Kirchlicher Gehorsam und personale Entscheidung

Die Kirche erhebt den Anspruch, die Gläubigen durch ihr Lehramt die Wahrheit in Fragen des Glaubens und der Sitten authentisch wissen zu lassen. Dem müßte entsprechen, daß die Gläubigen in Fragen des Glaubens und der Sitten den Aussagen des kirchlichen Lehramts Gehorsam schulden. Der Anspruch der Kirche und ihre Erwartung einer positiven Antwort der Gläubigen ist grundsätzlich berechtigt. Allerdings haben der Anspruch und die Erwartung der kirchlichen Autorität ihre Grenzen, sie dürfen sich nicht der Beliebigkeit aussetzen und dürfen vor allem nicht die Berechtigung der Gläubigen auf ein dialogisches Verhältnis unberücksichtigt lassen; das folgt aus der Berufung der Gläubigen zur aktiven und darum dialogischen Mitarbeit und Mitverantwortung aufgrund ihrer Salbung mit dem der Kirche verheißenen Heiligen Geist.

Der Anspruch des kirchlichen Lehramts wird allerdings von nicht wenigen Gläubigen heute in der Forderung des Gehorsams - vor allem in sittlichen Fragen - als empfindliche Belastung empfunden. Man glaubt ohnehin schon stark durch die biblischen sittlichen Forderungen belastet zu sein, glaubt dagegen mehr und mehr in sittlichen Fragen autonom entscheiden zu können.

Die hiermit angeschnittene Frage setzt die Lösung eines grundlegenden Problems voraus. Gibt es überhaupt verbindliche sittliche Forderungen? Gibt es überhaupt eine uns bindende sittliche Ordnung? Erst wenn diese Frage positiv beantwortet ist, stellt sich die weitere Frage, woher uns ein Wissen von bindenden konkreten sittlichen Forderungen zukommen könne. Nun ist es aber vor allem eben die Kirche, die uns in dieser Frage belehrt, und es versteht sich, daß die so lehrende Kirche auch glaubt, ein entscheidendes Wort zum Inhalt der sittlichen Ordnung sprechen zu können. Jedenfalls ist sie überzeugt, daß ihr von Gott her diese Möglichkeit und (gleichzeitig) Aufgabe übertragen ist. Allerdings dürfte diese Überzeugung nicht als eine völlig ausnahmslose logische Folgerung aus ihrem grundsätzlichen Wissen um eine sittliche Ordnung zu verstehen sein.

Denn wir Menschen sind uns auch ohne die Belehrung durch die Kirche der Tatsache bewußt, daß nicht alles menschliche Tun gleichermaßen recht oder gut ist, daß es einen Unterschied gibt zwischen Recht und Unrecht und daß dieser Unterschied uns in unserem Tun herausfordert. An­dererseits müssen wir feststellen, daß die Menschen in ihrer Gesamtheit nur in relativ wenigen, vor allem nur in allgemeinsten sittlichen Fragen in ihren Auffassungen übereinstimmen, während in sehr vielen konkreten sittlichen Fragen ihre Auffassungen nicht übereinstimmen. Dieses Nichtübereinstimmen kann von vielen Elementen bedingt sein: durch verschiedenartige zwischenmenschliche Beeinflussung, durch lange Zeiten (z. B. Lebensepochen) sich hinziehende persönliche Reflexions- und Kontrollprozesse usw. Auch bedingen verschiedenartige Kulturen in manchen sittlichen Fragen verschiedene Urteile über richtiges oder falsches, gutes oder schlechtes Vorgehen.

Es wäre jedoch ein Fehler, wollte man meinen, der Schöpfergott habe selbst definitiv das allgemeine sittliche Bewußtsein und die verschiede­nen sittlichen Orientierungen fest in die Menschen hineingelegt. Dabei spielt es keine Rolle, ob man naturwissenschaftlich dazu neigt, zu einem "Urknall" als Anfang des Universums (samt Raum und Zeit) und als Anfang einer autonomen und aktiven Evolution des Alls zu stehen oder eher zu einer aktiven Evolution des Alls "ohne Grenzen" (ohne Anfang und Ende), jeweils einschließlich des Menschen. In jüdisch-christlicher Denkweise wird man immer noch "neben" oder "in" dem sich evolierenden "Urknall" und seiner Evolution bzw. im All "ohne Grenzen" einen der Evolution in ihrer Totalität stets präsenten Gott erkennen, dessen mögliches Eingreifen in den Vorgang der Evolution sich nicht völlig ausschließen läßt.

Im jüdisch-christlichen Selbstverständnis hat der Schöpfergott allerdings den Menschen nicht einfachhin beliebigen sittlichen Orientierungen überlassen. Im Alten Testament hat er durch Propheten und Weisheitslehrer sittliche Belehrung bringen lassen. Vor allem hat der Dekalog - parallel zu verschiedenen sittlichen und rechtlichen Katalogen in anderen damaligen Religionsgemeinschaften - dem Leben Israels über autonome Versuche hinaus gültige sittliche Orientierungen angeboten. Die sittlichen Anordnungen des Alten Testaments hat das Neue Testament honoriert und durch das tiefere Verständnis infolge der Verkündigung Jesu bereichert. So waren die Menschen nicht alleingelassen in ihrem auto­nomen Suchen sittlicher Orientierung. Ihr sittliches Leben war also nun nicht nur sittliche Selbstbestimmung, sondern auch und vor allem Gehorsam gegenüber ihrem Herrn. Man begann zu begreifen, daß es im Leben nicht nur um ein Suchen nach möglicherweise nur vorletzten Werten geht, sondern um Letztes - aus göttlicher Offenbarung.

Die Kirche weiß sich befähigt und beauftragt, die Menschen zu unterstützen, während sie aufgrund ihres sittlichen Bewußtseins autonom in der ihnen anvertrauten Welt herauszufinden suchen, wie sie menschenwürdig ihr Vorgehen und Verhalten gestalten sollen. In dieser kirchlichen Beauftragung ist vorgesehen und enthalten, daß Gott dem auf sich selbst gestellten Menschen die im Alten und Neuen Testament geoffenbarten Orientierungen menschenwürdigen Verhaltens angeboten hat. Und es ist eben die Kirche, der er den Heiligen Geist mitgeteilt hat, damit sie den Menschen in ihrem autonomen Bemühen um klares und richtiges Verständnis der ihnen anvertrauten Welt behilflich sei.

Der Geist ist vor allem den amtlich berufenen Gliedern der Kirche mitgeteilt, jedoch auch der Kirche als ganzer, also allen, die ihr zugehören. Damit ist gleichzeitig zum Ausdruck gebracht, daß auch den nicht amtlich beauftragten Gliedern der Kirche der Auftrag gegeben ist, sich nicht nur durch ihren Gehorsam gegenüber den Weisungen der besonders beauftragten Glieder am Leben und Aufbau der Kirche mitzuwirken, sondern sich auch aktiv für das Leben und Wachsen der Kirche zu interessieren und sich je nach Erfahrung, Befähigung und Möglichkeit dafür einzusetzen.

Allerdings sind diesbezüglich in den letzten Zeiten gerade seitens der amtlich Beauftragten in der Kirche nicht wenige Schwierigkeiten entstanden. Wir stehen vor der Tatsache von häufig und mit Insistenz Gehorsam verlangenden Mahnungen und Weisungen, und dies eindeutig mehr als zu anderen Zeiten und in sonst so kaum gekanntem Maß. Selbst das Zweite Vatikanische Konzil, das doch an manchen Stellen vehement die willige und aktive Mitarbeit der ganzen Kirche und aller ihrer Glieder fordert, hat in seiner Kirchenkonstitution Lumen gentium (Nr. 25) nicht nur Gehorsam zu eindeutig unfehlbaren kirchlichen Aussagen gefordert, sondern frommen kirchlichen Gehorsam (nicht Glaubensgehorsam!) auch zu solchen kirchlichen Aussagen, die nicht als unfehlbar anerkannt werden können. Ungehorsam kann auch in diesem Bereich nach dem Kirchenrecht der katholischen Kirche von 1983 strafbar werden lassen. Wie sollen die Gläubigen sich verhalten in einer solchen Situation, in der Gehorsam erwartet wird gegenüber einer nicht eindeutig als unfehlbar erkennbaren Weisung? Offenbar kann in einem solchen Fall nicht unbedingter Glaubensgehorsam eingefordert werden. Gemäß dem bisher Gesagten müßte die Antwort logisch lauten: Statt sich im Gewissen zu quälen, können und sollen sie sich auf ihre auch von der Tugend der Epikie garantierte Freiheit des Christen berufen, solange sie nur bereit sind, auch nicht eindeutig unfehlbare kirchliche Weisungen für sich persönlich als bedeutsam zu erachten.

Das kirchliche Lehramt antwortet jedoch weithin anders: Wenn auch alle Glieder der Kirche den Heiligen Geist zur Mitarbeit und Mitverantwortung in der Kirche erhalten haben, so steht gemäß der kirchlichen Antwort doch die Kom­petenz zur Beurteilung des Inhalts kirchlicher Weisungen ausschließlich dem kirchlichen Lehramt zu. Verschiedene kirchliche Dokumente der letzten Jahre sagen das mit großem Nachdruck. Damit ist praktisch auch gesagt, daß allein dem Lehramt eine Quelle zur Beurteilung des Inhalts kirchlicher Weisungen zugänglich ist, die anderen Gliedern der Kirche trotz ihrer Salbung durch den Heiligen Geist verschlossen bleibt. Darum läßt das Lehramt weder einen Widerspruch noch einen (auch nur inneren) Ungehorsam gelten, weil nicht eingefügt in die "Logik des Glaubensgehorsams" ("Donum veritatis", 1990). Es läßt sich feststellen, daß ein großer Teil der katholischen Fachtheologen mit dieser Tendenz der Disziplinierung ihres Denkens und Lehrens durch das kirchliche Lehramt nicht einverstanden ist. Und man glaubt zeigen zu können, daß die autoritäre Tendenz auch ineffizient ist. Als Beispiel gibt man den im Vorjahr vom Vatikan mit hohem Einsatz von Autorität gestarteten Versuch zu bedenken, das Dokument über die Mitarbeit der Laien am Dienst der Priester zu lancieren; der Versuch hat keineswegs das bewirkt, was er bewirken sollte.

Der behandelten Problematik steht nahe die Frage nach theologischen Neuformulierungen. Die Neuformulierungen von unfehlbaren oder auch nicht unfehlbaren Aussagen sind in der Geschichte der Kirche weitgehend als legitim und auch notwendig anerkannt, wenn sie einem zeitgemäßeren und besseren Verständnis des Glaubens dienen.

Die amtliche Kirche kann sich solchen Neuformulierungen nicht einfach entgegenstellen; sie stehen innerhalb der kirchlichen Verkündigung. Doch wird das Lehramt in Sorge um die treue Weitergabe der sittlichen Wahrheit sehr behutsam darauf achten, daß die Neuformulierung nicht einer Wandlung zum Irrtum gleichkomme. Man kann zum Beispiel zweifellos der Meinung sein, daß sich die in immenser Bemühung erarbeiteten Aussagen der christologischen Konzilien der alten Kirche durch andere, heute verständlichere, aber gleichermaßen gültige Interpretationen ersetzen lassen. Hier darf das Lehramt Offenheit zeigen. Ähnlich wäre zu sagen hinsichtlich guter Neuinterpretationen etwa dessen, was Transsubstantiation, Eschata, sakramentale Beichte, Ostern und Auferstehung usw. besagen. Die Sorge für bessere Neuinterpretationen wird weitgehend eine Aufgabe der Theologen sein. Ähnliches gilt es auch hinsichtlich sittlicher Umformulierungen wie Lüge oder Falsch­aussage zwecks Wahrung eines verpflichtenden Geheimnisses, sexuelle Selbststimulierung oder Spermagewinnung für die Ermöglichung einer Befruchtung.

Eine ähnliche Problematik bringt das bekannte Theorem vom "Intrinsece malum", den in sich schlechten Handlungen, mit sich. Vielfach wurde gesagt, daß die sittliche Qualifizierung einer Handlung vom Objekt der Handlung stamme, nicht jedoch von besonderen Umständen oder vom Ziel oder den Folgen der Handlung her. Aber würde so nicht das Objekt als ein sittlich unbedeutendes Rohmaterial der Gesamthandlung verstanden? Man kann die Frage, ob Töten sittlich statthaft sei, überhaupt nicht beantworten, wenn man nicht die Umstände, die weiteren Folgen und die Zielsetzung mitberücksichtigt. Wann ist Töten ein Mord? Diese Frage interessiert sich für die Umstände und das Ziel der Handlung. Die Kirche hat auch durch ihr Lehramt in manchen Fällen begonnen, diese Problematik als echte Problematik anzuerkennen.

Stimmen der Zeit (1998) 640-642

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