Der Brief an Papst Pius XI.

Im Zug der Öffnung des Vatikanischen Geheimarchivs für die diplomatischen Bestände der Nuntiatur von Bayern (München) und Berlin und des Archivs der II. Sektion des Staatssekretariats (früher Affari Ecclesiastici Straordinari) bis zum Ende des Pontifikats von Pius XI. (Februar 1939) wurde der lange für verschollen gehaltene Brief Edith Steins an Pius XI. zur wachsenden Verfolgung der Juden in Deutschland von 1933 am 15. Februar 2003 zugänglich. Wir veröffentlichen diesen Brief mit einer Einleitung von Maria Amata Neyer OCD vom Edith-Stein-Archiv in Köln.

Die Redaktion

Zum letzten Weihnachtsfest, das Sr. Teresia Benedicta a Cruce (Edith Stein) vor ihrer Übersiedlung nach Echt/Limburg (Holland) im Kölner Karmel verbrachte, schenkte sie ihrer Priorin Teresia Renata de Spiritu Sancto (Posselt) eine kleine Handschrift mit dem Titel: „Ein Beitrag zur Chronik des Kölner Karmel. I. Wie ich in den Kölner Karmel kam.“ Die römische Eins weist daraufhin, daß ein zweiter Teil beabsichtigt war; er kam jedoch nicht zustande. Der Text umfaßt 42 handschriftliche Halbseiten und ist datiert mit: „4. Adventsonntag, 18. XII. 1938“. In diesem Text heißt es:

„An einem Abend der Fastenzeit (1933) kam ich von einer Veranstaltung des Katholischen Akademikerverbandes spät heim. Ich weiß nicht, ob ich den Hausschlüssel vergessen hatte oder ob von innen ein Schlüssel steckte. Jedenfalls konnte ich nicht ins Haus.“

In dieser Verlegenheit lud ein vorbeigehendes, Edith Stein bekanntes Ehepaar sie ein, bei ihnen zu übernachten.

„Der Mann begann ein Gespräch und erzählte, was amerikanische Zeitungen von Greueltaten berichteten, die an Juden verübt worden seien. ... Ich hatte ja schon vorher von scharfen Maßnahmen gegen die Juden gehört. Aber jetzt ging mir auf einmal ein Licht auf, daß Gott wieder einmal schwer Seine Hand auf Sein Volk gelegt habe, und daß das Schicksal dieses Volkes auch das meine war. Ich ließ den Mann, der mir gegenüber saß, nicht merken, was in mir vorging. Offenbar wußte er nichts von meiner Abstammung. Ich habe sonst in solchen Fällen meist sofort die entsprechende Aufklärung gegeben. Diesmal tat ich es nicht. Es wäre mir wie eine Verletzung des Gastrechts erschienen, wenn ich jetzt durch eine solche Mitteilung seine Nachtruhe gestört hätte.

Am Donnerstag der Passionswoche (6.4.1933) fuhr ich nach Beuron (Benediktinerabtei an der oberen Donau). Seit 1928 hatte ich dort alljährlich Karwoche und Ostern mitgefeiert. ... Diesmal führte mich noch ein besonderes Anliegen hin. Ich hatte in den letzten Wochen immerfort überlegt, ob ich nicht in der Judenfrage etwas tun könnte. Schließlich hatte ich den Plan gefaßt, nach Rom zu fahren und den Heiligen Vater um eine Enzyklika zu bitten. Ich wollte aber einen solchen Schritt nicht eigenmächtig tun. ... Seit ich in Beuron eine Art klösterliche Heimat gewonnen hatte, durfte ich in Erzabt Raphael (Walzer) ,meinen Abt‘ sehen und ihm alle Fragen von Belang zur Entscheidung vorlegen.“

Edith Stein kam, wie man aus ihren Briefen ersehen kann, am 7. April in Beuron an und fuhr am 18. April wieder ab. Sie fährt in ihren Erinnerungen fort:

„Meine Erkundigungen in Rom ergaben, daß ich wegen des großen Andrangs (1933 wurde als Heiliges Jahr begangen zur Erinnerung an den Tod Christi vor 1900 Jahren) keine Aussicht auf eine Privataudienz hätte. ... So verzichtete ich auf die Reise und trug mein Anliegen schriftlich vor. Ich weiß, daß mein Brief dem Heiligen Vater (Pius XI., Achille Ratti, geb. 1857, 1922 zum Papst gewählt, gest. 1939) versiegelt übergeben worden ist; ich habe auch einige Zeit danach seinen Segen für mich und meine Angehörigen erhalten. Etwas anderes ist nicht erfolgt. Ich habe aber später oft gedacht, ob ihm nicht dieser Brief in den Sinn kommen mochte. Es hat sich nämlich in den folgenden Jahren Schritt für Schritt erfüllt, was ich damals für die Zukunft der Katholiken in Deutschland voraussagte.“

„Am 19. April kam ich nach Münster zurück; am nächsten Tag ging ich ins Institut (Deutsches Institut für wissenschaftliche Pädagogik, an dem Edith Stein Dozentin war). Der Direktor (Johann Peter Steffes) war auf einer Ferienreise in Griechenland. Der Geschäftsführer, ein katholischer Lehrer (Bernhard Gerlach), ... war schon ganz zermürbt:

,Denken Sie, Frau Doktor, es war schon jemand hier und hat gesagt: Frau Dr. Stein wird doch wohl nicht etwa noch weiter Vorlesungen halten?‘“

Diese Situation veranlaßte Edith Stein, ihre Stellung am Institut aufzugeben. Eine offizielle Kündigung hat sie nicht erhalten. An ihren Neffen in Südamerika schrieb sie am 4. August 1933: „Es war mein freier Entschluß, daß ich fortging“ (ESGA, Bd. 2, Nr. 270). Sie wollte dem Institut Schwierigkeiten ersparen. Da sich Edith Stein in ihrer Unterschrift im Brief an den Papst als Dozentin bezeichnet, kann als sicher gelten, daß das Schreiben vor dem 20. April 1933 verfaßt wurde.

Durch viele Jahre hindurch war die allgemeine Ansicht die, der Brief Edith Steins an den Papst sei verschollen. Ich selbst erhielt durch den damaligen Apostolischen Nuntius in Bad Godesberg die Mitteilung, der Brief sei in den Archiven des Vatikans nicht aufzufinden. Das war vor der Eröffnung des sogenannten Schriftenprozesses für die Seligsprechung Edith Steins. Danach setzten erneute Bemühungen ein, das gesuchte Schriftstück doch noch aufzufinden. Allmählich sickerte auf verschiedenen Wegen die Behauptung durch, jener Brief sei vorhanden. Der Generalpostulator für die Causen unseres Ordens, Simeon Tomás Fernández OCD, bestätigte mir mündlich, daß er in Zusammenhang mit dem Schriftenprozeß Einsicht in den Brief Edith Steins an Papst Pius XI. nehmen durfte. Es wurde ihm aber nicht erlaubt, Weiteres über den Inhalt mitzuteilen. Als der Prozeß für die Selig- und die Heiligsprechung Edith Steins abgeschlossen war, machte er den Versuch, für die bevorstehende Neuausgabe der Briefe Edith Steins in der Edith Stein Gesamtausgabe eine Kopie jenes Briefes zu erhalten. Das Staatssekretariat des Vatikans antwortete am 12. März 1994 erneut abschlägig.

Im Herbst 1994 traf der frühere Provinzial Ulrich Dobhan OCD in Rom mit Kardinal Joachim Meisner zusammen. Kardinal Meisner war gern bereit, seine Bitte um Einsichtnahme in den gesuchten Brief zu unterstützen und verfaßte ein dementsprechendes Gesuch: „Gern unterstütze ich das Anliegen von Pater Dobhan und bitte sehr, Ihrerseits das Nötige zu veranlassen, Roma, 26. 10. 94.“ Das Staatssekretariat antwortete durch Substitut Giovanni Battista Re am 22. November 1994: „Bezüglich des vorgetragenen Anliegens muß ich darauf hinweisen, daß der in Rede stehende Jahrgang des Archivs, auf den Sie sich beziehen, noch nicht zugänglich ist. So sehe ich mich zu meinem großen Bedauern gezwungen, Ihnen mitteilen zu müssen, daß Ihrer Bitte leider nicht entsprochen werden kann.“

Es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß Edith Stein den Brief an Papst Pius XI. in Beuron geschrieben und ihn Erzabt Walzer zur Weiterleitung übergeben hat. Die Beuroner Chronik der Benediktiner verzeichnet für den 25. bis 28. April 1933 einen kurzen Besuch von Raphael Walzer in Rom, um den Papst über den Stand einer Klostergründung in Japan zu informieren. Die Chronik berichtet weiter, daß der Erzabt persönliche Grüße von Papst Pius XI. mitbrachte. Wiederum ist es in hohem Maß wahrscheinlich, daß Edith Steins Brief bei dieser Gelegenheit „dem Heiligen Vater versiegelt übergeben worden ist“. Ein Neffe des Erzabtes hat mir vor Jahren berichtet, es sei in seiner Familie überliefert, daß sein Onkel das Schreiben Edith Steins in Rom dem Papst selbst überreicht habe. Die römische Aktenlage läßt dies allerdings offen.

Der Brief selbst trägt kein Datum, man kann aber vermuten, daß Edith Stein ihr Gesuch zum Schutz der bedrängten Juden zwischen dem 8. und 13. April 1933 verfaßt hat. Sie selbst hatte ihre am Donnerstag der Passionswoche begonnene Reise von Münster nach Beuron in Köln unterbrochen, um dort eine Katechumena (Hedwig Spiegel) zu besuchen. Edith Stein schreibt: „Am nächsten Morgen (am 7. April) fuhr ich nach Beuron weiter. Als ich abends in Immendingen umstieg, traf ich mit P. Alois Mager (Beuroner Mönch, der in Salzburg Vorlesungen hielt) zusammen. ... Bald nach der Begrüßung berichtete er als wichtigste Beuroner Neuigkeit: ,Vater Erzabt ist heute früh wohlbehalten aus Japan zurückgekehrt.‘“ Raphael Walzer hatte seine Reise nach Japan Anfang Januar begonnen. Es ist schwer vorstellbar, daß Edith Stein den Abt am Tag seiner Rückkehr noch sprechen konnte. Edith Stein pflegte während der Karwoche in Beuron still für sich Exerzitien zu machen. Sie hatte die Gewohnheit, an diesen Tagen weder Gespräche zu führen noch Briefe zu schreiben. So darf man vermuten, daß das Schreiben an den Papst vor Beginn der Karliturgie vollendet war, wenn man nicht annehmen will, daß sie den Brief schon in Münster abfaßte, was nicht völlig auszuschließen ist. Denn im Brief des Abtes vom 12. April heißt es: „litteras adjunctas, quas sigillatas mihi tradidit“. In diesem Fall hätte Edith Stein wohl nur über den Inhalt des Briefes sich mit Raphael Walzer beraten und ihm diesen bereits versiegelt übergeben.

Maria Amata Neyer OCD

Heiliger Vater!

Als ein Kind des jüdischen Volkes, das durch Gottes Gnade seit elf Jahren ein Kind der katholischen Kirche ist, wage ich es vor dem Vater der Christenheit auszusprechen, was Millionen von Deutschen bedrückt.

Seit Wochen sehen wir in Deutschland Taten geschehen, die jeder Gerechtigkeit und Menschlichkeit - von Nächstenliebe gar nicht zu reden - Hohn sprechen. Jahre hindurch haben die nationalsozialistischen Führer den Judenhaß gepredigt. Nachdem sie jetzt die Regierungsgewalt in ihre Hände gebracht und ihre Anhängerschar - darunter nachweislich verbrecherische Elemente - bewaffnet hatten, ist diese Saat des Hasses aufgegangen. Daß Ausschreitungen vorgekommen sind, wurde noch vor kurzem von der Regierung zugegeben. In welchem Umfang, davon können wir uns kein Bild machen, weil die öffentliche Meinung geknebelt ist. Aber nach dem zu urteilen, was mir durch persönliche Beziehungen bekannt geworden ist, handelt es sich keineswegs um vereinzelte Ausnahmefälle. Unter dem Druck der Auslandsstimmen ist die Regierung zu „milderen“ Methoden übergegangen. Sie hat die Parole ausgegeben, es solle „keinem Juden ein Haar gekrümmt werden“. Aber sie treibt durch ihre Boykotterklärung - dadurch, daß sie den Menschen wirtschaftliche Existenz, bürgerliche Ehre und ihr Vaterland nimmt - viele zur Verzweiflung: es sind mir in der letzten Woche durch private Nachrichten 5 Fälle von Selbstmord infolge dieser Anfeindungen bekannt geworden. Ich bin überzeugt, daß es sich um eine allgemeine Erscheinung handelt, die noch viele Opfer fordern wird. Man mag bedauern, daß die Unglücklichen nicht mehr inneren Halt haben, um ihr Schicksal zu tragen. Aber die Verantwortung fällt doch zum großen Teil auf die, die sie so weit brachten. Und sie fällt auch auf die, die dazu schweigen.

Alles, was geschehen ist und noch täglich geschieht, geht von einer Regierung aus, die sich „christlich“ nennt. Seit Wochen warten und hoffen nicht nur die Juden, sondern Tausende treuer Katholiken in Deutschland - und ich denke, in der ganzen Welt - darauf, daß die Kirche Christi ihre Stimme erhebe, um diesem Mißbrauch des Namens Christi Einhalt zu tun. Ist nicht diese Vergötzung der Rasse und der Staatsgewalt, die täglich durch Rundfunk den Massen eingehämmert wird, eine offene Häresie? Ist nicht der Vernichtungskampf gegen das jüdische Blut eine Schmähung der allerheiligsten Menschheit unseres Erlösers, der allerseligsten Jungfrau und der Apostel? Steht nicht dies alles im äußersten Gegensatz zum Verhalten unseres Herrn und Heilands, der noch am Kreuz für seine Verfolger betete? Und ist es nicht ein schwarzer Flecken in der Chronik dieses Heiligen Jahres, das ein Jahr des Friedens und der Versöhnung werden sollte?

Wir alle, die wir treue Kinder der Kirche sind und die Verhältnisse in Deutschland mit offenen Augen betrachten, fürchten das Schlimmste für das Ansehen der Kirche, wenn das Schweigen noch länger anhält. Wir sind auch der Überzeugung, daß dieses Schweigen nicht imstande sein wird, auf die Dauer den Frieden mit der gegenwärtigen deutschen Regierung zu erkaufen. Der Kampf gegen den Katholizismus wird vorläufig noch in der Stille und in weniger brutalen Formen geführt wie gegen das Judentum, aber nicht weniger systematisch. Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird in Deutschland kein Katholik mehr ein Amt haben, wenn er sich nicht dem neuen Kurs bedingungslos verschreibt.

Zu Füßen Eurer Heiligkeit,

um den Apostolischen Segen bittend

Dr. Editha Stein

Dozentin am Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik

Münster/W.

Collegium Marianum

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