderen Migrationsformen - vorwiegend oder ausschließlich von Druckfaktoren bestimmt sind. Mit anderen Worten, Flüchtlinge erfahren die Zustände an ihrem Herkunftsort als so unerträglich oder bedrohlich, daß Sogfaktoren und damit möglicherweise unrealistische Erwartungen kaum eine Rolle spielen, denn ihre Situation kann nur noch besser werden. Heute handelt es sich oft sogar um "Massenzwangswanderungen" (z. B. Kurden im Nordirak, Kriegs­flüchtlinge im ehemaligen Jugoslawien). All dies zeigt, daß die Unterscheidung zwischen "politischen Flüchtlingen", die auf Asyl hoffen können, und "ausgeschlossenen" Armuts-, Kriegs- oder Umweltflüchtlingen höchst fragwürdig und oft willkürlich ist, da letztere sich in einer ebenso lebensbedrohenden Lage befinden können. Um so unverantwortlicher ist es daher, wenn diese Menschen pauschal als "Wirtschaftsflüchtlinge" und "Asylbetrüger" abqualifiziert werden, so als ob sie persönlich an den kollektiven Ursachen ihrer Flucht schuld seien.

Eine zumindest in ihren politischen Auswirkungen kaum weniger problematische Unterscheidung ist die zwischen interner Migration innerhalb eines Landes und internationaler Migration über Landesgrenzen hinweg, die allein auf dem Nationalstaatsprinzip beruht. Besonders was die Flüchtlingsnot betrifft, berücksichtigt die gegenwärtige politische Diskussion leider fast ausschließlich die internationale Dimension und läßt völlig außer Betracht, daß die Probleme der internen Migration fast die gleichen sind, besonders in Flächen- und Vielvölkerstaaten (z.B. ehemalige Sowjetunion). Dies beweist einmal mehr, wie sehr das Bewußtsein eines Problemdrucks von der jeweiligen Perspektive abhängig ist. Ähnliches gilt für den rein rechtlichen Unterschied zwischen legaler und illegaler Migration, der den tatsächlichen Ursachen in keiner Weise gerecht wird.

Eng mit dieser auf dem Nationalstaatsprinzip gründenden Sichtweise hängt auch die Unterscheidung zwischen Einheimischen und Ausländern zusammen, deren Fragwürdigkeit sich gerade in Deutschland zeigt: Ausländern, die kaum als solche betrachtet werden, man denke nur etwa an Österreicher oder in Deutschland aufgewachsene Gastarbeiterkinder der zweiten Generation, werden Deutsche gegenübergestellt, die als Ausländer erfahren werden, zum Beispiel Aussiedler, die seit Generationen im Ausland leben und begreiflicherweise nicht einmal Deutsch sprechen.

Zahlen und Fakten zur aktuellen Migration

Da Wanderungs- und zumal Fluchtbewegungen oft sehr plötzlich erfolgen und statistisch schwer erfaßbar sind, gibt es nur grobe Schätzungen, besonders zur internen Migration5. Die Internationale Arbeitsorganisation in Genf schätzt die Zahl der Arbeitsmigranten (Wirtschafts-/Armutsflüchtlinge) weltweit auf etwa 100 Millionen. Hinzu kommen ungefähr 20 Millionen politische und Kriegsflüchtlinge, nicht eingeschlossen etwa ebenso viele interne Flüchtlinge. Außerdem gibt es eine kaum schätzbare Millionenzahl von "Umweltflüchtlingen" (10-500 Millionen), was als ein Hinweis darauf gelten kann, daß die globale Umweltproblematik - zumindest längerfristig - den größten Migrationsdruck schaffen könnte.

Die wichtigste und zahlenmäßig umfangreichste Form gegenwärtiger Migration ist die Süd-Süd-Wanderung: Die große Mehrzahl der Migranten aus dem Süden findet in weithin selbst armen Entwicklungsländern Aufnahme, eine Tatsache, die in den reichen Ländern des Nordens leider wenig bewußt ist. Allein in Afrika südlich der Sahara gibt es 35 Millionen Arbeitsmigranten und Flüchtlinge, etwa zehn Prozent der gesamten Bevölkerung.

Angesichts solcher Zahlen erscheint die Süd-Nord-Wanderung in die westlichen Industrieländer eher als ein Rinnsal. Der Auswanderungsdruck aus der Dritten Welt in den Norden dürfte allerdings in Zukunft zunehmen, besonders im Mittelmeerraum, das heißt aus dem Nahen Osten und Nordafrika nach Südeuropa, sowie aus Süd- und Mittelamerika in die Vereinigten Staaten und nach Kanada.

Als hauptsächliche Herausforderung für Westeuropa könnte sich in den kommenden Jahren jedoch die Ost-West-Wanderung aus dem ehemaligen Ostblock erweisen. So warten zum Beispiel in Polen als "Tor zum Westen" 250000 Rumänen auf die Möglichkeit zur Ausreise. Daneben gibt es freilich eine mindestens ebenso umfangreiche Ost-Ost-Wanderung. Allein die Binnenwanderung in der "Gemeinschaft Unabhängiger Staaten" wird auf eine bis zwei Millionen Menschen geschätzt. Das Ausmaß möglicher künftiger Probleme, vor allem aufgrund von Nationalitätenkonflikten, kann man daraus ersehen, daß in der ehemaligen Sowjetunion 65 Millionen Menschen außerhalb ihres ethnischen Herkunftsgebiets leben, davon 25 Millionen Russen. Da der ehemalige Ostblock eine ähnlich ungünstige Alterspyramide wie die westlichen Industrieländer aufweist, könnten diese Länder längerfristig aber auch zu Immigrationsländern für den Süden werden6.

Voraussagen über künftige Migrationszahlen sind mit größter Vorsicht zu behandeln, da sie von oft kaum vorhersehbaren Ereignissen abhängen, wie der Zerfall der Sowjetunion gezeigt hat. Allein der Golfkrieg im Frühjahr 1991 schuf in wenigen Monaten drei Millionen Flüchtlinge, jeweils zur Hälfte Arbeitsmigranten und Kurden, die fast ausnahmslos in Entwicklungsländern Aufnahme fanden, obwohl diese gleichzeitig einen Verlust von zwölf Milliarden Dollar an Gastarbeiterüberweisungen erlitten. Außerdem sagt ein hohes Auswanderungs­ potential, das es zweifellos im Osten wie im Süden gibt, erfahrungsgemäß wenig über die tatsächliche Auswanderung aus. Millionen von Armutsflüchtlingen in den Norden sind auf jeden Fall unwahrscheinlich. Realistische Schätzungen spre­chen von 20 Millionen Migranten nach Westeuropa in den nächsten 10 bis 20 Jahren, davon 15 Millionen aus Osteuropa und fünf Millionen aus der Dritten Welt. Sehr viel höher dürfte dagegen die Zahl der internen Migranten und Flüchtlinge im Osten und vor allem im Süden ausfallen.

Ursachen in den Herkunftsländern

Die konkreten Gründe für die "neue Völkerwanderung" und besonders die gegenwärtige Flüchtlingsnot sind außerordentlich vielfältig und meist nahezu unentwirrbar miteinander verflochten7. Sie liegen zu einem wichtigen Teil in den Herkunftsländern.

Eine erste Ursache sind grenzüberschreitende Konflikte und Kriege, die manchmal eine jahrhundertelange Geschichte haben und durch nationalistische Ideologien geschürt werden (z. B. zwischen Vietnam und Kambodscha, Kroatien und Serbien). Oft werden sie durch Grenzstreitigkeiten (besonders in Afrika) oder regionales Hegemoniestreben (z. B. Serbien, Irak) ausgelöst.

Ein zweiter, für diese Konflikte oft ursächlicher Faktor sind ethnisch-rassische und kulturell-religiöse Spannungen, besonders in sehr heterogenen Gesellschaften. Opfer gewalttätiger Feindseligkeiten und häufig systematischer Diskriminierung sind vor allem Minderheiten (z. B. Kurden und Armenier im Nahen Osten, Muslime in Myanmar, Indios in Lateinamerika). Solche Gegensätze fördern separatistische Tendenzen, die allzuoft in blutige Bürgerkriege münden (z. B. Sikhs in Indien, Tamilen in Sri Lanka, Eritreer in Äthiopien), die auch grenzüberschreitend sein können (z. B. zwischen Armenien und Aserbeidschan um Berg-Karabach).

Eng damit zusammen hängt ein dritter Grund, nämlich politische Repression, Menschenrechtsverletzungen und Militarisierung (z. B. Militärregime, Todes­ schwadronen) durch totalitäre Regime, oft ideologisch begründet (z. B. Nationalismus, Doktrin der nationalen Sicherheit). Die Monopolisierung und intolerante Ausübung von Macht verhindert die Entstehung pluralistischer und partizipativdemokratischer Gesellschaftsstrukturen, löst gewaltsame Machtverteilungskämpfe aus und endet nicht selten in Revolten, Guerillatätigkeit und Gegenterrorismus (z. B. Sudan, Liberia, El Salvador).

Mitursächlich dafür sind, viertens, in vielen Fällen Mißwirtschaft und eine verfehlte Entwicklungspolitik, die der Mehrheit der Bevölkerung den Zugang zu wirtschaftlichen Ressourcen verwehrt (z. B. Landvertreibung, Zwangsarbeit, ungerechte Preise, Hungerlöhne, Korruption). Dies hat krasse soziale Ungleichheiten sowie Armut und Hunger zur Folge.

Ein fünfter Grund, der lange wenig Aufmerksamkeit fand, sich aber als immer wichtiger erweist, sind Naturkatastrophen, die nicht nur natürliche Ursachen haben (z. B. Ausbruch des Vulkans Mount Pinatubo auf den Philippinen), sondern zunehmend, zumindest was ihr Ausmaß angeht, eine Folge von Umweltzerstörung und ökologischem Raubbau, also menschlichen Fehlverhaltens sind (z. B. Erdrutsche, Tschernobyl). Besonders schlimm wirkt sich die dauerhafte Zerstörung von Acker- und Weideland durch falsche bzw. übermäßige Land- und Wassernutzung aus. Das Ergebnis ist eine wachsende Zahl von Umweltflüchtlingen, was wesentlich zur Urbanisierung in der Dritten Welt beiträgt. So hat allein die jüngste Dürreperiode in Afrika zehn Millionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht, die oft keinerlei Zufluchtmöglichkeit in ihrer näheren Umgebung haben8.

Verschärft werden all diese Probleme, besonders die ökologische Überbelastung, schließlich durch das Bevölkerungsproblem9. Mehr Menschen brauchen mehr Land und verbrauchen mehr natürliche Ressourcen. Das historisch einmalige Bevölkerungswachstum in den Entwicklungsländern in den letzten Jahrzehnten ist zwar weder die einzige noch die Hauptursache rapide zunehmender Migration - wie der Auswanderungsdruck im Osten Europas zeigt, wo es kein Bevölkerungsproblem gibt -, hat aber die absoluten Wanderungszahlen erheblich anwachsen lassen.

Ursachen im internationalen System

Die Gründe für die neuen Migrations- und Flüchtlingsbewegungen sind aber auch im internationalen System zu suchen. Sie sind zu einem wesentlichen Teil Folge ökonomischer, sozialer, demographischer und politischer Ungleichgewichte auf der Welt und daher hauptsächlich politischer und struktureller Natur. Zugleich sind sie Ausdruck der zutiefst gespaltenen gegenwärtigen Weltordnung mit ihren ungerechten Abhängigkeitsverhältnissen, die von einer "kapitalisti­schen" Wirtschafts- und Lebensweise bestimmt sind.

Hier ist erstens das historische Erbe der Dritten Welt bzw. der ehemals kommunistischen Länder zu nennen. Viele Entwicklungsländer haben aus der Kolonialzeit manche ihrer heutigen internen Probleme übernommen, so zum Beispiel umstrittene, weil willkürliche Grenzen oder durch Monokulturen zerstörte wirtschaftliche Strukturen und Ökosysteme. Die Länder des einstigen Ostblocks kämpfen heute mit ethnischen Spannungen oder sogar staatlichem Zerfall aufgrund von Zwangsintegrationen, sei es als Folge des Ersten Weltkriegs wie im Fall Jugoslawiens oder der Umsiedlungspolitik Stalins in der Sowjetunion. All dies sind schwer überwindbare Hindernisse für eine friedliche "Nationbildung" wie für den Aufbau einer funktionsfähigen Wirtschaft.

Eine zweite Ursache ist das Erbe des Ost-West-Konflikts und die damit verbundene Militarisierung. Von außen unterstützte Diktaturen oder Stellvertreterkriege sind mit dem Ende des Kalten Kriegs nicht einfach beseitigt, sondern dauern oft noch lange fort. Gewaltige Rüstungsindustrien in Ost wie West lassen sich nicht kurzfristig auf zivile Produktion umstellen, und die in viele Entwicklungsländer exportierten Waffen werden auch heute in Kriegszonen eingesetzt (z. B. Afghanistan), ganz zu schweigen davon, daß Waffen heute billiger denn je zu haben sind. Auch die gegenwärtige Entspannungspolitik gibt leider nur wenig Grund zur Hoffnung, wie der Golfkrieg mit seinen Folgen gezeigt hat, der auch Ausdruck schärferer und den Weltfrieden gefährdender Verteilungskonflikte zwischen Nord und Süd war.

Damit ist bereits ein dritter Grund der neuen Migrations- und Flüchtlingsbewegungen angesprochen, nämlich das wachsende Nord-Süd- wie auch West-Ost-Gefälle. Die Einkommenskluft zwischen reichen und armen Ländern hat sich zwischen 1960 und 1990 verdoppelt mit dem Ergebnis, daß die wohlhabendsten 20 Prozent der Weltbevölkerung heute über 82,7 Prozent des Welteinkommens verfügen, die ärmsten 20 Prozent dagegen nur über 1,4 Prozent10. Die Industrieländer sind für dieses Mißverhältnis wesentlich mitverantwortlich, weil sie aus nationalem Egoismus eine Weltwirtschaftsordnung zu Lasten der Länder der Dritten Welt und der Armen dort aufrechterhalten, wie zum Beispiel ihre rigorose Schuldenpolitik zeigt. Leider ist zu befürchten, daß auch die meisten Länder des ehemaligen Ostblocks, ebenfalls hochverschuldet, Opfer dieser Kurzsichtigkeit werden. Drückende Armut und unerträgliche Schuldenlasten sind aber eine wesentliche Mitursache der Zerstörung der Umwelt, besonders der tropischen Regenwälder. Gleichzeitig leisten sich die Industrieländer einen verschwenderischen Energieverbrauch und extreme Schadstoffausstöße, die zu massiven Klimaveränderungen und globalen Umweltkatastrophen führen können (z. B. Häufung von schweren Überschwemmungen und langen Dürreperioden), und sind zu keinen verbindlichen Umweltreformen bereit, wie die Umweltkonferenz in Rio de Janeiro gezeigt hat. All dies trägt zu Migrationen innerhalb der Dritten Welt und in die reichen Länder bei.

Zusätzliche Brisanz erhält dieses Gefälle - eine vierte Ursache - durch den faktischen "Vorbildcharakter" westlicher Wirtschafts- und Lebensweise, die durch Massenmedien, Werbung und Exporte ständig in alle Welt übertragen wird. Dies weckt im Süden und nun auch im Osten die Erwartung einer "nachholenden Entwicklung", obwohl das Modell der westlichen Zivilisation schon aus ökologischen Gründen nicht universalisierbar ist, da die Erde nicht überleben könnte, wenn alle so leben würden wie der privilegierte Norden. Einem Prozeß zunehmender Ausbreitung westlicher Werte, der die kulturelle Distanz zwischen den Regionen der Welt verringert, steht also ein wachsendes Entwicklungsgefälle gegenüber, das die strukturelle Distanz zwischen Reichen und Armen vergrößert11.

Diese Spannung erzeugt fast unvermeidlich ein hohes und wachsendes globales Wanderungspotential, denn es ist nur folgerichtig, daß die Armen in die reichen Länder kommen, wenn der Reichtum nicht zu ihnen kommt. Man kann in der gegenwärtigen Migration daher auch einen internationalen strukturellen Anpassungsprozeß sehen; denn wenn Kapital, Waren und Dienstleistungen sich weltweit ziemlich frei bewegen und wenn die Umweltschäden sich global auswirken, können nicht die Menschen allein dort bleiben, wo sie wohnen. Eine wichtige Rolle spielen weiter die modernen internationalen Transportmöglichkeiten, die es erlauben, große Zahlen von Menschen in kürzester Zeit über weite Entfernungen zu befördern.

All diese Zusammenhänge zeigen, daß die heutigen Wanderungs- und Fluchtbewegungen eine Eigendynamik haben, die ziemlich unabhängig ist von der jeweiligen Migrations- und Asylpolitik in den Zielländern. Das aber bedeutet auch, daß sich die Probleme der "neuen Völkerwanderung" durch reine Abwehrmaßnahmen nicht lösen lassen, wie der CDU-Fraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble 1991 im Bundestag zu Recht feststellte: "Die Fluchtbewegungen werden anhalten, sogar anwachsen und durch noch so effiziente Kontrollen an den Grenzen nicht aufzuhalten sein."12

Auswirkungen auf die Herkunfts- und Aufnahmeländer

Zahlenmäßig umfangreiche Migrationen, besonders wenn sie völlig unkontrolliert verlaufen, haben weitreichende demographische, wirtschaftliche, soziokulturelle und politische Folgen sowohl positiver wie negativer Art für die Auswanderungs- wie auch die Zuwanderungsländer und -regionen. So wenig dies bestreitbar ist, so unterschiedlich werden diese Auswirkungen in ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Gesamtbilanz oft bewertet. So können Zuwanderer vor allem als Chance zur kulturellen Bereicherung betrachtet werden, andererseits kann man die damit verbundenen Probleme der politischen und soziokulturellen Integration als Überforderung ansehen. Im folgenden soll dies am Beispiel der volkswirtschaftlichen Folgen verdeutlicht werden; die individuellen ökonomischen Vorteile, welche Migranten meist für sich oder ihre Familien erzielen, bleiben also außer Betracht.

Migrationen bringen für die Herkunftsländer meist erhebliche Kosten mit sich, da sie unter Umständen ihre ökonomisch aktivste und für den Entwicklungsprozeß besonders wichtige Bevölkerung verlieren, was auch durch eine mögliche Entlastung des Arbeitsmarkts und Geldüberweisungen von Migranten kaum ausgeglichen wird. Dies gilt besonders für die Migrationsform des "brain drain", das heißt die Tatsache, daß ein beachtlicher Prozentsatz der Migranten gut- bis hochqualifizierte Leute sind, die in der Dritten Welt oder auch im Osten aufgewachsen sind und ausgebildet wurden. Die Abwanderung oder Flucht dieser Menschen bedeutet für arme Länder einen nicht geringen wirtschaftlichen Verlust, für die Zuwanderungsländer dagegen einen vergleichbaren Gewinn durch gesparte Ausbildungskosten.

Umgekehrt bringen Zuwanderer und Flüchtlinge für die Aufnahmeländer nicht geringe Belastungen mit sich, vor allem im Bereich der Beschäftigung, Unterbringung und Sozialleistungen. Besonders betroffen sind die Entwicklungsländer, in denen die Mehrzahl der Migranten und etwa 90 Prozent der Flüchtlinge Aufnahme finden.

All diese realen Probleme sollten aber nicht den Blick für die erheblichen ökonomischen Vorteile verstellen, die Zuwanderer den Aufnahmeländern in der Regel auch bringen. Dies gilt ganz besonders für eine wachsende Zahl westeuropäischer Länder mit demographischen Problemen (Überalterung der Bevölkerung). Ohne die Zuwanderung von Arbeitskräften können sie weder ihr Beschäftigungsniveau halten noch längerfristig ihr Sozial- und Rentensystem finanziell sichern. In manchen Bereichen käme es schon heute zum Kollaps ohne ausländische Arbeitnehmer (zum Beispiel Krankenpflege, Gaststättengewerbe, Müllbeseitigung). So sind zum Beispiel 90 der 120 Angestellten der Bundesbahnreinigung in Langwied bei München Asylbewerber, die eine Arbeit verrichten, zu der nur wenige Deutsche bereit sind13. Ein beschämendes Kapitel dagegen ist die illegale Ausländerbeschäftigung durch Firmen, die auf diese Weise billige Gewinne erzielen.

Es besteht also eine klare Verbindung zwischen Wirtschaftswachstum und Wanderungssaldo, die sich gerade in Deutschland nachweisen läßt. So wäre die Zunahme der Erwerbspersonen in der alten Bundesrepublik um drei Millionen seit 1985 und der daraus erwachsene Wohlstand nicht möglich gewesen ohne die Zuwanderung von vier Millionen Menschen (Aus- und Übersiedler, Ausländer) im gleichen Zeitraum. Auch alle Prognosen, die einen erheblichen Arbeitskräftemangel bis zum Jahr 2000 in der Europäischen Gemeinschaft voraussagen, bestätigen diesen Zusammenhang. Eine neue Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln14 kommt etwa zum Ergebnis, daß Deutschland in den nächsten 25 Jahren mindestens 300 000 Zuwanderer pro Jahr braucht, um seine Bevölkerungs- und Arbeitskräftezahl und damit seinen Wohlstand stabilisieren zu können. Die Überalterung der Bevölkerung läßt sich freilich nur durch einen Geburtenanstieg vermeiden.

Schon diese wenigen Fakten zeigen, wie kurzsichtig und falsch es auch im Eigeninteresse Europas wäre, die Zuwanderung massiv zu beschränken. Überdies ist Deutschland schon lange ein Einwanderungsland, denn 15 Millionen Vertriebene, Flüchtlinge, Über- und Aussiedler seit 1945 machen heute etwa ein Drittel der Bevölkerung der alten Bundesrepublik aus.

Politisch-präventive Migrations- und Flüchtlingspolitik

Das globale Ausmaß und die außerordentliche Komplexität heutiger Migrationsströme lassen es als so gut wie sicher erscheinen, daß die damit verbundenen Probleme noch lange Zeit fortbestehen werden. Sie erlauben auch keine einfachen und schnellen Lösungen. Vielmehr verlangt die Lösung dieses Weltordnungsproblems ein Vorgehen auf mehreren Ebenen und eine gemeinsame Weltinnenpolitik in internationaler Solidarität und Zusammenarbeit.

So nützlich und sogar notwendig Migrationen in bestimmtem Ausmaß sein mögen, ebenso unbestreitbar ist, daß es eine präventive Migrations- und vor allem Flüchtlingspolitik braucht, um Fluchtbewegungen und Armutswanderungen mit ihrer schrecklichen Not möglichst schon in ihrer Entstehung zu vermeiden. Eine solche Bekämpfung der Ursachen erfordert vor allem

- die weltweite Förderung der Menschenrechte, die sich nicht in negativen Sanktionen wie dem Entzug von Entwicklungshilfe erschöpfen darf;

- eine aktive Friedenspolitik durch Abbau internationaler Spannungen im Rahmen von kollektiven Sicherheitssystemen (zum Beispiel KSZE), was einen Abbau der Rüstungskapazitäten in den Industrieländern und eine wirksame Einschränkung des Waffenhandels einschließen muß;

- eine armutsorientierte Entwicklungspolitik, die durch eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung (Abbau des Protektionismus, Entschuldung) und großzügige Entwicklungshilfe ermöglicht und gefördert werden muß, wobei die allerärmsten Länder in Afrika südlich der Sahara und Südasien besondere Unterstützung erhalten müssen;

- eine Politik dauerhafter Entwicklung (sustainable development), nämlich eine umwelt-, aber auch sozialverträgliche Wirtschafts- und Lebensweise vor allem in den Wohlstandsgesellschaften (durch Selbstbeschränkung, sparsamen Verbrauch, Abfallvermeidung und -wiederverwertung), um die natürlichen Lebensgrundlagen und das ökologische Kapital zu erhalten;

- eine Kontrolle des Bevölkerungswachstums durch Armutsbekämpfung, Verbesserung der Stellung der Frauen, Ausbau von Erziehungs- und Gesundheitseinrichtungen, aber auch eine staatlich geförderte Familienplanung auf freiwilliger Basis;

- eine politische, rechtliche und finanzielle Stärkung internationaler Organisationen, besonders der Vereinten Nationen und ihrer Unterorganisationen, etwa durch eine Einschränkung des Prinzips der Nichteinmischung (wie erstmals in der Schutzzone für die Kurden im Nordirak), um nationalen Egoismus und gewaltsame ethnische Bürgerkriege einzuschränken;

- eine erheblich verbesserte politische und finanzielle Unterstützung des UNHCR, um die Flüchtlingsnot in vielen armen Ländern zu mildern (Erstaufnahmeländer, Repatriierung).

All diese Maßnahmen müssen - und können nur - ergänzt werden durch eine großzügige, sachlich begründete, konsistente und damit berechenbare Einwanderungs-, Flüchtlings- und Ausländerpolitik mit jeweils spezifischen Aufgaben in den reichen Ländern des Nordens. Dabei ist ein gemeinsames Vorgehen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft, möglichst in Abstimmung und Zusammenarbeit mit Osteuropa, fast unverzichtbar. An all dem mangelt es bisher. Es ist jedenfalls wenig glaubwürdig, wenn die Bundesrepublik einerseits eine Beschleunigung der Asylverfahren beschließt, andererseits aber nicht die dafür nötigen Sachbearbeiter einstellt, oder wenn die Vereinigten Staaten Kubaner mit offenen Armen aufnehmen, Haitianer aber zurückweisen. Eine reine Abwehrpolitik ist auf jeden Fall zum Scheitern verurteilt, da Flüchtlinge notfalls immer auch illegale Wege finden werden. Als ebenso vergeblich wird sich eine Verschiebung der Probleme an fernere Grenzen erweisen, zum Beispiel durch Rücknahmeabkommen mit Nachbarstaaten wie Polen und der CSFR ohne zusätzliche Unterstützung. An Konzepten und wohlklingenden Absichtserklärungen fehlt es weder international noch in der Bundesrepublik. So hat die Bundesregierung 1990 eine "Flüchtlingskonzeption" verabschiedet, welche richtigerweise die Bekämpfung der Fluchtursachen durch Außenpolitik, Wirtschaftshilfe für Osteuropa und Entwicklungszusammenarbeit vorsieht. Woran es bisher fehlt, sind der politische Wille und die konkrete Umsetzung.

Stimmen der Zeit (1992) 795-805

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