Olivier Messiaen - Musiker der Verkündigung

Das Schaffen des französischen Komponisten Olivier Messiaen, dessen zehnter Todestag in diesem Jahr begangen wurde, zählt zu den wesentlichen Ereignissen der Musik des 20. Jahrhunderts. Im Bereich der Orgelmusik sind seine Werke an Bedeutung gar jenen Johann Sebastian Bachs gleichzustellen - eine Feststellung, die für kaum ein anderes Œuvre getroffen werden kann*. Als Kompositionslehrer von musikhistorischer Wirkung nahm Olivier Messiaen schließlich jenen Rang ein, den zuvor Arnold Schönberg innegehabt hatte. Was die künstlerische Hinterlassenschaft Messiaens jedoch so besonders und in unserer Zeit wahrlich singulär erscheinen läßt, ist ihre tiefe, völlige Durchdringung mit der katholischen Glaubenswelt.

"Je suis né croyant"

Gläubig geboren zu sein, dies war eine der Kernaussagen Messiaens über sich selbst. Wie ist dieser Satz gemeint? Religiosität war Messiaen nicht in die Wiege gelegt; dennoch verstand er sie als ihm in natürlicher Weise eigen. Er wurde am 10. Dezember 1908 in Avignon geboren. Sein Vater, Pierre Messiaen (1883-1957), war Anglist und hat eine neue Shakespeare-Übersetzung vorgelegt. Seine Mutter war die Dichterin Cécile Sauvage (1883-1927), deren oft melancholische Gedichte einen gewissen Hang zum Pantheismus in sich bergen. Es war eine bürgerlich-intellektuelle und daher im Sinn der nachrevolutionären französischen Tradition eher antiklerikale familiäre Umgebung, in der Messiaen aufwuchs. Entscheidende Jahre der Kindheit verbrachte er in Grenoble, zur Zeit des Ersten Weltkrieges. Der Vater war eingerückt. So war es nur natürlich, daß Messiaen ganz in den Bann jener zarten, geheimnisvollen Atmosphäre geriet, die die Gedankenwelt seiner Mutter charakterisiert. Messiaens Sensorium für das Wunderbare war früh geweckt. Er liebte Märchen (die Bände von Perrault und Madame d'Aulnoy), er lebte in der Welt der Feen, der Gnome, des Zaubers. Für seinen jüngeren Bruder Alain (1912-1990, später selbst ein origineller Lyriker) spielte er Theaterstücke Shakespeares, indem er - als einziger Darsteller und in eigenen Dekors - alle Rollen verkörperte.

Das zentrale Wort ist hier: das Wunderbare. Es hat Messiaen von Anbeginn an ganz und gar ergriffen, das Staunen über das dem Alltag Enthobene blieb ihm sein ganzes Leben lang, es wurde ihm zur Freude. Darin liegt gewiß der Ursprung für die Disposition Messiaens zur Religion, zur Anbindung an das Hohe und Höchste.

Später formulierte der Komponist, daß sein Glaube seinen Hang zum Wunderbaren um eine entscheidende Dimension erweitert habe, weil in der Religion das Wunderbare wahr ist.

Noch ein Aspekt kommt hinzu: Grenoble liegt am Fuß der französischen Alpen. Die Berge, die Messiaen als seine eigentliche Heimat betrachtete, prägten zweifellos seinen Sinn für das Große, Erhabene. Ausdehnung und Klanglichkeit seiner Werke geben hiervon ein beredtes Zeugnis. Obwohl die Familie Messiaen 1919 nach Paris zog, blieb der Komponist dem Dauphiné treu. 1936 erwarb er einen Besitz in Petichet, wo fortan fast alle seiner Werke in den Sommermonaten entstanden. In der Nähe, in Saint-Théoffrey, liegt Messiaen, der am 27. April 1992 in Paris verstarb, auch begraben.

Die "große Stadt"

Messiaen, der einmal gesagt hat, daß es in der Natur keine ästhetischen Verfehlungen gebe, blieb die "große Stadt" stets fremd. Der frühe Tod seiner Mutter (1927) mag zu seiner Verlorenheit in der Masse beigetragen haben, denn er vermehrte den Verlust an Nähe zur Natur, deren Schönheit der Komponist stets als Manifestation des Göttlichen betrachtete, um den Verlust einer sehr persönlichen poetischen Aura. In starken, archaischen und zugleich surrealistisch kombinierten Bildern thematisierte Messiaen in seinen 1938 entstandenen "Chants de Terre et de Ciel" für Sopran und Klavier die Pole von kindlicher Unschuld, Angst, Schwärze und den Abgründen der Stadt als Stätte des Zweifels, der Sünde und der Einsamkeit, schließlich der österlichen Hoffnung auf Erlösung und Auferstehung. Schon hier manifestiert sich der Glaube als Quelle des Trostes und der Zuversicht, ja als Schutzschild des Komponisten. Nicht zufällig ist dieser herrliche Liederzyklus, für den der Komponist (wie für nahezu alle seiner Vokalwerke) selbst die Texte verfaßt hat, nach der Geburt von Messiaens Sohn Pascal geschrieben worden. Es entsprach Messiaens in seiner Kindheit geprägter Empfindungswelt, daß die Stadt den Blick auf den Himmel, auf die Sterne - konkret wie symbolisch - verstellt. So war schon 1925 ein (unveröffentlicht gebliebenes) Klavierstück mit dem Titel "La tristesse d'un grand ciel blanc" entstanden.

Dennoch fand Olivier Messiaen just in Paris - der Metropole, die aller Abneigung
zum Trotz für viele Jahrzehnte zum Zentrum seines Wirkens werden sollte - jenen Ort, an dem er im engeren Sinn als katholischer Musiker ein wichtiges Amt innehatte: 1931 wurde er Titularorganist an der Trinité. Mit beispielhafter Treue und Liebe versah er seinen Organistendienst bis zu seinem Tod, also auch dann noch, als er längst weltberühmt und gewiß materiell unabhängig geworden war. Bis zuletzt bereitete er minutiös seine sonntäglichen Improvisationen vor, indem er die Texte von Lesung und Evangelium verinnerlichte, um sie sodann musikalisch zu kommentieren. In der Regel konnte man dann in den beiden Sonntagvormittagsmessen im Detail unterschiedliche, vom Grundmaterial her jedoch bewußt festgelegte Improvisationen hören und vergleichen; hier wurde die Gemeinde sozusagen zum Zeugen der Arbeit in der Komponistenwerkstatt - eine ebenso rare wie faszinierende Erfahrung, von der allerdings erschreckend wenige Studenten profitiert haben. Bemerkenswert nicht zuletzt die bedeutende Rolle, die gregorianische Themen in den Improvisationen Messiaens gespielt haben.

Gregorianik: Die Seele fliegt auf zur Wahrheit

Messiaen liebte den gregorianischen Gesang: für seine vollkommene Verschmelzung mit Wort und Handlung der Liturgie, und für seinen musikalischen Reichtum - seine biegsame Melodik, seine subtile Rhythmik und Agogik, sicherlich auch um der Freude willen, die diese Musik so oft ausdrückt. Naturgemäß sind die meisten Zitate gregorianischer Themen in Messiaens Orgelwerk zu finden, denn obwohl der Komponist (mit Ausnahme vor allem der "Messe de la Pentecôte") kaum explizit liturgisch gebundene Werke geschrieben hat, lag dieser Brückenschlag gerade in diesem Genre nahe. Dennoch näherte sich Messiaen erst relativ spät einer deutlichen Einbeziehung gregorianischen "Materials" - vielleicht auch deshalb, weil in seiner Jugend das Vorbild des von ihm hochverehrten, genialen Komponisten Charles Tournemire (1870-1939) übermächtig erschienen sein mag. So findet sich in Messiaens erstem großen Orgelzyklus, "La Nativité du Seigneur" aus dem Jahr 1935, lediglich ein in reiche modale Auszierungen gewandetes Zitat des "Puer natus est nobis" (1. Satz: "La Vierge et l'enfant"). Ein wesentlicher Schritt der Annäherung wird erst 1960 im "Verset pour la fête de la dédicace" vollzogen: Hier erklingt, zweifach, das Halleluja zum Kirchweihfest (eines der von Messiaen bevorzugten gregorianischen Themen). Zunächst insofern "authentisch", als es nicht harmonisiert wird, doch erscheinen die Intervalle im Sinn einer Steigerung ihrer Expressivität gedehnt. Die Konturen der Neumen behalten so ihre Eigenart, ihre Essenz bleibt gleichsam unberührt, aber ihr ursprünglicher modaler Rahmen ist noch "tabuisiert" (vergessen wir nicht: Es war die Zeit des fruchtbaren Sich-Messens zwischen Messiaen und den Vertretern der aus seiner Kompositionsklasse hervorgegangenen Avantgardisten wie Pierre Boulez oder Iannis Xenakis). Erst dann folgt eine Wiederholung mit komplexer Harmonisierung.

Neun Jahre später hat Messiaen zu seinem Spätstil gefunden und jene Tabus, die er, der große Erneuerer, eine Zeit lang von der jüngeren Generation übernommen hatte, hinter sich gelassen: So wie durch ihn die reine, natürliche Schönheit des Dur-Dreiklanges wieder Einzug in die Musik gehalten hat, werden im Orgelzyklus "Méditations sur le Mystère de la Sainte Trinité" gregorianische Themen nun entweder in ursprünglicher, nackter Einstimmigkeit (das Offertorium zu Epiphanie und, allen voran, wieder das Halleluja zum Kirchweihfest), oder in einer überaus sorgfältig (und "richtig") der Melodie-immanenten Modalität angepaßten Harmonisierung (Halleluja zum Allerheiligenfest) entfaltet. Das Graduale und das Halleluja zu Epiphanie werden in ihren Intervallen leicht modifiziert fortgeführt, um sie der Farbaura der sie umgebenden Messiaenschen Modi anzugleichen.

In Messiaens letztem Orgelzyklus, dem "Livre du Saint Sacrement" (1984), erklingen - wieder rein monodisch - folgende Themen: das Halleluja zum Fronleichnamsfest, das Halleluja zum Kirchweihfest, die Sequenz Lauda Sion und das Graduale zu Epiphanie. Demgegenüber sind zwei Abwandlungen bemerkenswert: Im fünften Satz "Puer natus est nobis" wird das wunderbare Initium des gleichnamigen Introitus mit seiner freudig aufsteigenden Quinte litaneienartig durch immer neue harmonische Beleuchtungen geführt; der Ablauf von wiederholten und sequenzierten Abspaltungen des Initiums der Communio zum Fronleichnamsfest wird in seiner Geschwindigkeit von überlagerten Vogelgesängen beeinflußt (12. Satz: "La Transsubstantiation"). In beiden Sätzen läßt Messiaen die Musik in eine Conclusio münden, die die gregorianischen Zitate - ganz im Sinn und in der Atmosphäre liturgischen Orgelspiels - wieder in originaler Gestalt und kirchentonal harmonisiert erklingen läßt. Keines dieser Zitate ist nur musikalisch, allein um seiner melodischen Qualitäten willen, gewählt; immer geht mit ihm der Gehalt des jeweiligen Textes, also eine religiöse Aussage, einher. Und es gemahnt der Akt des Zitierens an die liturgische Funktion des Organisten. Im Fall des "Livre du Saint Sacrement" ist das Zitat gar Bestandteil eines Dialoges zwischen Komponist/Interpret und Gott.

In zwei Orchesterwerken der mittleren Schaffensperiode griff Messiaen ebenfalls auf gregorianische Themen zurück. Bezeichnenderweise handeln beide Kompositionen von der verheißenen Erlösung: In "Couleurs de la Cité céleste" (1963) werden die Farben des himmlischen Jerusalems, jenes sinnlichen Bildes der göttlichen Gegenwart am Telos des Erlösungswerkes, klanglich dargestellt. Messiaen zitiert hier folgende Themen: das Halleluja zum Fronleichnamsfest (in originaler melodischer Gestalt, aber harmonisiert), das Halleluja zum 4. Sonntag nach Ostern (in seriell anmutender, punktueller Aufsplitterung des melodischen Verlaufes) und das Halleluja zum 8. Sonntag nach Pfingsten, das in verschiedenen Gestalten auftritt - monodisch mit veränderten Intervallen, eingewoben in fremde Kontrapunkte und in Überlagerung mit dem Halleluja zum Kirchweih- fest.

In Messiaens instrumentalem Requiem "Et exspecto resurrectionem mortuorum", 1964 im Auftrag von André Malraux als Werk zum Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkrieges geschrieben, steht - wiederum typisch für die heilszugewandte Orientierung des Komponisten - nicht die Trauer über den Tod, sondern die Gewißheit der Auferstehung im Mittelpunkt. Messiaen stellt dem vierten Satz

ein Bibelzitat voran, das Aussagen aus dem Alten wie aus dem Neuen Testament gleichsam komprimiert: "Ils ressuciteront, glorieux, avec un nom nouveau - dans le concert joyeux des étoiles et les acclamations des fils du ciel" ("Sie werden auferweckt in Herrlichkeit, mit einem neuen Namen - und es werden miteinander jubeln die Morgensterne und jauchzen alle Söhne Gottes": 1 Kor 15, 43; Offb 2, 17 und Ijob 38, 7). Introitus und Halleluja zum Ostersonntag erklingen zunächst nacheinander, dann gleichzeitig, zuletzt in Überlagerung mit einer "Musik des Abgrunds" aus dem ersten Satz des Werkes. "Abgrund" bedeutet bei Messiaen stets auch Tiefe der Erkenntnis.

"und mit einer Stimme rufen ..."

Die Monodie, also die reine, einstimmige Melodie, die beseelte Anrufung, deren Wurzeln im gregorianischen Gesang liegen, spielt in der Musik Olivier Messiaens eine bedeutende Rolle. Ob im Jubilus der "Transports de Joie" aus der Orgelfassung seines Zyklus "L'Ascension" (1934), in den österlichen Halleluja-Vokalisen von "Résurrection" aus den "Chants de Terre et de Ciel", in der Kontemplation der "Subtilité des corps glorieux" oder der vorwärtsdrängenden Energie in "Force et agilité des corps glorieux" aus dem Orgelzyklus über die verklärten Leiber (1939) oder der Evokation von Tiefe, aus der die Anrufung emporsteigt, wie im "Abîme des oiseaux" für Klarinette solo aus dem "Quatuor pour la fin du temps" (1941) - stets ist bei Messiaen der "reine Gesang" Bündelung und Essenz, nicht Kargheit und Verzicht.

Anklänge an den monastischen Gesang sind naturgemäß im vokalen Schaffen des Komponisten häufig anzutreffen: im mehrfach unisono geführten Frauenchor der "Trois petites liturgies de la présence divine" (1943/44) ebenso wie in den dem Psalmton nachempfundenen unisono-Passagen der Männerstimmen im abendfüllenden Oratorium "La Transfiguration de Notre Seigneur Jésus-Christ" (1965-69). Sogar die Art und Weise, wie Messiaen die Solisten in seiner einzigen Oper, "Saint François d'Assise" (1975-83), einsetzt, gemahnt an gregorianische Vorbilder: Nach responsorialer Praxis alterniert in Messiaens opus magnum über weite Strecken unbegleiteter Gesang mit der Pracht und Fülle eines ungeheuer reich gestalteten Orchesterklanges.

Doch ist es ein altes Prinzip der abendländischen Musik, daß eine Melodie eine harmonische Aura (als von ihr ausgelöste Abfolge von Resonanzen) entstehen läßt. Üblicherweise geschieht dies in zwei Schichten: einer melodischen, also führenden, und einer begleitenden, also untergeordneten. Olivier Messiaen hat in seiner Musik dieses Prinzip der Homophonie an signifikanten Momenten seiner Werke noch gesteigert. Die Melodie wird, Note für Note, harmonisiert, die beiden Schichten verschmelzen zu einer. Die unbegleitete Linie des gregorianischen Chorals wird bei Messiaen umgedeutet zu einer Kette von Akkorden, die jedem Melodieton eine eigene Farbe verleihen. Im 6. Satz der "Turangalîla-Symphonie" (1946-48), "Jardin du sommeil d'amour", singen die Streicher eine weite, langsame Phrase; die Melodie wird im Abstand einer Oktave parallel geführt und von innen her, also aus sich selbst, erhellt, indem die Harmonien den Oktavrahmen nie überschreiten.

Melodhe und Farbe sind wesentliche Elemente im Schaffen Olivier Messiaens. Und sie bezeichnen signifikanterweise Ausgangs- und Endpunkt seiner Überlegungen über das Verhältnis von Musik und Religion. Folgt man seinen Gedanken, so wird auch klar, weshalb - gerade er - fast ausnahmslos Werke geschaffen hat, die nicht für die Liturgie bestimmt sind.

Conférence de Notre-Dame

In der denkwürdigen Rede, die Messiaen am 4. Dezember 1977 in der Pariser Kathedrale gehalten hat, unterschied er drei Formen, wie Musik dem Sacrum dienen kann (er formuliert: "s'adapter au Sacré" - keine Spur also, bei diesem hochbedeutenden Künstler, von der seit Jahrzehnten in Kunstkreisen hysterisch zur Schau getragenen Ablehnung, sich und seine Werke "instrumentalisieren" zu lassen):

Als eigentlich liturgische Musik läßt Messiaen für den Katholizismus mit unmißverständlicher Deutlichkeit nur den gregorianischen Gesang gelten, der seine volle Bedeutung erst in seinem Eingebettet-Sein in die liturgische Handlung erhält. Religiöse Musik hingegen ist eine jegliche, die versucht, das göttliche Geheimnis auszudrücken. Als Beispiele nennt Messiaen, nach Bach, Mozart und Debussy ("Le Martyre de Saint Sébastien"), György Ligetis "Requiem", Krzysztof Pendereckis "Lukas-Passion" und "Koskom" seines ehemaligen Schülers, des Vietnamesen Nguyen Thien Dao. Alle diese Werke nähern sich (bei Dao, wie Messiaen bemerkt, vielleicht sogar vom Komponisten ungewollt) dem Unfaßlichen in einer Haltung von Ehrerbietung. Die Frage nach konfessioneller Zugehörigkeit stellt sich hier nicht mehr, ebensowenig wie die von Ort, Zeit oder Stil.

Messiaen denkt in seiner "Conférence de Notre-Dame" zugleich in Stufen wie in konzentrischen Kreisen. Die Definitionen weiten nach und nach das Feld der ihnen zugehörigen Werke und deren Möglichkeiten musikalischer Gestaltung aus. Die dritte, höchste und weiteste Stufe ist die des Farbklanges und des Geblendet-Seins. Messiaen entwickelt hier ein Gleichnis, das ins Zentrum seiner eigenen musikalischen Vorstellung führt (aber keineswegs nur auf dieses bezogen ist): In einer Art intellektueller Synästhesie verband der Komponist jeden komplexen Klang (Akkord) mit einer komplexen Farb-Vision. So wird jedes seiner Werke einem der gotischen Glasfenster ähnlich, von denen Messiaen in seiner "Conférence de Notre- Dame" sagt, daß man von Ferne deren unzählige Details nicht mehr erkennen kann, aber von dem Gesamteindruck "geblendet" ("ébloui") wird. Zusammenfassend heißt es:

"Die farbige Musik berührt gleichermaßen unsere vornehmsten Sinne, das Ohr und das Auge; sie setzt unsere Sensibilität in Bewegung, belebt unsere Vorstellungskraft, steigert unsere Intelligenz und führt uns dazu, unsere Begriffswelt zu überschreiten und zu dem zu gelangen, was über dem Verstand und der Intuition steht, zum Glauben."

Und Messiaen zitiert auch in diesem Kontext seinen vielleicht größten theologischen Lehrmeister, den heiligen Thomas von Aquin: "Gott überwältigt uns durch sein Übermaß an Wahrheit." Es ist dies genau jener Satz, den der Komponist - in poetischer Mißachtung historischer Chronologie - in seiner Oper dem sterbenden Franz von Assisi in den Mund legt.

Der endgültigen Überwältigung durch die göttliche Wahrheit geht für Messiaen also die zeitliche Überwältigung durch die mit den Mitteln der Kunst gebildete Schönheit voraus. Anspruch und Verpflichtung, aber auch Wirkung von Kunst grenzen hier an das Wunderbare, eben an das wahre Wunderbare.

Klingende Theologie

Sind naturgemäß die Orgelwerke Messiaens im liturgischen Rahmen sinnvoll einsetzbar (was sie, im Sinn des Komponisten, aber noch nicht zu eigentlich liturgischer Musik macht), so gibt es aus seiner Feder nur ein einziges, kurzes Vokalwerk für den liturgischen Gebrauch: die 1937 entstandene Motette "O sacrum convivium!" für vierstimmigen gemischten Chor a cappella. Eine unpublizierte Messe in der originellen Besetzung für acht Soprane und vier Violinen aus dem Jahr 1933, die im frühen Werkverzeichnis als Anhang zu Messiaens Lehrbuch "Technique de mon langage musical" (1944) erwähnt wird, ist verschollen; Messiaen hat sie dem Verfasser dieses Beitrags gegenüber als mißlungen bezeichnet, und es ist anzunehmen, daß er das Manuskript vernichtet hat.

Die überwiegende Mehrzahl der Werke Messiaens ist jedoch als "religiöse Farb- klang-Musik" zu charakterisieren. Diese ist theologisch fundiert, nicht mystisch; sie kommentiert Glaubenswahrheiten, rührt vermittels des durch sie ausgelösten "éblouissement" aber auch an das Nicht-Sagbare. Die theologische Verankerung führte den Komponisten dazu, häufig in großen, zyklischen Formen zu denken. Jeder Satz eines solchen mehrteiligen Werkes behandelt einen bestimmten inhaltlichen Aspekt des Generalthemas. Wie bei einem Mosaik entsteht erst im zusammengefügten Ganzen die umfassende Aussage. Daher ist es nur verständlich, daß Messiaen Teilaufführungen seiner Kompositionen in der Regel ablehnend gegenüberstand.

"La Nativité du Seigneur" für Orgel (1935)

Der erste und zugleich populärste große Orgelzyklus des Komponisten - er umfaßt neun Sätze - führt uns zu einer wesentlichen theologischen Quelle, zu "Le Christ dans ses mystères" des einstmaligen Abtes des belgischen Benediktinerklosters Maredsous, Dom Columba Marmion (1858-1923). Wie Brigitte Massin in ihrem bedeutenden Buch "Olivier Messiaen: une poétique du merveilleux" (Aix-en-Provence 1989) darlegt, war Messiaen anläßlich seiner Nominierung zum Titularorganisten der Pariser Trinité von seinem Beichtvater auf Dom Columba Marmions Schrift verwiesen worden, um sich für seine neue liturgische Funktion das nötige Wissen um die Bedeutung der Stationen des Kirchenjahres anzueignen. In der Tat sollte "Le Christ dans ses mystères" Messiaens klingende Theologie bis in das späte Schaffen prägen.

Die Struktur der "Nativité" gliedert sich, gemäß der Kapitel VI und VII bei Dom Columba Marmion, in vier Aspekte: Gottes ewiger Ratschluß, die Menschheit durch das Kommen Christi in die Welt zu erlösen (3. Satz: "Desseins éternels"); drei Geburten: die ewige Inkarnation des Wortes Gottes (4. Satz: "Le verbe"), die Geburt des Kindes Jesus (1. Satz: "La Vierge et l'enfant") und die spirituelle Geburt der Christen (5. Satz: "Les enfants de Dieu"); die Gegenwart Gottes unter den Menschen (9. Satz: "Dieu parmi nous"), die - schon in der Geburt - die Annahme von Leiden und Opfer einschließt (7. Satz: "Jésus accepte la souffrance"); die Beschreibung von Figuren, die dem Heilsgeschehen der Geburt des Herrn "eine besondere Poesie verleihen" (Messiaen): die Engel (6. Satz: "Les Anges"), die Hirten (2. Satz: "Les bergers") und die heiligen drei Könige (8. Satz: "Les Mages").

Jedem der neun Sätze stellt der Komponist zudem eine Perikope voran. Durch die vielfältigen Bezüge zu (durchaus nicht bloß narrativen, sondern bereits deutenden) Texten aus der Heiligen Schrift vollzieht sich hier eine klingende Exegese. Der Untertitel des Zyklus, "neun Meditationen", mag auf die andere Dimension verweisen, in der Musik sich ausdrückt - er schwächt jedoch die Gültigkeit ihrer "wahren Quellen" nicht ab. Dieses Verfahren einer konkreten Anbindung an das Wort liegt allen in der Folge kurz beschriebenen Werken zugrunde: Diese Musik predigt.

"Visions de l'Amen" für zwei Klaviere (1943) und "Vingt Regards sur l'Enfant- Jésus" für Klavier (1944)

Bald schon nach seiner zu Beginn des Jahres 1941 erfolgten Rückkehr aus deutscher Kriegsgefangenschaft im schlesischen Görlitz, also noch in den letzten, schrecklichen Jahren des Zweiten Weltkrieges, wandte sich Messiaen der Arbeit an zwei monumentalen Klavierzyklen zu. Ungeheuer erscheint die schöpferische Kraft, die er aus gläubiger Zuversicht dem Grauen der Zeit entgegenstellt. Aber es ist keine Flucht in eine "heile Welt", es ist die laut verkündete "andere Welt", eine Realität, die sich über die andere Realität zu erheben vermag.

In den sieben Klang-Visionen (oft kommt der Anzahl der Sätze von Messiaens Zyklen symbolische Bedeutung zu) des erstgenannten Werkes sind (wie in der "Nativité") vier Aspekte des "Amen" ausgedrückt: zuerst das "Amen de la Création", "es sei", der Schöpfungsakt (1. Satz). Ihm ist, als vorletzter Satz, das "Amen du Jugement" zuzuordnen, wodurch Beginn und Ende der Zeit (auch sie ist Schöpfung) bezeichnet sind. Bedenkenswert ist der Kommentar Messiaens zu diesem unerbittlichen Stück: "Die Verfluchten werden in ihrem So-Sein gehalten", sie bleiben verflucht. Mit dem anderen dunklen Stück des Zyklus, dem "Amen de l'Agonie de Jésus" (3. Satz) ist der zweite Aspekt des Amen-Rufes berührt: die Annahme des Leidens, "Dein Wille geschehe". Es ist wohl kein Zufall, daß Messiaen hier ein Thema aufgreift, dessen Kontur bereits im ersten und siebenten Satz der "Nativité" ("La Vierge et l'enfant" und "Jésus accepte la souffrance") an exponierter Stelle stand.

Mit einer weiteren inhaltlichen Verklammerung setzt der Komponist dem Dunkel eine Dynamik des Hellen entgegen: Im "Amen du Désir" (4. Satz) wird das "es sei" als brennendes Verlangen nach dem Eins-Werden mit Gott gedeutet - der dritte Aspekt. Alles mündet im "Amen de la Consommation" (7. Satz), im Licht-Geläute der auferstandenen Leiber, dem Amen im Sinn des endgültigen und ewigen "es ist" - der vierte Aspekt.

Ergänzt werden diese Sinndeutungen vom Amen, das die Schöpfung durch ihr Sein sagt: So läßt Messiaen die Sterne tanzen ("Amen des étoiles, de la planète à l'anneau", 2. Satz) und die Reinen singen ("Amen des Anges, des Saints, du chant des oiseaux", 5. Satz), wobei sich in für den Komponisten typischer Weise die Lobpreisungen der Natur (der Vogelgesang) und des Geistes (die Heiligen und Engel) miteinander verbinden.

Neben Texten aus der Bibel liegt den "Visions de l'Amen" eine weitere, für Messiaen ebenfalls lebenslang wichtige Inspirationsquelle zugrunde: "Paroles de Dieu" (Paris 1899) von Ernest Hello (1828-1885). 1933 hatte Alain Messiaen seinen Bruder auf das gedanklich wie sprachlich sehr eindrucksvolle Buch dieses religiösen Schriftstellers hingewiesen. Im abschließenden, "Amen" überschriebenen Kapitel finden sich die Darstellungen aller oben erläuterten Aspekte des Wortes, die Messiaen musikalisch kommentiert hat.

Können Messiaens "Visions de l'Amen" in gewisser Weise als Amen, wenn schon nicht zur Zeit, so doch in der Zeit der Bedrängnis verstanden werden, so erscheint
der abendfüllende Zyklus der "Vingt Regards sur l'Enfant-Jésus" vollends als Gegenentwurf. Das zweistündige Werk zählt zu den wichtigsten Schöpfungen des Komponisten und nimmt in der technisch-klanglichen Entwicklung der Klaviermusik im 20. Jahrhundert eine zentrale Stellung ein.

Mit Hinweis auf Dom Columba Marmion sowie Maurice Toesca (1904-1998) und dessen ursprünglich für den Rundfunk konzipierten Text "Les Douze Regards" (1952 unter dem Titel "La Nativité" publiziert), aber auch auf den heiligen Thomas von Aquin, den heiligen Johannes vom Kreuz und die heilige Thérèse von Lisieux, entwickelt Messiaen ein kunstvolles Geflecht von Betrachtungen des göttlichen Kindes. Die Sätze I, V, X, XV und XX vollziehen den Weg der Liebe nach: vom "Blick des Vaters" über den "Blick des Sohnes auf den Sohn", den "Blick des Geistes der Freude" und den "Kuß des Jesuskindes" bis hin zum "Blick der Kirche der Liebe". Es ist dies die hierarchische Bewegung der sich verströmenden göttlichen Liebe. Weitere Sätze sind den Blicken der Jungfrau, der Engel und der Propheten sowie der Hirten und Weisen aus dem Morgenland gewidmet (Sätze IV, XIV und XVI). Abstraktere Regionen der Betrachtung finden sich in den Sätzen VIII ("Regard des hauteurs"), IX ("Regard du temps"), XVII ("Regard du silence") und XVIII ("Regard de l'Onction terrible" - die Annahme des Fleisches durch die göttliche Majestät).

Eine bisweilen geradezu erschreckende Kraft (Messiaen liebte den Begriff "terrible") äußert sich im 3. Satz ("L'échange" - Gott wird Mensch, um uns zur Göttlichkeit zu erheben), im 12. Satz ("La parole toute-puissante" - das Kind trägt Gottes Wort) und im zuletzt komponierten 6. Satz ("Par Lui tout a été fait"), einer komplexen Fuge, mit der diese traditionsreiche Form möglicherweise ihren musikgeschichtlichen Endpunkt erreicht hat.

Das höchst diversifizierte Klangmaterial dieses Zyklus - überbordend von intensiver Farbigkeit, von neuen rhythmischen Techniken und großer Melodik - wird durch drei Themen, die mehrfach auftreten, formal zur Einheit gebunden: durch das Gottes-Thema, eine modale Akkordfolge, die um Fis-Dur kreist - bei Messiaen die Tonart der Liebe (siehe auch die "Turangalîla-Symphonie"); durch das monodische Thema des Sterns und des Kreuzes (gebildet aus dem seit der Barockzeit geläufigen Vierton-Kreuzesmotiv und seiner melodischen Fortführung), das die Zeichen von Geburt und Tod Christi, also von Beginn und Ende seiner irdischen Existenz, zusammenführt; schließlich durch ein abstraktes Akkord-Thema (4x4 Töne). Jeder Satz hat zudem sein eigenes thematisches Material.

Die Musik der "Vingt Regards" ist von frappierender Vielgestaltigkeit. Phrasen inniger Zärtlichkeit wechseln ab mit kühnen, abstrakt wirkenden Figuren. Passagen frenetischer, jubelnder Bewegung stehen neben Momenten, in denen die Zeit bis zu ihrem Stillstand gedehnt erscheint - wiederum ein typischer, dem asiatischen Empfinden verwandter Aspekt der Kunst Messiaens. In der kompromißlosen Ehrlichkeit dieser Musik, sich der Überwältigung durch das Gefühl zu öffnen, liegt ein guter Teil ihrer fortwährenden Faszination. Heute - bald 60 Jahre nach der Entstehung der "Vingt Regards" - haben sich die Diskussionen um vermeintliche Widersprüche von "Zeitgenössischem" und "Unzeitgemäßem" solcher Kunst, wie sie nach 1945 heftig geführt wurden, aufgelöst.

"Méditations sur le Mystère de la Sainte Trinité" (1969) und "Livre du Saint Sacrement" (1984) für Orgel

Die letzten beiden Orgelzyklen Messiaens sind in ihrer inhaltlichen Anbindung grundlegend verschieden:

Die "Méditations" sind ein klingender theologischer Traktat über die Heilige Dreifaltigkeit. Daß sich ihr Sinnzusammenhang wiederum nur aus dem Ganzen ergibt, wird schon dadurch deutlich, daß der Komponist den neun (= 3 x 3) Sätzen keine Titel gab. Vielmehr entwickelte Messiaen für diesen Zyklus seinen "langage communicable", ein System einer musikalischen Analogie zur Sprache. Den Buchstaben des Alphabetes werden nach verschiedenen Prinzipien Töne, deren Oktav- lagen und Dauern zugeordnet. Für die Buchstaben A bis H übernimmt Messiaen das deutsche Ton-Alphabet; die restlichen Buchstaben werden nach phonetischen Gesichtspunkten gruppenweise ergänzt. So erhält jeder Buchstabe seine nur ihm eigene klingende Identität. Zur musikalisch sinnvollen Eingrenzung und nicht zuletzt Gestaltung bei der Metamorphose eines Textes in eine Tonstruktur legt Messiaen überdies fünf charakteristische melodische Floskeln fest, die grammatikalische Funktionen haben (ein Motiv für Genetiv oder Ablativ oder Lokativ, ein Motiv für Akkusativ oder Dativ und zusätzlich ein Motiv für die Bezeichnung des Fehlens von etwas, "Privativ" genannt) respektive die Hilfszeitwörter "sein" und "haben" symbolisieren. Das dreitönige "sein"-Motiv ist absteigend, weil alles, was ist, von Gott herkommt; das "haben"-Motiv steigt, in Spiegelgestalt zum "sein"-Motiv, auf, denn wir können immer mehr haben, indem wir uns zu Gott erheben. Dem Namen Gottes ordnet Messiaen ein Thema nebst dessen retrograder Gestalt zu - gleich dem Ring ein Symbol für die Ewigkeit, die weder Anfang noch Ende kennt.

In den Sätzen I, III und VII werden mit Hilfe des "langage communicable" Sätze aus der "Summa theologiae" des heiligen Thomas von Aquin in Musik gesetzt. Gewiß bedient sich Messiaen im ganzen Zyklus des gesamten Wortschatzes seines Stils (farbige Akkordketten, Hindu-Rhythmen, Permutationsverfahren, Einbeziehung von Gregorianik usw.), um verschiedene Aspekte der Trinität darzustellen: die Ewigkeit Gott Vaters, Gottes Heiligkeit, die Vision des "Ich bin", der Gott der Liebe, die Glorie des Sohnes, die Einheit der Trinität, der Windhauch des Geistes usw. Doch bleiben dies (wunderbare) Gleichnisse, Evokationen, Äußerungen eines Individuums, also eine persönliche künstlerische Darstellung. Demgegenüber ging es Messiaen mit dem "langage communicable" um den für ihn wesentlichen Schritt hin zu einer Objektivierung. Die in Tonfolgen umgewandelten Lehrsätze aus der "Summa theologiae" bedeuten eine gänzliche Verschmelzung von Theologie mit Musik. Hier trat der Komponist beinahe in jene Anonymität zurück, die er am gregorianischen Choral so verehrte und die es ihm erlaubte, die Wahrheit in seine Kunst zu versenken.

Ganz anders ist die Intention von Messiaens letztem Orgelwerk, dem zweistündigen "Livre du Saint Sacrement". Seine 18 Sätze bilden drei Gruppen: Die Sätze I-IV bezeichnet Messiaen als "Akte der Anbetung des unsichtbaren, aber in der Eucharistie gegenwärtigen Christus". Mit den Sätzen V-XI greift der Komponist erneut die Gedanken von Dom Columba Marmion auf: Aller Gnaden, die Christus für die Menschheit durch sein Leben erworben hat, wird der Gläubige durch die Feier der Liturgie teilhaftig. So folgt dieser "innere Zyklus" nochmals der Chronologie des irdischen Daseins des Heilands - von Jesu Geburt über die Einsetzung der heiligen Eucharistie (dieser 8. Satz war, in Gestalt einer liturgischen Improvisation Messiaens, der kompositorische Ausgangspunkt des Werkes) bis hin zur Erscheinung des auferstandenen Christus vor Maria Magdalena. Mit dem 12. Satz ("La Transsubstantiation") taucht die Musik in das Geheimnis der Kommunion ein. Eine theologische Assoziation von geradezu surrealistischer Wirkung erdachte Messiaen für den 13. Satz ("Les deux murailles d'eau"), indem er das Bild der beiden Hälften der gebrochenen Hostie und das der geteilten Wasserfluten aus dem Buch Exodus übereinanderlegte.

Die nun folgenden drei Sätze sind demgegenüber persönliche, ja intime Momente gläubigen Erlebens: Zwei Gebete von inniger Zartheit ("Prière avant la communion", "Prière après la communion") umrahmen den 15. Satz ("La joie de la grâce") - eine Kaskade jubelnder Vogelgesänge, die als Stimme der gottgeschaffenen Natur an die Stelle des auch von Musik nicht mehr Sagbaren treten, nämlich den Empfang der heiligen Kommunion selbst. Das "Livre du Saint Sacrement", und mit ihm Messiaens gesamtes Orgelschaffen, schließt mit einem weiteren Satzpaar, in dem Theologie, also Wahrheitsverkündung, und Lobgesang alternieren: "La Présence multipliée" (inspiriert von der Sequenz "Lauda Sion") und "Offrande et Alléluia final" als Opfergesang aller Heiligen, gefolgt von einer brillanten Toccata, die in die mittels des "langage communicable" in Töne gesetzte Proklamation des Wortes "la joie" ("Freude") mündet.

Mit dem "Livre du Saint Sacrement" hat Olivier Messiaen der Orgelmusik ein Werk von außerordentlicher Schönheit und Vielfalt geschenkt. Es ist kaum verwunderlich, daß es sogleich nach seinem Erscheinen Eingang gefunden hat in das Repertoire vieler Organisten. Dennoch ist es in dem Sinn am wenigsten als ein "konzertantes" zu begreifen, als es sich insgesamt nicht so sehr dem Hörer zuwendet, sondern, als Akt der Anbetung, in Wahrheit direkt an den Allerhöchsten gerichtet ist. Diese Musik betet.

"oculos in altum tollite"

Die vier groß besetzten, abendfüllenden Werke, die Olivier Messiaen von Mitte der 60er Jahre an, also nach Abschluß seiner experimentellen Schaffensphase, geschrieben hat, bezeugen wiederum die glühende Heilszugewandtheit ihres Schöpfers:

Vom Oratorium "La Transfiguration de Notre-Seigner Jésus-Christ" (1965-69) war schon die Rede. Einem Diptychon ähnlich, ist es in zwei Septenarien, also zweimal sieben Sätze in entsprechender Abfolge, angeordnet: Der Rezitation eines Textes aus Mt 17 (monastischer Gesang und Schlagzeug, also nur die Pole von Melodik und Rhythmus) folgen jeweils zwei Meditationen, in denen Zitate aus den Psalmen, liturgische Texte zum Fest der Verklärung des Herrn und aus der "Summa theologiae" vertont werden. Nach einer weiteren solchen Trias wird jedes Septenarium von einem streng homophonen Choral des ganzen Ensembles beschlossen. Im ersten Choral ("Choral de la Sainte Montagne") zitiert Messiaen den zweiten Vers aus Psalm 48, im zweiten Choral ("Choral de la Lumière de Gloire") den achten Vers aus Psalm 26. Die reiche Harmonik beider Schlußgesänge bezieht sich stets auf den für das gesamte Werk zentralen E-Dur-Akkord, bei Messiaen der Klang des Heiligen. In den Meditationen entfaltet der Komponist freskenartig die Vielfalt der klanglichen Möglichkeiten, die sich aus der Besetzung ergeben: gemischter Chor (100 Sänger), instrumentale Soli (Klavier, Flöte, Klarinette, Violoncello, Xylorimba, Vibraphon, Marimbaphon) und Orchester. Alle Texte werden - in bisweilen mosaik-, also kirchenfenster-ähnlicher Weise kombiniert - in lateinischer Sprache vorgetragen, um ihre universelle Gültigkeit zu unterstreichen.

Der zur Höhe gewandte Blick, der zugleich das Schauen des Lichtes bedeutet und in der letzten Meditation des zweiten Septenariums ("Tota Trinitas apparuit") zu grandiosen Momenten der Erhebung des Herzens führt - ihm entspricht die nach oben gerichtete Dramaturgie von "Des Canyons aux étoiles..." (1971-74) für Soli (Klavier, Horn, Xylorimba, Glockenspiel) und Orchester. In diesem im Auftrag einer amerikanischen Mäzenin geschriebenen Werk ließ sich der unermüdlich Reisende, der Messiaen auch war, von einigen überwältigenden Naturdenkmälern der Vereinigten Staaten inspirieren: Cedar Breaks und Bryce Canyon (Utah) mit ihrer Tiefe und Farbpracht (beide, erinnern wir daran, führen bei Messiaen zum staunenden Erkennen!), Zion Park als Symbol des Paradieses.

Der erste Satz ("Le désert") ist ein Ausgangspunkt fast aus dem Nichts, eine Musik der Stille, des reinigenden Verzichts. Wieder beruft sich Messiaen auf Ernest Hello, aber auch auf Romano Guardini, den mittelalterlichen flämischen Mystiker Jan van Ruysbroeck, auf das Buch Hiob, den 146. Psalm und die Offenbarung des Johannes. Der sich aus der Tiefe erhebende Blick richtet sich auf Zeichen und Sterne (3. Satz "Ce qui est écrit sur les étoiles...": "Mene, Teqél, Parsîn", Buch Daniel 5, 25-28; 8. Satz "les ressuscités et le chant de l'étoile Aldébaran": musikalisch ein Gegenstück zum "Jardin du sommeil d'amour" aus der "Turangalîla-Symphonie"). Der dem Horn solo anvertraute 6. Satz ("Appel interstellaire") ist ein modernes "De Profundis", ein Moment auch der Verlorenheit des um Trost bittenden Menschen, der sich seiner Kleinheit (vielleicht auch seiner Einsamkeit?) im Universum bewußt wird. Die Stimme der Zuversicht kommt nicht zuletzt aus der Schönheit der Natur: Unzählige Vogelstimmen bevölkern die klingende und spirituelle Landschaft des Werkes. Im 10. Satz ("la grive des bois") verklärt sich der Gesang der Walddrossel mit seinem charakteristischen, gebrochenen C-Dur-Quartsextakkord zur "weißen" Musik, zum Gleichnis für den "weißen Stein, auf dem ein neuer Name steht, den nur der kennt, der ihn empfängt" (Offenbarung des Johannes 2, 17). Der 12. und letzte Satz ("Zion Park et la Cité céleste") endet in einem jubelnden Carillon in den Farben der ewigen Stadt. Das Himmelsblau des sehr lange weiterklingenden A-Dur-Klanges "öffnet" zugleich der Bewegung dieser Komposition die Pforte zur Unendlichkeit.

Messiaens einziges Bühnenwerk, "Saint François d'Assise" (1975-83), entstand im Auftrag von Rolf Liebermann für die Pariser Oper. So ungewöhnlich es, zumal im ausgehenden 20. Jahrhundert, sein mag, just ein religiöses Sujet für eine Oper zu wählen, so klar war es für Messiaen.Christus auf die Bühne zu bringen, schied jedoch natürlich aus, und auch die Gestalt eines Propheten erschien dem Komponisten letztlich als zu groß. Im demütigen Franz von Assisi fand Messiaen schließlich die zentrale Figur für seine Oper, denn dieser Heilige war Christus am ähnlichsten, und - ein gewichtiges Argument - er hat zu den Vögeln gepredigt. Das "poème" zu "Saint François d'Assise" (Messiaen nannte seinen Text Dichtung, nicht Libretto) bediente sich folgender Quellen: der Franziskus-Biographien des Thomas von Celano und des heiligen Bonaventura, der "Fioretti" sowie der Schriften des Heiligen selbst, etwa "De vera et perfecta laetitia", vornehmlich aber der "Laudes Creaturarum", deren Lobpreisungen auf mehrere Bilder der Oper verteilt wurden.

Messiaen hat seine Oper bewußt als Summa konzipiert. Keines seiner anderen Werke ist ihm hinsichtlich der Fülle des musikalischen Materials gleichzusetzen. Alles Pittoreske aus dem Leben des Heiligen bleibt ausgespart, auch die heilige Clara, durch die ein bedeutender, paralleler Handlungsstrang notwendig geworden wäre. "Saint François d'Assise" ist in drei Akte mit acht (3+3+2) Bildern gegliedert: Das Kreuz, Die Laudes, Der heilige Franziskus küßt den Aussätzigen, Der wandernde Engel, Der musizierende Engel, Die Vogelpredigt, Die Stigmata, Der Tod und das neue Leben. Die einzelnen Gestalten auf der Bühne sind allein aus dem unmittelbaren Kreis um den Heiligen ausgewählt. Neben die Brüder - unter ihnen Leone, Masseo, Elia und Bernardo - tritt die wichtige Gestalt des Aussätzigen. Die Begegnung zwischen ihm und Franziskus im dritten Bild stellt einen Angelpunkt im Geschehen dar: die Überwindung des Ekels aus Liebe, die die Reinigung, die Heilung an Leib und Seele des Kranken und zugleich die Heiligung des Franziskus zur Folge hat. Damit ist angedeutet, weshalb Messiaen den Inhalt seiner Oper in Abgrenzung zu üblichen Szenarien als "Weg zunehmender Gnadenfülle des Heiligen" beschrieben hat. Nicht zuletzt klanglich kommt in diesem Kontext der einzigen solistischen Frauenstimme, der des Engels, eine ganz besondere Rolle zu.

Auf die etwas pedantische Frage, wie der monumentale Klangapparat des Werkes (7 Vokalsolisten, ein 150stimmiger gemischter Chor, drei solistische Ondes Martenot als Träger immaterieller Klangwirkungen und ein 119 Musiker umfassendes Orchester) mit der Armut des Heiligen zusammengehe, antwortete Messiaen, Franziskus sei zwar arm an Gütern, doch reich in seiner Teilhabe an der gesamten Schöpfung gewesen. Es ist dies die Antwort eines Liebenden.

Das letzte vollendete Werk Messiaens trägt den Titel "Eclairs sur l'Au-Delà" (1987-91). Es entstand als Auftragswerk zum 150jährigen Bestehen des New York Philharmonic Orchestra. Der Uraufführung unter Zubin Mehta beizuwohnen, war dem Komponisten jedoch nicht mehr vergönnt. Messiaens Blick auf das Jenseits und die letzten Dinge war von jeher weniger vom Schrecken vor dem Ende als von der Sehnsucht nach dem ewigen Frieden geprägt. Selbst dem in der entbehrungsreichen Zeit der Kriegsgefangenschaft komponierten "Quartett für das Ende der Zeit" ("Quatuor pour la fin du temps", 1941) fehlt jegliche vordergründig-"apokalyptische" Lautmalerei. In Messiaens letztem großen Orchesterwerk ist ebenso der biographische Aspekt bedeutsam: Aus der beschränkten, irdischen Zeit wagt der von Alter und Krankheit gezeichnete Komponist Blicke auf die ewige Glückseligkeit - es können nur blitzlichtartige Momente des Erkennens sein. Wenige Monate vor seinem Tod hat mir Messiaen anvertraut, er habe sein Werk ursprünglich "Déchirures sur l'Au-Delà" nennen wollen, nächtlichen Visionen gleich, wo es ihm gegeben war, wie durch Risse der Zeit und Endlichkeit kurz der jenseitigen Herrlichkeit ansichtig zu werden - wiederum ein surreales Bild einer eigentlichen Apokalypse, also Offenbarung. In diesem Sinn sind die "Eclairs sur l'Au-Delà" als mystische Musik zu bezeichnen und nehmen im Gesamtschaffen Messiaen einen besonderen Platz ein.

Trotz der wiederum sehr großen Orchesterbesetzung (128 Musiker) ist das Werk von erstaunlicher Intimität. In der formalen Anlage der elf Sätze (die ursprünglich geplante Zwölfsätzigkeit hat Messiaen im Verlauf der Kompositionen verworfen) ist eine gewisse Nähe zu Topoi früherer Werke zu beobachten: so hinsichtlich des erhabenen Bläserchorals des 1. Satzes ("Apparition du Christ glorieux"), der an "Majesté du Christ demandant sa gloire à son Père" (1. Satz aus "L'Ascension", 1932/33) erinnert, der reiche Kontrapunkt verschiedener, übereinandergelagerter Klangschichten des 4. Satzes ("Les élus marqués du sceau"), der dem 6. Satz ("Candor est lucis aeternae") aus der "Transfiguration" entspricht, oder die vielstimmige Poesie des 9. Satzes ("Plusieurs oiseaux des arbres de Vie", inspiriert durch die Schrift "Le sens mystique de l'Apocalypse" (Paris 1948) von Dom Jean de Monléon, 1890-1981), einem himmlischen Vogelkonzert, das an das irdische aus dem 6. Bild ("Le prêche aux oiseaux") des "Saint François d'Assise" gemahnt. Im 2. Satz ("La constellation du Sagittaire" - Messiaen war im Sternbild des Schützen geboren worden) begegnet uns ein klingendes Selbstportrait des Komponisten. Einzig der 6. Satz ("Les sept Anges aux sept trompettes") evoziert mittels seiner unerbittlichen Schlagzeug-Rhythmik und den unisono-Strophen der Blechbläser das Jüngste Gericht. Die herbe Gemessenheit der Zeit bezeichnet hier die Schwelle, jenseits derer "keine Zeit mehr sein wird".

Die Architektur der "Eclairs sur l'Au-Delà" wird durch zwei allein den Streichern vorbehaltene Sätze in zwei Teile gegliedert: Während im 5. Satz ("Demeurer dans l'Amour") die Homophonie noch die Differenzierung zwischen melodischer Phrase und Begleitung aufweist, verschmelzen diese Elemente im unendlich zärtlichen letzten, 11. Satz ("Le Christ, lumière du Paradis") vollends zur Einheit, gewissermaßen zur endgültigen communio.

All dies kann nur Andeutung sein angesichts der Fülle von Geist und Schönheit, die den Werken von Olivier Messiaen innewohnt. Vielleicht aber ist deutlich geworden, welch außergewöhnliche "missio" dieser große Komponist in seinem Schaffen erfüllt hat. Die Wahrheit und das Glück des Glaubens durch seine Musik in die Welt, nicht allein in den sakralen Raum, zu tragen, war ihm eine brennende Notwendigkeit, und eine Freude. Messiaens künstlerische Hinterlassenschaft ist - als Musik wie als Glaubensakt - Gott sei Dank affirmativ, widerspricht also heftig jenem Zeitgeist, der auf den Flügeln des Zweifels hurtig zur Eitelkeit sich aufschwingt.

Im folgenden Text aus dem Jahr 1978 hat Olivier Messiaen diese seine Überzeugung vom spirituellen Auftrag der Musik in wohl nicht nur für ihn gültige Worte gefaßt:

"Alle wissenschaftlichen Forschungen, mathematischen Beweisführungen und biologischen Versuche zusammengenommen, haben uns nicht vor der Ungewißheit bewahren können. Im Gegenteil, sie haben unsere Unwissenheit noch vergrößert, indem sie uns immer neue Wirklichkeiten hinter dem zeigen, was man für die Wirklichkeit hielt. Die einzige Wirklichkeit ist in Wahrheit von anderer Art; sie gehört in den Bereich des Glaubens. Wir können sie in der Begegnung mit Ihm, der anders ist als wir, erkennen. Dazu muß man jedoch durch den Tod und die Auferstehung gegangen sein, was den Sprung aus der Zeit voraussetzt. Es ist recht eigenartig, daß uns die Musik darauf vorbereiten kann, als Bild, Widerschein und Symbol. Die Musik ist nämlich ein steter Dialog zwischen Raum und Zeit, zwischen Klang und Farbe - ein Dialog, der zu einer Verschmelzung führt: Die Zeit ist ein Raum, der Klang eine Farbe, der Raum ein Komplex übereinandergelagerter Zeiten, und die Klangkomplexe existieren gleichzeitig als Farbkomplexe. Denkt, sieht, hört und spricht ein Musiker auf der Basis dieser grundlegenden Erkenntnisse, kann er sich bis zu einem gewissen Grade dem Jenseitigen nähern. Denn der heilige Thomas von Aquin sagt: Die Musik trägt uns zu Gott ,aus Mangel an Wahrheit', bis zu jenem Tage, an dem Er selbst uns durch 'sein Übermaß an Wahrheit' überwältigen wird. Vielleicht ist dies der entscheidende Sinn und auch die richtungsweisende Kraft der Musik ..."

* Das Orgelwerk von Olivier Messiaen wurde in den letzten Jahren mehrfach komplett auf CD eingespielt, so 1995 an der Orgel der Trinité in Paris durch Th. D. Schlee, H.-O. Ericsson, J. Bate, L. Thiry, J. Gillock und N. Hakim (JADE 74321) und 2002 an der Orgel von Notre-Dame de Paris durch O. Latry (Deutsche Grammophon).

Stimmen der Zeit (2002) 723-742

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