Sind Eisbären höflich?Von der Reichweite der Soziobiologie und den Grenzen unserer Gene

Christian Kummer, Dozent für Naturphilosophie an der Hochschule für Philosophie in Mün­chen, setzt sich mit der These der Evolutionsbiologie auseinander, jedes Lebewesen sei nur das Ergeb­nis einer jahrmillionenlangen Optimierungsstrategie der Gene. Er macht auf Unstimmigkeiten auf­merksam, die diesen Ansatz als ungenügend erweisen.

"Das sogenannte Böse" war der wohl zugkräftigste Buchtitel unter allen populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen der sechziger Jahre. Mit ihm gelang es Konrad Lorenz nicht nur, seinem Forschungszweig, der Ethologie, breiteste Beachtung zu verschaffen, sondern auch einer der großen Ängste unserer Zeit, der Gefahr des selbstverursachten Untergangs der ganzen Menschheit, eine wissenschaftliche Erklärung zu geben. In jeder Tierart, das war die These des Buchs, ist ein Aggressionstrieb auszumachen, dessen ursprünglicher, durchaus positiv zu wertender Sinn es ist, jedem Individuum einen genügenden Lebensraum zu sichern. Damit der innerartliche Konkurrenzkampf nicht in Selbstzerstörung ausartet, besitzen wehrhafte Tiere angeborene Hemm-Mechanismen, die den Beschädigungskampf zur Ausnahme werden lassen. Dem von Natur aus nicht wehrhaft konstruierten Menschen fehlt eine solche hemmende Instinktausstattung, weshalb sich die Erfindung von Vernichtungswaffen für ihn - wie für seine gesamte Umwelt - in der bekannten Weise verheerend auswirken kann. Damit war die "ethologische Kränkung" geboren: die Bestie Mensch als Außenseiter und evolutiver Ausrutscher einer von Haus aus guten Natur.

Diese kulturpessimistische Botschaft geriet nicht nur ins Kreuzfeuer soziologischer Kritik, sie ließ sich auch biologisch nicht halten. Es zeigte sich etwa, daß die Hemmung im Todesbiß oder -stoß wehrhafter Tiere keineswegs so perfekt funktioniert, wie Lorenz sie schilderte, und die "Moralanalogie" der Tiere entpuppte sich weit eher als Abbild des menschlich Bösen denn als Spiegel des von Natur aus Guten. Schimpansenhorden führen Krieg gegeneinander, Löwenpaschas bringen bei der Machtübernahme fremden Nachwuchs um, und die Mär von der friedlichen Taube wußte Lorenz selbst schon zu zerstören. Diente damit die Aggression genau wie bei uns höchst eigennützigen Zwecken, so war jetzt auf einmal der Altruismus das große Problem. Ist das Prinzip der Arterhaltung durch das des indivduellen Vorteils zu ersetzen, dann fragt sich, wie Selbstlosigkeit, die es ja (etwa in der Brutpflege) auch gibt, durch die Selektion gefördert werden konnte.

Ein Ansatz der Evolutionsbiologie, ursprünglich aus der Beschäftigung mit der stammesgeschichtlichen Vielfalt als Versuch einer Neuformulierung der synthetischen Evolutionstheorie geboren(1), verschaffte hier den Verhaltensforschern die Lösung. Lebewesen, so argumentierte man, sind als Ergebnisse einer jahrmillionenlangen Optimierungsstrategie der Selektion zu begreifen. Jedes Individuum trägt die Information über den bisherigen Stand der Optimierung in seinem Erbgut und den Bewertungsmaßstab für die Qualität dieses Optimierungszustands in der Fähigkeit, sein Erbgut weiter zu verbreiten. Ob Altruismus oder Aggression, was immer ein Lebewesen tut, tut es, weil die dieses Tun bedingende genetische Kombination sich bisher als überlebensdienlich erwiesen hat, und wenn sie sich im Augenblick des aktuellen Tuns auch als überlebensdienlich erweist, weil(2) es damit die Information seiner Überlebensstrategie weiter durchsetzt. Vereinfacht ausgedrückt: Tiere tun, was sie tun, damit sich ihre Gene durchsetzen. Tiere sind Testsysteme für genetische Kombinationen und als Überlebensmaschinen Propagatoren ihres Erbguts.

Damit war die Soziobiologie geboren: Der Eigennutz der Gene(3) ist das Grundprinzip, welches das tierische Handeln bestimmt. Kein Tier handelt von sich aus selbstlos oder egoistisch, seine Natur ist nie gut oder schlecht, sondern immer nur das Diktat der Strategie, stets mehr zu gewinnen als zu verlieren. Wer sich diesem Diktat nicht beugt, existiert nicht, stirbt aus. Damit wird die Existenz eines Lebewesens zum Beweis für die Richtigkeit der Theorie.

Die soziobiologische Letztursache

Die Verblüffung über die - scheinbar logische (vgl. Anm. 2) - Unschlagbarkeit der Argumentationsweise mag Grund genug für die begeisterte Aufnahme des soziobiologischen Ansatzes unter den Verhaltensforschern sein. Dazu kommt, daß das Denken in Kosten-Nutzen-Kategorien unserem marktwirtschaftlichen Klischee entspricht. Überraschend ist dabei aber, daß die von der Biologie längst totgesagte Zielursache wieder fröhliche Urständ feiert und in beinahe aristotelischer Weise zur letztbegründenden Antwort unseres Warum-Fragens avanciert. Daß das nicht nur logisch unauffällig unter der Hand geschieht, sondern explizit so verstanden wird, mag das Beispiel vom "höflichen Eisbären"(4) belegen.

Warum ist der Eisbär höflich? - Man wird stutzen und meinen, Eisbären seien eher weiß als höflich. Dann ist allerdings der Zoologe aufgerufen, der zunächst physiologisch antworten wird und mit dem Hinweis auf die Pigmentlosigkeit der Haare die Kausalursache angibt. Daraufhin spricht der Verhaltensforscher von der Tarnung im Biotop, worauf der Soziobiologe resümieren kann: "Eisbären sind weiß, weil sie überleben wollen." Selbst wenn man dieses "Wollen" in Erinnerung der nur metaphorisch zu verstehenden Absicht des "egoistischen Gens" in ein: "weil sie damit überleben können" abwandelt, ist mit dem "weil" eine finale Aus sage gemacht. Das letzte Ziel von Lebewesen ist ihr Überleben. Wären nun Eisbären höflich, ließe sich dieselbe Unterscheidung treffen. Was immer Verhaltensforschung, Soziologie oder - sei es drum - Liturgiewissenschaft über das Zustandekommen ihrer Umgangsformen eruierten, das beträfe nur die Wirkursachen ihrer Rituale. In letzter Instanz aber sind Eisbären höflich - wenn sie höflich wären -, weil sie damit überleben. Wiederum liefert die Soziobiologie die Letztursache unseres Handels.

Die Sinnspitze an diesem irrealen Beispiel ist deutlich: Alles Handeln, auch das des Menschen, ist wie jede andere Lebensäußerung auch der Geltung der soziobiologischen Finalität ausgeliefert. Der Mensch als selbständig handelndes Subjekt wird sich einer solchen Monopolisierung der Zwecksetzung nur höchst widerwillig unterordnen. Aber es hilft ihm nichts: Die Tatsache seiner Existenz, der Erfolg seiner hunderttausendjährigen Geschichte beweist nur, daß es allen gegenteiligen Empfindungen zum Trotz doch so ist. Der oben skizzierte (Zirkel-)Schluß, daß die Existenz Beweis für den Überlebenszweck ist, umgreift auch ihn mit Perfektion.

Aus diesem - selbstgestrickten - logischen Dilemma (Zielsetzungen sind an der Selektion zu messen: Selektion läßt keine weiteren Ziele zu) führt indessen eine klassische schulphilosophische Unterscheidung heraus: jene von der "conditio sine qua non" und der "conditio sufficiens". Wie, wenn man zugeben würde, daß die Überlebensdienlichkeit zwar eine notwendige Bedingung für die evolutionäre Erklärung lebendiger Struktur- und Handlungsmuster ist, nicht aber stets auch schon die hinreichende Bedingung für ihre Entstehung? Beide Ebenen fallen nur in eins, wenn das Zufallsspiel der Genverteilung der einzige Grund ist, den wir für das Auftreten einer Eigenschaft angeben können. Nur dann ist die soziobiologische Betrachtungsweise im Recht, und nur dann wird die Durchsetzung einer bestimmten genetischen Kombination zur hinreichenden Erklärungsursache. Das entspricht ganz der Reichweite von Darwins Theorie, deren Erklärungswert gerade darin besteht, daß sie zu zeigen erlaubt, wie blinde Mechanismen dennoch eine Zielgerichtetheit hervorbringen können, eben die am Überleben orientierte Zweckmäßigkeit oder "Teleonomie".

In dem Moment aber, wo selbständige Aktivität den blinden Mechanismus ab löst, bzw. zu ihm hinzutritt (sei es als bewußte Absicht oder auch nur als verschwommene Motivation), deckt der soziobiologische Betrachtungsrahmen definitionsgemäß nicht mehr die ganze Breite der Ursachenfrage ab. Die angedeutete Aufteilung von subjektivem Wirken und biologischem Zweck in Wirkursachen bzw. Mittel und Ziel ist methodisch nicht statthaft, weil sich jedes subjektive Wirken von einer Zielsetzung her bestimmt, sei diese nun gleichsinnig mit dem biologischen Ziel oder nicht. Ich kann schwimmen aus Gesundheitsgründen oder weil es mir Spaß macht. In beiden Fällen ist meine Motivation die bestimmende Ursache für mein Tun und nicht auf den biologischen Zweck meines (genetischen) Überlebens zu reduzieren, obgleich sie letztlich auch daraufhinausläuft. Wer diese Reduzierung dennoch vornimmt, leugnet die Möglichkeit einer (wenigstens teil weise freien) Selbstbestimmung und erklärt jede bewußte Erfahrung zur epiphänomenalen Einbildung, welche dem Diktat der Gene als einzig geltender Realität zu opfern ist. Dem muß widersprochen werden - am besten, indem man zeigt, daß auch außerhalb des menschlichen Handelns nicht alles an den Genen liegt.

Gene und Entwicklung

Es ist ein Irrglaube zu meinen, das gesamte Entwicklungsprogramm eines Organismus läge nach Art einer fertig geschriebenen Gebrauchsanweisung im Genom der Eizelle vor. Natürlich ist jeder einzelne Schritt der Embryonalentwicklung genetisch gesteuert (die Gene sind schließlich die Garanten der Identität der Reproduktion eines Organismus), aber diese Steuerung erfolgt nicht nach dem starren Schema der Übertragung einer Blaupause auf ein Baumaterial. Um es im Bild zu sagen: Wenn nach der gängigen Vorstellung das Genom die Partitur ist, nach der die zellulären Mechanismen als die Musikanten die Melodie des Entwicklungsverlaufs spielen, so ist diese Vorstellung insofern zu modifizieren, als die Partitur selber erst mit dem Spielen entsteht. Die Tätigkeit der Gene ist stets eingebettet in die Einheit eines lebendigen Systemganzen, auf welches sie ebenso einwirkt, wie sie von ihm abhängt. Gewiß sind alle einzelnen Bestandteile des lebendigen Systemganzen, sei es der Eizelle, des Keims oder des fertigen Organismus, letztlich auf die Synthesebefehle der genetischen Information zurückzuführen; aber diese Befehle enthalten nie die Ganzheitsinformation des Systems selbst, sondern wirken lediglich darauf ein, setzen es somit voraus, ja, sind nur in ihm entstanden.

Man sagt gewöhnlich, die Gene enthielten die "Software" der Entwicklung, welche natürlich zu ihrer Verwirklichung die "Hardware" des zellulären Gefüges voraussetze. Aber auch dieser Vergleich ist noch schief, weil er einen kybernetischen Präformismus der Programmabfolge unterstellt, der so im Genom nicht existiert. Der Entwicklungsverlauf setzt sich nicht nur aus einer Kaskade genetischer Befehle zusammen, wo der Vollzug eines Befehls den schon an dieser Stelle vorgesehenen nächsten Befehl abruft und das Systemganze nur in der richtigen Reihenfolge der Einzelanweisungen bestünde. Entwicklung besteht vielmehr in der Einwirkung eines Befehls auf eine bestehende Funktions- und Struktureinheit, in welcher er eine Veränderung induziert, und erst die vollzogene Veränderung der Organisation bietet den Ansatzpunkt für eine neuerliche Genaktivität, sowohl was deren Auswahl als auch was deren Wirkung angeht. Es gilt also nicht das Schema eines ontogenetischen Parallelismus von Gen 1, Gen 2, Gen 3 ... und Effekt 1, Effekt 2, Effekt 3 ..., sondern das einer Alternanz und wechselseitigen Bedingung von Gen 1 zu Effekt 1 zu Gen 2 zu Effekt 2 usw., und erst diese sukzessive Rückkopplung enthält und repräsentiert den Entwicklungsplan.

Um den Einfluß der morphogenetischen Effekte auf die Steuerung des Entwicklungsablaufs zu betonen, spricht man gern auch von "epigenetic coding", was richtig verstanden den immerhin erstaunlichen Tatbestand kennzeichnet, daß ein vorläufiger, dauernd sich verändernder Formzustand Informationswert für ein definiertes Gestaltungsziel besitzt. Auf die theoretische Bewältigung dieser Frage hat sich die Biologie bisher noch kaum eingelassen, rührt man damit doch nahezu unvermeidlich an die philosophische Dimension der Werdeproblematik. Jedenfalls ist die übliche Strategie, das Ganzheitsproblem mit dem Rekurs auf physikalische Selbstorganisationsphänomene abzutun, unzureichend, weil diese gerade das nicht leisten können, was das Charakteristische der organischen Formbildung ist: ein definiertes Gestaltungsziel zu intendieren(5).

Dieses Gestaltungsziel doch wieder der genetischen Information zu überantworten, wird weder der Entstehung noch der Funktionsweise des Genoms gerecht. Der Freiburger Zellbiologe Peter Sitte(6) weist darauf hin, daß die Genprodukte zunächst nur die Eigenschaft von Skalaren haben, für das Strukturgefüge des Organismus aber "vektorisiert" werden müßten, wozu es eines zusätzlichen, übermolekularen "Musters" bedürfe. Vielleicht findet diese Terminologie mehr Anklang als der alte, vitalistisch vorbelastete Ganzheitsbegriff, aber inhaltlich geht es um dasselbe. Wie immer man den Garanten dieser Ganzheit fassen mag, es steht fest: Selbst auf der fundamentalen Betrachtungsebene, wie sie uns die Entwicklungsbiologie bietet, ist die Aktivität eines Lebewesens komplizierter zu bestimmen als nur durch den Effekt seiner genetischen Ausstattung. Damit erweist sich das soziobiologische Ursachenkonzept als unzureichender Genetizismus.

Gene und Verhalten

Wenn schon bei der organischen Formbildung in Raum und Zeit eine Diskrepanz zwischen genetischer Bedingung und epigenetischer Bestimmung auftritt, so erst recht bei der subjektiv gesteuerten Veränderung dieser Form in Bewegung und Verhalten. Genunabhängiges Verhalten (ein vereinfachter Begriff, denn die genetische Beteiligung an allem lebendigen Geschehen gilt natürlich auch hier) läßt sich auf drei Ebenen nachweisen: auf der Ebene der erfahrungsbedingten Verhaltensmodifikation, "Lernen" genannt; auf der Ebene des programmierten ("angeborenen") Verhaltens; und auf der Ebene der ontogenetischen Verhaltensentstehung ("Prägung"). Daß erlernte Vorgänge nicht genetisch vorprogrammiert sein können, ist nichts weiter als eine Tautologie. Schließlich wird hier das angeborene Können und Erkennen definitionsgemäß durch den individuellen Informationserwerb ersetzt, und die Weitergabe dieses Wissens aus Erfahrung verlagert sich von der genetischen Information auf die kulturelle Tradition. Selbstverständlich vollzieht sich kein Lernvorgang an einer Tabula rasa, sondern setzt stets angeborene Strukturen im Sinn "offener Programme" voraus, auf die er modifizierend oder kombinierend einwirkt(7). Es soll uns hier aber nicht um die Grenzen der Lernfähigkeit oder die angeborenen Vorurteile unserer Einsicht gehen, so spannend dieses Thema wäre, sondern um das Gegenteil: wie unterschiedlich auch auf starren genetischen Programmen beruhende Verhaltensmuster in Erscheinung treten können.

Weil die erfahrungsabhängige Modifikation nicht nur die Abänderung eines einzelnen Reiz- oder Bewegungsmusters betreffen kann, sondern die Auswahl aus dem zur Verfügung stehenden Verhaltenssortiment insgesamt, ergibt sich die paradoxe Situation, daß verschiedene Populationen ein und derselben Tierart mit verschiedenen Verhaltensprogrammen ausgestattet erscheinen. Und dies nicht deshalb, weil sie in verschiedenen Umwelten lebten, die ihnen unterschiedliche Reaktionen abnötigten, sondern ganz einfach deshalb, weil intelligente Tiere auch unter vergleichbaren Umweltbedingungen verschieden mit den zur Verfügung stehenden Verhaltenselementen "jonglieren". Der Schweizer Primatenforscher Hans Kummer hat für solche lokale Traditionen bei Pavianen eindrucksvolle Beispiele zusammengetragen(8). Wohlgemerkt, es geht hier nicht um irgendwelche speziellen Traditionen innerhalb einer Tiergruppe, wie etwa das berühmte Süßkartoffelwaschen der Japanmakaken-Kolonie von Koshima(9), sondern um das ganze Spektrum von Verhaltensprogrammen, das jedem Individuum der Art auch ohne vorhergehendes Lernen prinzipiell zugänglich ist und das darum doch wohl nicht anders als genetisch erworben worden sein kann. Und dennoch fällt solches Verhalten in den Populationen von Mantelpavianen verschieden typisch aus. Daß diese Verschiedenheit nicht auf Unterschiede im Genom zurückzuführen ist, zeigen experimentell durchgeführte Versetzungen einzelner Gruppenmitglieder in eine fremde Population. Die neuen Verhaltensmuster werden in der Regel sofort verstanden und mitvollzogen.

Das Genom steckt damit nur den Rahmen des Verhaltensinventars einer Tierart ab, sagt aber für sich genommen noch herzlich wenig über die konkrete Verhaltensausprägung aus. Das bedeutet aber auf der anderen Seite auch, daß die Feststellung, ein bestimmtes Verhalten sei deshalb zustande gekommen, weil es für die Durchsetzung der sie bedingenden Genkonstellation von Vorteil sei, wenig Erklärungswert besitzt. Dieselbe genetische Konstellation hätte ja auch ein ganz anderes Verhaltensmuster bedingen können, und auch dann wäre dieselbe Behauptung genauso anwendbar gewesen. Und alle anderen Verhaltensweisen, selbst die von ganz anderen Genomen erzeugten, hätten stereotyp nur diesen einen Grund.

Es geht wieder um die schon erwähnte Unterscheidung von notwendiger und hinreichender Bedingung zur Spezifizierung einer Handlung. Das soziobiologische Argument liefert lediglich die Erklärung für die Durchsetzung einer Verhaltensweise, nicht aber für deren Auftreten. Diese Einsicht hat Konsequenzen für die Diskussion einer natürlichen Moral. Wenn zum Beispiel das Phänomen der Lüge oder auch die Gottesvorstellung lediglich als Selektionsvorteil in einer (Selbst- oder Fremd-)Täuschung belohnenden Evolutionsspirale angesehen werden(10), dann liegt hier derselbe reduktionistische Fehlschluß vor, daß der Vorteil, den ein Sachverhalt mit sich bringt, schon sein Zustandekommen erkläre.

Schließlich läßt sich die Frage der Zuordnung von Genom und Verhalten wieder auf die Grundfrage der genetischen Steuerung der Entwicklung, hier des Nervensystems, zurückführen. Es ist offensichtlich, daß bei jedem einigermaßen komplexen Nervensystem die Anzahl der Synapsen, also der Schaltstellen zwischen den einzelnen Nervenzellen, die Zahl der zur Verfügung stehenden Gene derart übersteigt, daß eine vollständige genetische Determinierung des neuronalen Schaltplans illusorisch wird. Die neuronalen Strukturen organisieren sich deshalb weitgehend selbst, indem ein vorgegebenes, genetisch induziertes Grundmuster entsprechend seinem Gebrauch in der Informationsverarbeitung weiter verstärkt und ausgebaut (oder bei Nichtgebrauch abgebaut) wird(11). Das Nervensystem differenziert sich in seiner Funktion also weitgehend erfahrungsabhängig, und das gilt natürlich auch für (fast) alle Verschaltungen des angeborenen Verhaltens. Auch die sogenannten "Erb"-Koordinationen der höheren Wirbeltiere werden durch einen früh in der Ontogenese liegenden Erfahrungsinput (meist hormonabhängig gesteuert) differenziert und liegen dann erst als starre, unveränderliche Fixierungen fest. Man charakterisiert diese Art von Verhaltensausbildung üblicherweise als (prä-, pen- oder postnatale) Prägung, wohl wissend, daß Konrad Lorenz es sich nicht hätte träumen lassen, daß dieses von ihm an Entenkücken entdeckte Phänomen einmal zur Beendigung des methodischen Grabenkriegs zwischen Behavioristen und Ethologen dienen würde.

Für das Verhalten ist also nur billig, was für die Keimesentwicklung im allgemeinen schon recht war: Die lebendige Strukturbildung wird nie nur von der genetischen Instruktion, sondern stets auch von epigenetischen Faktoren bestimmt, wobei auf Verhaltensebene bzw. der Ebene der neuronalen Entwicklung die physikalischen Gestaltungsfaktoren endgültig um ein subjektbezogenes Element erweitert werden müssen. Verhaltensentwicklung impliziert echte Selbstorganisation, das heißt Eigenaktivität, und darum ist der soziobiologische Erklärungsrahmen hier noch einmal zu kurz.

Die Sphäre des subjektiven Empfindens

Neuronale Selbstorganisation bedeutet aber nicht ohne weiteres schon echte Selbstbestimmung; insofern ist die Einführung des Subjektbegriffs an dieser Stelle etwas vorausgegriffen. Zunächst handelt es sich bei der Differenzierung des Nervensystems zwar um einen erfahrungsabhängigen Prozeß im Sinn eines zusätzlichen Inputs an Information, die nicht im Erbgut festgelegt ist, aber doch um einen - wenn auch plastischen - Mechanismus, den der Organismus passiv erleidet, statt aktiv zu intendieren. Insofern sprengen alle epigenetischen Prozesse zwar das starre Korsett genetischer Determiniertheit, passen aber als mechanistisch interpretierbare Abläufe durchaus noch ins Schema reiner Teleonomie. Der gegenwärtige, streng auf die genetische Seite des organischen Funktionierens festgelegte Erklärungsrahmen der Soziobiologie ist dafür zwar erwiesenermaßen zu eng, ließe sich aber mühelos auf die epigenetische Seite der Programmiertheit erweitern. Auch hier verläuft alles ohne jede Einsicht nach zweckmäßigen Gesetzen, und solange das der Fall ist, paßt es unter das Dach von Darwins Theorie.

Wie aber kommt dann echte Eigentätigkeit, wie wir sie von uns selber kennen, zustande - oder sollte sie doch nur eingebildeter, gar ideologischer Überbau unserer eigenen teleonomen Programmiertheit sein? Die "evolutionären Fehlsteuerungen", zu denen wir fähig sind, lassen Zweifel aufkommen bezüglich einer allzu großen Allgewalt der Teleonomie.

Die Kernfrage steckt in dem erwähnten Beispiel, daß es als Begründung genügt, aus Lust zum Schwimmen zu gehen. Was ist die biologische Bedeutung von Spaß haben, von Lust und der ganzen übrigen Gefühlswelt auch? Natürlich sind Empfindungen - in erster Näherung - teleonom; sie dienen einer überaus angepaßten Verhaltenssteuerung, wie Lorenz mit seinem ("hydraulischen") Triebmodell gezeigt hat(12). Aber es ginge auch ohne. Umweltgerechte Verhaltenssteuerung wäre auch auf rein kybernetischem Weg möglich, wie der automatische Pilot in jedem modernen Verkehrsflugzeug beweist, der auch komplizierte Landemanöver ohne alle Gefühlsregung meistert. Von selektionärem Nutzen ist der Besitz von Gefühlen durchaus; eine selektionäre Notwendigkeit ist er wohl kaum.

Das "Ko-Prinzip Eigenlust"(13)

Wie immer die Fähigkeit zum inneren Erleben entstanden sein mag, sie ist ein erstes Indiz - und der Beginn der Möglichkeit - subjektiver Autonomie. Ich tue etwas, weil es einen Drang in mir befriedigt: Das gilt für mein Schwimmengehen genauso wie für den Nestbau eines Vogels oder das Imponiergehabe eines Schimpansen. Mögen die Handlungen im einzelnen so selektionär zweckmäßig sein wie auch immer, sie geschehen, weil sie dem betreffenden Individuum in irgendeiner Form Lust, Befriedigung, Befreiung von einem Zwang bereiten, und sie sind als Handlungen erst vollständig beschrieben, wenn dieser Aspekt dazugesagt wird. Die Teleonomie ist da nicht mehr das hinreichende, ja, bisweilen nicht einmal mehr das notwendige Kriterium. Je reflexer ich den Lustgewinn wahrnehme, desto eher kann etwas nur um seinetwillen geschehen, unter ausdrücklicher oder unvermeidlicher Mißachtung jedes biologischen Nutzens. Beim nestbauenden Vogel mag eine solche Dissoziation natürlicherweise noch nicht vorkommen - erst experimentelle Raffinesse läßt ihn unbrauchbare Kunstnester herstellen, weil es sich mit Draht so schön "zitterschiebt"; bei zahlreichen sozialen Interaktionen emotionsgeladener Schimpansen(14) tut man gut daran, sie zu vermuten; beim zigarettenrauchenden Homo sapiens ist sie evident.

Es mag ein erbärmlicher Beweis für unsere Freiheit sein, daß sie uns Unsinnigeres erlaubt, als die Natur vorsieht. Es gibt aber auch die positive Seite: Unsere Gefühle bahnen uns den Weg der Wahrheit. "Affektlogik" hat Luc Ciompi(15) diese Facette unserer Gehirntätigkeit genannt und damit das lustbetonte Belohnungssystem unserer kognitiven Kalküle angesprochen. Und wahr ist: Die Lösung einer kniffligen Mathematikaufgabe befriedigt uns. Und Einsicht, Evidenz besteht doch auch in dem Empfinden, daß es gut ist, daß ein Sachverhalt sich so oder so verhält. Platon läßt grüßen - zwar diesmal nicht von einem Ideenhimmel, sondern aus der höchst irdischen Sphäre unserer Gefühle. Aber auch gefühlte Werte sind nicht nur Schatten, und Ideale gibt es in der Erkenntnis wie in der Liebe. Mit einem Mal erhält so der Evolutionsverlauf die Möglichkeit eines höheren Sinns hinter aller Paradoxie von naturhaftem Angepaßtsein und subjektivem Zuwiderhandeln. Sollte eine solche Aussicht nicht Grund genug sein für unsere Unzufriedenheit mit der soziobiologischen Zwangsbotschaft?

Stimmen der Zeit (1994) 132-140

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