Trialog zwischen Juden, Christen und MuslimenÜberlegungen aus einer christlichen Perspektive

Den trilateralen Dialog zwischen Juden, Christen und Muslimen(1) gibt es kaum. Zwar hat das Stichwort Dialog Konjunktur. Und es steht außer Frage: Solange Menschen miteinander sprechen, bekriegen sie sich nicht. Deshalb gibt es zum Dialog keine sinnvolle Alternative. Viele Dialoge, zumal zwischen Christen und Muslimen, sind freilich unfruchtbare Scheindialoge, in denen zwar jede Aufforderung zur Toleranz vom Publikum dankbar beklatscht wird, jedes Rühren an Schwieriges und noch zu Klärendes jedoch Mißfallen und Abwehr auslöst. Scheindialoge helfen wenig zu einem verträglichen Zusammenleben inmitten der faktischen Konflikte; sie müssen durch offene, ehrliche und faire Dialoge ersetzt werden, in denen wir uns gegenseitig zumuten, neben dem Angenehmen und Schönen auch das Widerständige und Fremde zu benennen, und ernsthaft miteinander suchen, wo nötig auch miteinander streiten, dann aber in gegenseitiger Achtung.

Voraussetzungen und Annäherungen

Begegnung, Dialog erfolgt zwischen konkreten Menschen, die Religionen angehören; und es gibt in allen Religionen viele wunderbare Menschen. Die Religionen selbst sind keine homogenen Größen, sondern komplexe Mischgebilde mit innerer Pluralität: mit mehreren Dimensionen, unterschiedlichen Richtungen, großem Spannungsbogen von ihrem Kern und dessen idealer Realisierung in überzeugenden Vorbildern bis hin zu oft sehr reduzierten oder gar pervertierten Ausformungen in Praxis und Lehre. Kein Vertreter einer Religion repräsentiert einfach seine Religion in Gänze; es wird in ihr immer Richtungen geben, die andere Akzente setzen und die ihm da und dort auch widersprechen würden.

Dennoch haben Religionen eine verbindende, „stereotypisierende" Auswirkung auf Lebensführung(2), Denken, Empfinden und ethisches Urteilen ihrer Anhänger; sie schaffen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und Identität. Bei Judentum, Christentum und Islam hat der Bezug auf den jeweiligen Schrift-Kanon die Aufgabe, die verbindende Loyalität nach innen zu stützen sowie Grenzen und Differenzen nach außen zu markieren. Diese Verbindung von Kanon und Identitätskonstitution bewirkt, daß jedes praktische und sprachliche Handeln, das sich von der kanonischen Basis entfernt, unter den Vorbehalt einer jederzeit möglichen Fundamentalkritik gerät: „Wo ein Kanon herrscht, kann nur der Sinn Geltung beanspruchen, der mit dem Text des Kanons zu vermitteln ist."(3) Deswegen ist die Diskussion über mögliche hermeneutische Zugänge zum Text der Heiligen Schriften so grundlegend.

Ein ehrlicher Dialog - ein Dialog also, der nicht nur mit strategischen und taktischen Mitteln die eigene Position stärken will - ist unmöglich, wenn einer ihn mit dem Anspruch beginnt, er - und er allein - besitze die volle Wahrheit Gottes. Vielmehr muß jeder Dialogpartner sich nach der stets größeren Wahrheit Gottes ausstrecken und sich deshalb für die mögliche Wahrheit des Andern offen halten, also dafür, daß auch dessen Religion ein Ort echter Gottbegegnung und Rechtleitung sein könnte.

Andererseits ist dialogwürdig nur, wer seine eigene Religion ernst nimmt und deshalb dem Andern auch sagt, wo er etwas anders sieht und warum. Wer in der eigenen Religion verwurzelt ist, wird aus ihr, ihrem Zentrum und der damit eröffneten Glaubensperspektive heraus die ganze Wirklichkeit (auch die andere Religion) wahrnehmen. Das gleiche Recht muß er aber auch dem Andern einräumen. Der Christ zum Beispiel darf dem Muslim nicht verwehren oder verargen, daß dieser alles, auch das Christentum, vom Koran her sieht und einordnet, selbst wenn er ihm in vielem nicht folgen kann.

Christen dürfen nicht länger Juden, Muslime nicht Juden und Christen vorschreiben, wie ihre Religion zu verstehen sei; wer nicht bereit ist, die andere Religion als andere wahrzunehmen und ihre innere Logik zu sehen, wird nie fähig sein, ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und in einen wirklichen Dialog einzutreten. Deshalb muß jeder seine eigene Religion selbst von innen heraus explizieren können. Danach müssen dann auch Rückfragen von außen an jede Religion zugelassen werden.

Ziel ist nicht Konversion oder Einheitsreligion oder Einigung auf kleinstem Nenner, sondern gegenseitige Aufklärung, Öffnung füreinander, Verständigung zur Förderung von mehr Gerechtigkeit, Freiheit, friedlichem Zusammenleben für alle Menschen auf dieser Erde.

Die schwere Hypothek der Geschichte

Die drei monotheistischen Religionen haben oft mehr gegen- als miteinander gelebt; zwei von ihnen haben sich die Welt streitig gemacht und tun dies zum Teil bis heute.

Christen und Juden: Schon im Neuen Testament gibt es antijudaistische Stellen(4). Sie resultieren aus der faktischen, nicht absichtlichen Absonderung frühchristlicher Gemeinden vom Judentum sowie aus der jüdischen Ablehnung der christlichen Predigt, die zum Teil auch zu Synagogenstrafen, Verfolgung und schließlich, um der Wahrung jüdischer Identität willen, zum Ausschluß der Judenchristen aus dem Judentum führte (vgl. Joh 16,2). Von daher verstehen sich die oft harten Worte vor allem des Johannesevangeliums gegen „die Juden" (z.B. Joh 8,44), die aus bitterer Enttäuschung kamen, aber noch einen innerjüdischen Familienstreit darstellten (5).

Etwas ganz anderes wurde daraus, als dann Völker- oder Heidenchristen solche historisch verorteten Stellen einfach nachsprachen und damit prinzipiell gegen die Juden verwendeten. Jetzt wurden solche ursprünglich gegenüber innerjüdischen Konfliktpartnern kritischen Stellen erst wirklich antijüdisch und begründeten jene fatale Auslegungstradition, die den Juden wahre Gotteserkenntnis absprach und zu fast 2000 Jahren christlicher Judenfeindschaft führte, ohne die die Schoa kaum möglich gewesen wäre.

Die historische Schuld liegt als schwere Last auf uns Christen. Schulderkenntnis und -bekenntnisse genügen nicht, so unverzichtbar sie sind. Wir sind verpflichtet zu wirklicher Umkehr, d.h. zur Anerkenntnis, daß die Kirche zum biblischen Israel, ihrer „Wurzel" (Röm 11,16-18), und zum jetzigen Judentum in einer besonders engen Beziehung steht, zur Revision des Denkens, zur Abkehr auch von populistischrhetorischen Antijudaismen, zur Überwindung diskriminierender, verfeindungsbereiter Grundhaltung und Stimmung.

Muslime, Juden und Christen: Anfangs glaubte Muhammad, das Gleiche zu verkünden wie Juden und Christen. Zum Bruch kam es 624 n.Chr., weil die Juden Medinas ihm nicht folgten und ihm vorwarfen, daß er ihre Bibel gar nicht kenne und Irrtümer vertrete. Daraufhin lehnt er umgekehrt ihre biblischen Geschichten als wissentlich gefälscht ab (z.B. Suren 2,75; 3,71.78; 4,46) und geht nach der Schlacht von Uhud 625 gewaltsam gegen sie vor. Zwei jüdische Stämme werden vertrieben, vom dritten über 600 Männer getötet, die Frauen und Kinder versklavt (Suren 59,1-6; 33,25-27; 8,58 rechtfertigen dies als Gottes Tat)(6). Mit den Christen von Nadjran (die dann im Jahr 642 von Omar zwangsbekehrt oder vertrieben wurden) schließt Muhammad Unterwerfungsverträge(7), die zum Modell werden: Juden und Christen können als „Schutzbefohlene" (dhimmi) mit minderen, ungleichen Rechten geduldet werden, wenn sie sich unterwerfen und Kopfsteuer bezahlen (Sure 9,29: Kämpft gegen sie, „bis sie den Tribut aus der Hand entrichten als Erniedrigte"; später wurde die Kopfsteuer für erwachsene freie Männer in Geldform, etwa zehn Prozent des Jahreseinkommens, geregelt).

Es folgt eine Geschichte voller Feindbilder, Haß und Gewalt(8): zuerst die stürmisch- kriegerische Eroberung und nicht zwangsfreie Islamisierung riesiger, bis dahin christlicher Gebiete, später der Gegenschlag in grausamen Kreuzzügen und der Reconquista, dann umgekehrt der Sturm der Mongolen (Timur Lenk rottete die 50 Prozent Christen in Irak/Iran fast ganz aus) und Türken gegen Christen, dann wieder gegenläufig im 19. Jahrhundert die Besetzung durch die Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich und heute die demütigende Hegemonialpolitik der USA, umgekehrt die Repolitisierung des Islam, Extremismus und haßerfüllte Aufrufe zum Kampf gegen den „ungläubigen" Westen, der oft mit dem Christentum gleichgesetzt wird, in vielen Koranschulen militant islamistischer Richtung. Und mitten drin der fast ausweglose Palästina-Konflikt, wo die reale Anerkennung der legitimen Rechte beider Seiten (eines jüdischen Staates und eines palästinensischen Staates) noch immer auf sich warten läßt.

Dazwischen gehen die guten Erfahrungen miteinander, die es auch gibt, fast unter: die Kontakte Karls des Großen mit Harun ar-Raschid von Bagdad (766-809), Franziskus und Saladin, Maimonides (1135-1204) und Ibn Ruschd (1126-1198) in Cordoba usw., die neueren Bemühungen der Kirchen und des gegenwärtigen Papstes oder 2001 in Tübingen die Verleihung des katholisch-theologischen Ehrendoktors an den jordanischen Prinzen El Hassan bin Talal für sein schönes Buch „Christianity in the Arab World"(9). Solange freilich ein Nasr Hamid Abu Zaid in Kairo wegen seiner historischen Koranauslegung und andere anderswo als ungläubig verurteilt werden, ist der jordanische Prinz wie eine Schwalbe, die noch keinen Sommer macht, die aber doch Vorbote eines kommenden Sommers sein könnte.

Verhältnisbestimmungen

Juden können Juden sein ohne Christen und Muslime. Aber Christen können nicht Christen sein ohne die Juden: Jesus war Jude, das Neue Testament verweist die Christen auf die Juden und ihre Bibel. Christen haben lange gebraucht um das zu lernen. Jahrhundertelang haben sie das Judentum nur gelten lassen als Vorbereitung auf Christus, die mit ihm, der endgültigen Offenbarung, überholt und ersetzt sei; dem fortbestehenden Judentum gaben sie kein Lebensrecht. Es hat Zigtausende, zuletzt Millionen Juden Tränen, Entwürdigung und den Tod gekostet, bis Christen zu akzeptieren begannen: Gottes Bund mit Israel ist ungekündigt(10), nicht alle Erwartung des sogenannten Alten Testaments ist in Jesus erfüllt, das Alte Testament darf nicht nur auf Christus hin gelesen werden; es hat Eigenwert und eine doppelte Fortsetzung: Neues Testament und Talmud, Synagoge und Kirche. Das heutige Judentum ist nicht unsere überholte Vorgeschichte, sondern - was wir nur unter Scham, Reue und Bitte um Vergebung sagen dürfen - unsere Schwesterreligion und bleibende Weggefährtin. Juden kritisieren ja nicht Jesus als Weg der Christen zu Gott, wenn andere Wege zu Gott offen bleiben.

Ist für Muslime ein ähnlicher Lernprozeß denkbar: Muslime nicht ohne Juden und Christen? Nach der koranischen Sichtweise wurden die Offenbarungen Tora und Evangelium durch Mose und Jesus von den Juden und Christen verfälscht (Suren 2,75; 3,71.78; 4,46; 5,13.41 u.ö.). Deshalb wurde Muhammad gesandt als „das Siegel der Propheten" (33,40; nach 2,129; 61,6; 7,157; 17,108 wurde er sogar von Abraham und Jesus vorhergesagt). Er hat die Offenbarungen ganz ohne sein Mitwirken empfangen, so daß der - später redigierte - Koran das „unverfälschte Wort Gottes" in Reinform ist, vollkommen, ohne Widerspruch (Sure 2,3; 4,83; 10,38; 17,89) und nicht hinterfragbar. Der Koran versteht den Islam als „die wahre, vollständige Religion", der Gott „zum Sieg verhilft über alles, was es an Religion gibt" (so o.ä. 3,19.10; 5,3.54-56; 9,33; 30,30; 48,28; 61,8f.). Judentum und Christentum werden nur als Vorgeschichte und Entstellung des Koran wahrgenommen und sind mit ihm überholt, weshalb man ihr Buch, um Verführung zu meiden, auch nicht lesen sollte. Juden und Christen können nur als ungleichen Rechts geduldet werden.

Es kann hier nicht die neuere Forschung zur Entstehung des Koran referiert werden(11), mit der die meisten Muslime sich erst noch auseinandersetzen müssen. Es sei nur die Frage gestellt: Muß es für Muslime bei dieser Sicht des verbalinspirierten Koran und beim Vorwurf bleiben, Juden und Christen hätten die biblischen Texte verfälscht? Oder ist ein anderer hermeneutischer Umgang mit Korantexten möglich? Warum darf nicht nach menschlichen Entstehungsbedingungen des Koran zurückgefragt werden(12)? Ist, was im Koran über Juden und Christen geschrieben steht, situativ bedingt oder prinzipiell gültig?

Das notwendige Zusammenwirken (statt Sich-Bekämpfen) der drei gottbezogenen Religionen in dieser eng gewordenen, konfliktvollen Welt verlangt Vertiefung im eigenen Glauben, Bekehrung von bloß äußerlichen Regelungen zum inneren spirituellen Kern unserer Religionen, damit wir einander und der Welt geben können, was wir ihr von Gott her schulden. Was ist dies? Ich beschränke mich auf eine christliche Perspektive und gehe von ihr aus auf konkrete Fragen ein.

Worum geht es im Christsein?

Das biblische Israel hat in seinem Gottglauben eine schmerzliche Lerngeschichte durchgemacht(13): vom Polytheismus zum prinzipiellen Monotheismus (Dtn 4,35b; 6,4f. u.a.), und von allzu menschlichen Vorstellungen über Gott hin zur Erkenntnis, daß Jahwe heilig/anders ist. Jahwe ist gerade nicht in der Gewalt und bei den Siegern, sondern bei den Leidenden und Opfern; nicht patriarchal, sondern Mann und Frau gleichermaßen als sein geschöpfliches Bild bejahend; nicht vergeltend, sondern erbarmend; nicht Schlachtopfer suchend, sondern Recht und Barmherzigkeit; nicht nationalistisch, sondern universale Güte, die auch den Andersgläubigen zugesprochen ist: „Gottes Erbarmen gilt allen Menschen" (Sir 18,13; vgl. Jes 19,24f.; 42,6; Am 9,7; Ps 36,6). Es geht dabei um einen mühsamen Lernweg (mit vielen Seitenwegen und Rückfällen) aus der Welt der Gewalt und Ausgrenzung in die Gotteswelt der universalen Geschwisterlichkeit, den jeder Mensch neu zu gehen hat. Deshalb tilgt das Judentum die Gewalttexte nicht aus seiner Schrift, verschleiert nicht die Gewaltmechanismen, sondern deckt sie auf und entwickelt gewaltüberwindende Lesarten(14) dieser Texte, was freilich gewaltbereite Fanatiker nicht hindert, sie zu instrumentalisieren, ihnen aber immerhin die Legitimation streitig macht und ihr Umfeld eingrenzt.

Jesus verkündet den einzigen Gott, bleibt dabei im Rahmen des jüdisch Möglichen, bringt jedoch in die Lerngeschichte eine neue Eindeutigkeit hinein, hinter die Christen oft zurückfallen. Er erkennt: Ein gütiger und grausam strafender Gott kann zum Erbarmen bewegen, aber eben auch religiös kaschierte Gewalt rechtfertigen. Jesu eigene Gotteserfahrung ist anders: Er erfährt und verkündet Gott als reine Barmherzigkeit, als eindeutige, unbedingt für alle entschiedene Güte oder Liebe (Mk 10,18; Mt 7,9-11 par; 20,1-15; Lk 15). So lebt er zum heiligen Gott ein Verhältnis innigen Vertrauens, läßt Gottes Güte zu sich und zu den Andern kommen, auch zu Unreinen und Heiden, zur Ehebrecherin, deren selbstgerechte Richter beschämt davonschleichen (Joh 8, 2-11). Er propagiert die offene „Familia Dei" (Mk 3,35), führt seinen Hörern Andersgläubige als positives Beispiel vor (Witwe von Sarepta, Niniviten, barmherziger Samariter usw.). Wenn Andersgläubige (Syrophönizierin, römischer Hauptmann) ihn vertrauend angehen, hilft er ihnen und verlangt nicht, daß sie Christen werden. Er lehrt nicht nur, er heilt Unheile, gibt ihnen neue Lebensmöglichkeit; er macht nicht den andern klein, sondern sich für ihn klein. Und er sinnt darauf, wie Gottes gewaltlose Güte und Versöhnung auch die noch erreichen könne, die sie ablehnen: Er lehrt und lebt die positive Unterbrechung von Vergeltungsmechanik, feindseliger Einstellung (Mt 5,41; 7,12; Lk 6,27ff.) und Ausgrenzung, auch wenn ihn dies selber Ausgrenzung und das Leben kostet: Er praktiziert gewaltlos friedfertige Feindesliebe bis zum Selbst-Einsatz, wo er definitiv transparent wird auf den Gott, der allen liebend zugewandt ist und der ihn auferweckt und beglaubigt.

Das Neue Testament erkennt: Hier ist „Gottes Wort Fleisch/Mensch geworden" (nicht nur Satz/Buch); nicht nur Jesu Worte, sein ganzes Verhalten, alles an ihm spricht von Gott. Christen lesen an Geschichte und Person Jesu ab: „Gott ist die Agape"(15) (1 Joh 4,8,16; vgl. 1,5: „Finsternis/Haß ist nicht in ihm"). Gott hat sein innerstes Wesen und damit zugleich seinen unzweideutigen Willen offenbart: Agape-Liebe für grenzenlos alle. Alle dürfen sich als von Gott Geliebte wissen und deshalb in ein anderes Verhältnis zu Gott, zu sich, zu den Andern treten.

Wenn Gott nicht nur ein Liebender ist, der andere braucht, um lieben zu können, sondern das Beziehungsgeschehen der Liebe, dann ist er in sich selbst dialogisch. Von dieser einfachen Wahrheit stammelt die oft mißverstandene Trinitätslehre(16) (Vater, Sohn/Wort, Geist/Hauch; einer und drei, Personen usw. sind Metaphern; sie dürfen nicht in drei gegenständlich vorgestellte Figuren verwandelt werden, als ob Gott physisch ein Kind habe; Basilius: „Gott ist jenseits aller Zahl"; Augustinus: Personen in Gott ist kein guter Ausdruck, meint nichts als „Relationen", also der eine Gott in sich beziehungsreich, nicht arm und auf die Welt angewiesen). Gott ist das unendlich weit aufgespannte Beziehungsgeschehen der Liebe, in dem Platz ist für alle und das alle durchpulsen will (1 Kor 15,28).

Was schulden Christen der Welt?

Daraus ergibt sich eine Weltsicht und Praxis. Agape ist dann die Urkraft des Kosmos: „Gott will andere als Mitliebende haben" (Duns Scotus) - darauf will alles hinaus. Die Agape will alle Beziehungen und alles Tun beseelen (caritas forma virtutum): „Wer liebt und das Gerechte tut, stammt aus Gott; wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt" (1 Joh 4,7; 3,10).

Jesus verknüpft Gottesliebe eng mit Nächstenliebe und Selbstliebe, und sein jüdischer Gesprächspartner stimmt zu (Mk 12,28-34; vgl. 1 Joh 3f.). Weil Gott das Heil aller will (1 Tim 2,3f.), gibt es kein kurzgeschlossenes Verhältnis zu Gott, über den andern hinweg. In der Bindung an diesen Gott wird daher die Nächstenliebe entschränkt: Sie gilt intentional allen, geht bis zur Feindesliebe (Lk 6,27-36 par; 6,35: „Denn Gott ist gütig auch gegen die Undankbaren und Bösen"; Röm 12,14-21: „Vergeltet niemand Böses mit Bösem; wenn dein Feind hungert, sättige ihn; überwinde das Böse durch das Gute"(17). Auch wenn sich im Neuen Testament zum Teil negative Wertungen heidnischer Religionen finden (1 Thess 1,9; 4,5; 1 Kor 10,20): Nirgends wird zum Töten von Menschen, auch nicht von Gegnern oder Andersgläubigen, aufgerufen (Tötungsverbot Ex 20,13; Mk 10,19; keiner darf Gerichtsvollstrecker Gottes sein: Mt 7,1-5 par; 13,24-30). Wenn später Christen getötet haben, konnten sie sich nicht auf Jesus (und das Neue Testament) berufen, sondern verrieten ihn.

Die für alle offene Agape-Liebe ist es, die am Ende allein zählt (Mt 25,31-45). Ihre Konkretion findet sie besonders in Erbarmen und Gerechtigkeit für alle, deswegen auch in Selbstbeschränkung (eigener Genügsamkeit) und in den täglichen kleinen Schritten, die ein Mehr an Güte, Freundlichkeit, Gerechtigkeit und ein Weniger an Haß bringen. Christen muß es also um etwas sehr Einfaches und Klares gehen, das jeder und jedem guttut, das sie aber oft schuldig bleiben.

Überlegungen und Fragen zu einer möglichen Verständigung

Juden, Christen und Muslime haben als gemeinsamen Grundansatz den Glauben an den einen Gott, den Schöpfer aller. Aus dieser Basis ergibt sich die Grundeinstellung, andere primär als Schöpfung Gottes anzuerkennen. Die Begegnung mit Menschen anderer Religion ist von daher primär Zustimmung zum Dasein der Anderen, Achtung vor denen, die nicht zu „uns" gehören. Der eine Gott ist nur „mein" und „unser" Gott, wenn Er auch „dein" Gott und der Gott aller andern sein kann. Er zielt auf die Bejahung aller Menschen - ohne Unterschied bezüglich Herkunft, Geschlecht, Religion (die sich ja keiner aussuchen kann) - und deshalb auf Sensibilität für das Leid des Andern, auf Arbeit an mehr Gerechtigkeit für alle und an einer globalen Kultur der Anerkennung der Andern in ihrer Andersheit (was Widerstand gegen alle impliziert, die irgendwem diese Anerkennung versagen). Können wir uns darauf verständigen? Und können wir annehmen, daß der eine Gott seine eigenen Geschöpfe nicht verlieren möchte (was eine Niederlage für ihn wäre), daß Er also alle Menschen sucht und retten möchte, und daß Er dazu mehr Möglichkeiten hat, als wir wissen können (also z.B. sein Richten ein Zurechtbringen der Täter und Aufrichten der Opfer sein könnte)?

Uns Menschen fehlt die Tötungshemmung gegenüber eigenen Gattungsgenossen, unsere Solidarität reicht meist über einen begrenzten - durch Familie, Nation, Religion, Sympathie bedingten - Kreis nicht hinaus (z.B. unsere Trauer über getötete palästinensische bzw. jüdische Kinder). Können wir uns darauf einigen, daß jeder Mensch mit seiner Geburt ein Lebensrecht von Gott her hat, das für uns Menschen unantastbar ist? Können wir dazu beitragen, daß in unseren Religionsgemeinschaften ein Bewußtsein der Zusammengehörigkeit aller Menschen und der Verantwortlichkeit für alle wächst, daß die Beschädigung eines einzigen Menschen mich selbst trifft und meine engagierte Solidarität verlangt(18)?

Augustinus hat scharfsinnig bemerkt, daß zwar jeder den Frieden will, aber eben nur den, den er will (De civitate Dei 19,12). Können wir uns darauf verständigen, daß nur der Friede Zukunft hat, der auch das Wohl des Andern - des Andersreligiösen, des Gegners, des Feindes usw. - sucht (Jer 29,7: „Denn sein Wohl ist auch euer Wohl"), daß wir deshalb das Verbindende sehen und stark machen und einen Frieden fördern, den wir alle wollen können, weil er allen guttut? Sure 5,48 ruft auf: „Wetteifert miteinander, gute Werke zu vollbringen!"

Jede Seite neigt dazu, Gerechtigkeit nur für sich einzuklagen. Warum können wir nicht Gerechtigkeit fordern für alle und überall, auf der Basis von Gleichberechtigung (Art. 2 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und Art. 1-3 GG), nicht von Ungleichheit? Wie ist die Nummer 13 der „Islamischen Charta" des Zentralrats der Muslime in Deutschland „Ungleiches ungleich behandeln" zu verstehen (19)? Können Muslime die Rechte, die sie hierzulande genießen, auch für Nichtmuslime in islamischen Ländern fordern (ohne zweierlei Maß)? Können wir gemeinsam unsere Stimme erheben nicht nur, wenn „die Unseren", sondern auch wenn Menschen anderer Religion irgendwo unterdrückt, verfolgt, zwangsverheiratet werden? Können wir - durch Brot für die Welt, Misereor, Kurban - Arme auch der je andern Religion unterstützen?

Wir müssen primär hierzulande ein friedliches und gerechtes Zusammenleben fördern. Dazu gehört Freiheit der Religionsausübung (bezüglich dessen, was in der betreffenden Religion als unabdingbar gilt): also zum Beispiel Vertrieb des Koran oder Bau von Moscheen dort, wo genügend Muslime leben. Es geht nicht an zu sagen: Moscheebau hierzulande erst dann, wenn auch Kirchenbau in Saudi-Arabien für die 500000 ausländischen Christen dort. Aber können sich in Deutschland lebende Muslime nicht dazu durchringen, auch für das Recht zum Bau von Synagogen bzw. Kirchen in der Türkei und in Saudi-Arabien und für das Recht zum - in Saudi-Arabien bis jetzt schwer strafbaren - Besitz von Bibeln einzutreten?

In der Vergangenheit haben zum Teil christliche Prediger, sogar hohe Autoritäten (Papst Urban II., Bernhard von Clairvaux, Martin Luther), zu Kreuzzügen aufgerufen, die unfaßbare Grausamkeiten an Juden und Muslimen mit sich brachten. Daß dies zutiefst unchristliche Verfehlungen waren, bekennen heute alle Kirchenleitungen. Papst Johannes Paul II. hat in Jerusalem und in Damaskus in ausdrücklichen Schuldbekenntnissen die Juden und die Muslime um Vergebung gebeten. Wenn ein christlicher Prediger heute Haß oder gar Mord predigen würde, würden Christen protestieren und ihn öffentlich anklagen. Wo stehen muslimische Autoritäten auf und protestieren, wenn in nicht wenigen Koranschulen und Freitagsgebeten Haß gepredigt und zum Töten aufgerufen wird?

Wenn ich ernst nehme, daß für Muslime der Koran und das Vorbild Muhammads die normative Richtschnur sind, und wenn ich all die vielen Gewalttexte im Koran (z.B. 47,4: „Wenn ihr die Ungläubigen trefft, dann herunter mit dem Haupt, bis ihr ein Gemetzel unter ihnen angerichtet habt"; 8,17: „Nicht ihr erschlugt sie, sondern Allah"; vgl. 2,190-194 u. 216f.; 8,39; 9,3-5. 36; 48,29; 66,9 u.a.) und Muhammads eigenes Verhalten zu jüdischen Stämmen bei frühen Biographen wie Ibn Ishaq/Ibn Hisham und Ibn Saad lese(20), dann bin ich ratlos und bitte meinen muslimischen Gesprächspartner um Hilfe und Aufklärung. Es reicht nicht zu sagen, diese Stellen seien ganz anders gemeint, oder sie seien aus der Situation Muhammads heraus als berechtigt zu verstehen. Denn militante Islamisten benutzen diese Texte zur Verführung idealistischer junger Menschen. Deshalb die dringende Grundfrage: Wo ist die wegweisende Hermeneutik, die den zeitgebundenen Buchstaben des Koran auf dessen tieferen inhaltlichen Offenbarungs-Sinn hin überschreiten hilft?

Lange wurde in christlichen Kirchen die Bibel als verbalinspiriert betrachtet. Inzwischen haben die meisten Christen gelernt, daß vieles am Alten und Neuen Testament situationsbedingt ist, daß Offenbarung Gottes nicht einfach die Worte und „Buchstaben" sind, sondern der „Geist" (vgl. 2 Kor 3,6), die durchgehende Aussageintention und wesentliche Mitte der biblischen Texte, ihr tieferes Grundprinzip also, daß (wie das Zweite Vatikanische Konzil 1965 in seiner Offenbarungskonstitution Nr. 11 f. erklärt) die Heilige Schrift nicht einfach die Offenbarung und das Wort Gottes ist, sondern „das von Gott Offenbarte in der Heiligen Schrift enthalten ist", daß „Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat", man deswegen deren Aussageabsicht „sorgfältig erforschen" und das „Gotteswort im Menschenwort" je neu hören muß (im Hören auf die Texte in ihrem kanonischen Kontext, im Hören auch auf das, was die anderen Gläubigen heute und früher gehört haben). Dementsprechend läßt sich fragen: Muß es für Muslime dabei bleiben, daß der Koran Wort für Wort offenbart und sakrosankt ist, daß die „Offenbarung sich als unverfälschtes Wort Gottes im Koran findet"(21), daß Juden und Christen hingegen ihre Heiligen Schriften verfälscht haben? Oder ist eine andere Interpretation des Koran und des Islam unter Vernunftgebrauch (Ijtihad) und Aufdeckung des im Lauf der Geschichte verschütteten Offenbarungszweckes (so Muhammad Abid al-Jabiri) möglich, wie sie von manchen Reform- Muslimen angestrebt wird?

Das Judentum respektiert die Religionsfreiheit. Die Christenheit tat sich - trotz einiger positiver Stimmen - bis ins 20. Jahrhundert schwer damit; den Durchbruch brachte erst 1965 das Zweite Vatikanische Konzil mit der Erklärung über die Religionsfreiheit. Seitdem treten die Päpste und andere Kirchenführer entschieden für sie ein. Der Islam hat bisher große Probleme: Auf Sure 2,256 („In der Religion gibt es keinen Zwang") kann sich nach klassisch-islamischem Recht der Muslim, der zu einer andern Religion wechselt, nicht berufen; Apostasie zieht die Höllenstrafe nach sich (2,217; 3,86-91 u.a.); die Rechtsgelehrten folgern aus 4,88f. („Gott belangt euch, wenn ihr eine eidliche Bindung eingeht" und sie nicht haltet) und Sprüchen des Propheten schwere Strafen bis zur Todesstrafe für Apostaten(22); das ist Praxis in einigen islamischen Ländern bis heute. Ihr widerspricht nun der Zentralrat der Muslime in Deutschland in seiner Islamischen Charta von 2002: Er akzeptiert das Grundgesetz, „auch das Recht, die Religion zu wechseln, eine andere oder gar keine Religion zu haben" (Nr. 11). Ist dies der Beginn einer Wende? Gilt dies auch, wenn Muslime die Mehrheit bilden?

Christen und Muslime verstehen ihre Religionen als universale. In der Vergangenheit dachten Christen oft, die ganze Welt müsse christlich werden. Heute verstehen die Kirchen ihren Auftrag anders: als Dienst und Einladung ohne Zwang und Verdrängungswunsch. Der Koran (3,19.110; 5,3.56; 9,33; 30,30; 48,28; 61,8f.) versteht den Islam als „die wahre Religion", der Gott „zum Sieg verhilft über alles, was es an Religion gibt"; und noch heute propagieren islamische Autoritäten die Pflicht zum Kampf, bis die gesamte Menschheit entweder übertritt oder sich der islamischen Herrschaft unterwirft (23). Ist hier ein Wandlungsprozeß zu erhoffen; wie können wir ihn unterstützen?

In den „offenen Gesellschaften" gibt es neben Errungenschaften (unantastbare, gleiche Würde jedes Menschen, demokratischer Rechtsstaat mit Gewaltenteilung, Chance der Partizipation aller usw.) auch bedenkliche Auswüchse (Materialismus, Entsolidarisierung, Zerfall von Familien, Pornographie usw.), die nicht Folge des Christentums, sondern Folge seiner Austreibung sind und auch in einem islamisch geprägten Land, das eine offene Gesellschaft zuließe, kaum zu verhindern wären. Wir sollten gemeinsam durch vertiefte Spiritualität und solidarischere Praxis aus unseren Religionen heraus dazu beitragen, „das Böse durch das Gute zu überwinden" (Röm 12,21; ähnlich Micha 6,8 oder Sure 41,34).

Juden und Christen haben die Frage nach dem Prophetentum Muhammads und der Offenbarungsqualität des Koran für sich selbst neu zu bestimmen(24), Muslime die Frage nach der Bedeutung Moses und Jesu und der Offenbarungsqualität des Alten und des Neuen Testaments für Muslime.

Stimmen der Zeit (2005) 171-182

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