Defizite in der Ehe- und FamilienpastoralAnfragen zu vorehelicher Partnerschaft, Geburtenregelung und Scheidung

Die Kirche muß seit langem eine besorgniserregende und immer größer werdende Diskrepanz beobachten zwischen ihren vielfältigen Bemühungen um Ehe und Familie einerseits, der Mentalität und gelebten Praxis der Menschen, auch vieler gläubiger Christen andererseits. Diese Diskrepanz ist sowohl theologisch wie kirchenoffiziell vielfach beschrieben; das muß hier nicht wiederholt werden(1). Unsere Frage ist, warum die kirchlichen Anstrengungen in Verkündigung und Seelsorge, die zahlreichen offiziellen Verlautbarungen theologischer wie sozialethischer Art zu Ehe und Familie, die „flächendeckenden" Beratungsdienste der Kirche, die Erwachsenenbildung, schließlich der Einsatz vieler katholischer Sozialverbände für Ehe und Familie in der Gesellschaft die Kluft zwischen der kirchlichen Botschaft und der in unserer Gesellschaft herrschenden Denk- und Lebensweise nicht verringern können.

Es wäre freilich gerade angesichts der vielfältigen Bemühungen in Theologie, Seelsorge und sozialer Praxis vermessen zu meinen, man könnte auf diese viele Christen heute umtreibende Frage eine schlüssige, gar umfassende Antwort geben. Ich möchte mich im folgenden vielmehr aufgrund bestimmter Erfahrungen auf einen Aspekt konzentrieren und eine doppelte Vermutung begründen. Meine erste Hypothese lautet, daß trotz aller Neuansätze in kirchlicher Lehre und Pastoral in der Wahrnehmung der Menschen immer noch das Moralische vorherrscht: die Gebote und vor allem Verbote der Kirche. Hier wirken lange kirchliche Traditionen nach. Es wirkt aber auch in dieser gewiß verkürzten und schiefen Rezeption kirchlicher Lehren der Tatbestand, daß einige zentrale Fragen kirchlicher Ehe- und Sexualmoral theologisch-kirchlich nicht genügend aufgearbeitet sind. Deshalb werden viele Menschen auch von der neu formulierten Botschaft nicht erreicht. Meine zweite Hypothese betrifft die Pastoraltheologie. Ihr ist es bisher trotz zahlreicher und auch eindrucksvoller Bemühungen nicht gelungen, sich in Verbindung mit den entsprechenden Humanwissenschaften auf empirische Forschungen im Feld von Ehe und Familie in der nötigen Intensität einzulassen. Lehramt und Theologie sehen heute die Probleme deutlicher als früher, lassen sich aber noch zu wenig auf die Realitäten heute gelebter Ehe und Familie und auf ihre gesellschaftlichen Bedingungen ein.

Die kirchliche Verkündigung - Zuspruch und Anspruch

Die kirchliche Lehre über Ehe und Familie enthält einen hohen religiös-sittlichen Anspruch. Diesen kann und darf die Kirche nicht verkleinern, gar wegnehmen. Aber sie will diesen Anspruch heute nicht mehr in erster Linie in Form von Geboten und Verboten verkünden, sondern als Hilfe und Wegweisung für die Gläubigen, gerade auch in den Schwierigkeiten ihres Alltags. So hat das kirchliche Lehramt, beginnend mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, eine Blickwendung vollzogen vom Institutionell-Rechtlichen hin zum Anthropologisch-Personalen. Ehe und Familie werden zuerst als Lebens- und Liebesgemeinschaften zwischen Personen vorgestellt, begründet in Gottes guter Schöpfung, sakramental erhöht in Christus.

Das Konzil hat in seiner Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes" die alte Lehre von den beiden Ehezwecken mit dem Vorrang der Zeugung von Nachkommenschaft ersetzt durch eine ganzheitliche Betrachtung: Kinder sind Geschenk und Frucht gegenseitiger liebender Hingabe der Ehegatten, aber diese hat in sich ihren eigenen personalen Sinn. Die Entscheidung über die Zahl ihrer Kinder müssen die Eltern in eigener Verantwortung treffen, in Rücksicht sowohl auf die äußeren Verhältnisse und Möglichkeiten wie auch im Hören auf das Evangelium und die kirchliche Lehre. Die Institution Ehe wird theologisch im Schöpferwillen Gottes verankert, ihre Sakramentalität im Heilswillen, der sich ausdrückt im Bund Gottes mit seinem Volk ebenso wie im Bund Christi mit seiner Kirche. Damit wird die rechtliche Betrachtung nicht aufgegeben, aber sie tritt als rechtliche Stütze zurück hinter dem dynamisch-heilsgeschichtlichen Aspekt, aus dem die Gläubigen Ansporn und Hilfe gewinnen sollen für eine zeugnishaft christlich gelebte Ehe und Familie.

Auf dieser Linie des Konzils bleibt die weitere kirchliche Verkündigung bis heute, sie weitet sie aus, ergänzt und vertieft sie. Das kann und braucht hier nicht entfaltet zu werden(2). Nur kurz einige Hinweise: Papst Johannes Paul II. beschreibt in seinem Apostolischen Schreiben „Familiaris consortio"(3) die Familie umfassend und tiefdringend als Lebens- und Liebesgemeinschaft von Personen in ihrem natürlichen und in ihrem sakramentalen Sein, indem er das diesem Sein innewohnende Sollen nicht den heutigen Schwierigkeiten einfach normativ entgegenstellt, sondern als Hilfe für die Menschen auf ihrem Weg ekklesiologisch und pastoral entfaltet. Der ganze Text sucht die Verbindung zwischen hoher Theologie und verständnisvoller Pastoral.

Die offiziellen kirchlichen Dokumente zu Ehe und Familie kommen durchaus nicht mehr, wie das früher oft der Fall war, gleichsam „von oben" mit ihrem theologisch- sittlichen Anspruch. Sie versuchen vielmehr ausdrücklich, die heutigen Realitäten und Schwierigkeiten in den Blick zu nehmen, ihre Aussagen zu beziehen auf die gegenwärtige Situation der Menschen in ihrer Gesellschaft. Familiaris consortio beginnt mit einem eigenen, freilich sehr knappen Teil über „Die Familie heute - Licht und Schatten". Der Katholische Erwachsenenkatechismus der Deutschen Bischofskonferenz beschreibt in seinem Kapitel über die Ehe Ursachen und Gründe der gewandelten Einstellung zu Ehe und Sexualität, verschweigt nicht die
früher „zu große Enge in der Sexualerziehung und ... eine zu rigorose Beichtpraxis" (4) sowie den „großen Anteil" christlicher Moral an Sexualfeindlichkeit(5). Erst
danach entfaltet er den positiven Sinn der kirchlichen Normen zur Sexualität. Das Kapitel über die Familie beginnt mit einer mehrseitigen Skizze zur heutigen Situation der Familie, mündend in die Feststellung, daß heute unterschiedliche Modelle von Familie nebeneinander bestehen(6).

Von großer Bedeutung für eine Ehe- und Familienpastoral, die Antworten auf die Fragen und Probleme von heutigen Ehepaaren und Eltern finden will, ist die Tatsache, daß Theologie und Kirche gelernt haben, geschichtlich zu denken. Die kirchliche Ehe- und Familienlehre erscheint nicht mehr in zeitlos-idealer Normativität, sondern sie nimmt die Menschen und ihre kulturellen Institutionen in ihrer Geschichtlichkeit wahr. Eine theologische Verankerung dieser Sicht findet sich bei Jürgen Werbick, der darauf aufmerksam gemacht hat, daß die Sakramentalität der Ehe nicht zuerst Forderung und Verpflichtung ist (Unauflöslichkeit, unbedingte Treue), sondern Verheißung, aufgrund derer die Eheleute ihr Versprechen lebenslanger Treue wagen können, selbstverständlich auch als Verpflichtung. Sie machen sich im Vertrauen auf Gottes Beistand auf einen gemeinsamen Weg, der Glück und Erfüllung, aber auch Risiken und die Gefahr des Scheiterns einschließt(7). Von diesem Denkansatz her kann die Pastoral, ohne etwas vom sittlichen Anspruch des Evangeliums aufzugeben, überhaupt erst dem Prozeß- und Wegcharakter von Ehe und Familie gerecht werden. Die offiziellen kirchlichen Dokumente haben das heute mehr oder weniger ausdrücklich im Blick.

Johannes Paul II. beginnt den dritten Teil von Familiaris consortio über „Die Aufgaben der christlichen Familie" mit dem Abschnitt: „Familie, werde, was du
bist". Der Papst spricht dort von „dynamischer und existentieller Entfaltung". Der pastorale vierte Teil beginnt mit dem Abschnitt: „Die Kirche begleitet die christliche Familie auf ihrem Weg", denn als lebendige Wirklichkeit sei Familie darauf angelegt, zu wachsen und sich zu entwickeln. Das Handeln der Kirche soll mit der Familie gehen in den verschiedenen Etappen ihrer Entwicklung.

Besonders ausgeprägt erscheint diese Sicht in der Schrift der deutschen Bischöfe von 1999: „Ehe und Familie - in guter Gesellschaft". Die Grundlehren der Kirche werden dort als „Zielgestalt" bezeichnet, und der ganze Text ist von dem Versuch geprägt, diese Zielgestalt angesichts der heutigen Situation als Hilfe für Eheleute und Eltern in die entsprechende Pastoral umzusetzen. Ähnliches gilt für die Schrift der deutschen Bischöfe: „Auf dem Weg zum Sakrament der Ehe" (2000). Diese Handreichung zur Trauungspastoral hat zum Leitmotiv die Frage, wie die Bitte von Brautpaaren um kirchliche Trauung auf deren Lebens- und Glaubensgeschichte bezogen werden kann. Sie nimmt die heute in der Regel „lange Partnerschaftsgeschichte vor der Ehe" ausdrücklich in den Blick und stellt sich den schwierigen Fragen, die sich daraus für eine kirchliche Trauungspastoral zwischen den Extremen „rigoristischer Engführung und Ausverkauf" des Sakraments ergeben. Das Sakrament erscheint zuerst als Zuspruch, dann erst als Anspruch. Die pastorale Aufgabe, vor der die Kirche heute angesichts gelebter Realität steht, wird dort treffend beschrieben:

„Der Verweis auf Tradition und Konvention trägt nicht zur Handlungsorientierung bei, wenn es nicht gelingt, die überlieferten Werte und Normen in ihrem Sinngehalt zu erschließen. Gerade die Kirche ist deshalb herausgefordert, ihre Aussagen zu Sexualität, Ehe und Familie argumentativ vorzutragen, indem sie ihren lebensdienlichen und menschengerechten Charakter deutlich macht."(8)

Exakt hier stellt sich aber unsere Frage: Warum gelingt das offenbar immer weniger? Ich wiederhole meine Vermutung, daß trotz aller neuen und anerkennenswerten Bemühungen von Lehramt, Theologie und Pastoral in den Erfahrungen und dem Denken der Menschen, in ihrer Rezeption dessen, was die Kirche sagt, das Moralische immer noch im Vordergrund steht - und zwar in ganz bestimmten Fragen, die kirchlich nicht genügend aufgearbeitet sind.

Moralisch normative kirchliche Positionen als Hindernisse

Normative Postulate der Kirche haben es heute, in unserer völlig profanierten, pluralisierten und individualisierten Gesellschaft zunehmend schwerer, verstanden, geschweige denn akzeptiert zu werden. Das betrifft den als ausgesprochen „privat" empfundenen Bereich von Partnerschaft, Ehe und Familie in besonderem Maß. Gerade die hohe Wertschätzung, deren sich der private Bereich der Lebensführung, besonders auch die Familie, erfreut, geht einher mit einer deutlichen Abwehrhaltung gegenüber allen äußeren Autoritäten, die hier hineinreden wollen. Lehramtsträger und Theologie sehen das auch. Theologen registrieren eine gesteigerte Empfindlichkeit der Familie gegenüber kirchlicher Einmischung; die Vorschriften der Kirche werden als anstößig empfunden. Soziologen stellen fest, daß die Erwartungen der Menschen an Liebe und Partnerschaft gleichsam eine „Religion nach der Religion" darstellten. Hier würden Glück und Lebenssinn gesucht(9). Der Bedarf an Hilfe und an Orientierung, den viele Menschen angesichts von Risiken, Enttäuschungen und Scheitern empfinden, steht keineswegs im Widerspruch zur Ablehnung von Forderungen, die von außen kommen. Exakt daraus ergibt sich die Aufgabe der Pastoral, ihr „Angebot" helfend, begleitend und argumentativ zu gestalten.

Nun ist zweifellos ein Hauptgrund für diesbezügliche Defizite kirchlicher Pastoral der Mangel an personalen Ressourcen. Der Bedarf an individueller und an Kleingruppenseelsorge kann offenbar nicht befriedigt werden. Unabhängig davon wird aber von vielen, die in diesem Feld der Pastoral tätig sind, die Vermutung bestätigt, daß bestimmte moralische Positionen der Kirche sich hinderlich vor den Versuch schieben, den Paaren und Familien pastoral helfend zur Seite zu stehen. Es sind vor allem die bekannten kirchlichen Positionen zu vorehelicher Partnerschaft und Sexualität, zu den Methoden der Geburtenregelung, zu nachehelichen Partnerschaften und den wiederverheirateten Geschiedenen, die es vielen Betroffenen unmöglich machen, das kirchliche Angebot als Hilfe zu erfahren. Es ist ein eigenartiger, nicht leicht begreifbarer Befund: Auch wenn die diesbezüglichen kirchlichen Normen in der normalen Verkündigung, in dem, was Menschen heute beim Kirchenbesuch hören, kaum noch eine Rolle spielen, so sind sie dennoch allbekannt und Gegenstand von Kritik - und zwar unabhängig von Nähe oder Ferne der Kritiker zur Kirche. Es stellt sich deshalb unabweisbar für Lehre und Pastoral die Frage, was sie in diesen Konfliktfeldern anders machen kann oder soll.

Voreheliches Zusammenleben

Das Zusammenleben junger Paare vor der Eheschließung ist in unserer Gesellschaft weithin selbstverständlich geworden, auch unter Katholiken; auch bei Jugendlichen, die durchaus noch in und mit der Kirche leben, und auch bei nicht wenigen, die im kirchlichen Dienst stehen. Der Widerspruch zur kirchlichen Sexualmoral ist eklatant, er wird aber von vielen nicht mehr empfunden; andere setzen sich über ihn hinweg. Eltern und nicht wenige Seelsorger finden sich damit ab. In der Regel ist der Pfarrer froh, wenn ein solches Paar dann doch irgendwann zur Trauung kommt, nicht selten auch gleich ein Kind zur Taufe mitbringt. Die strenge Norm wird nur noch von ganz wenigen akzeptiert, wohl auch gelebt, vor allem von solchen, die in neueren Jugendgruppen versuchen, „gegen den Strom zu schwimmen". Das verdient hohe Anerkennung und Unterstützung, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß davon die große Mehrzahl selbst der noch kirchlich orientierten jungen Menschen nicht erreicht wird, von der Mehrheit der am Rand der Kirche Lebenden ganz zu schweigen.

Die Kirche kann und soll ihre ideale Norm, wonach geschlechtliche Gemeinschaft und Ehe zusammengehören, nicht aufgeben. Es ist aber auch keine Lösung,
über die heutige ganz andere Realität einfach zu schweigen. Vielmehr stellt sich die Aufgabe einer neuen kirchlichen Partnerschafts- und Paarbegleitung, die weit über die bisherigen Ehevorbereitungs- und Brautleutekurse hinausgeht. Sie muß früh in der Jugendarbeit begonnen werden als Einladung und als Hilfe auf einem Weg zu menschlich und christlich gelingender Partnerschaft mit der Perspektive der sakramentalen Ehe als Ziel; also ein langer Weg der Ehevorbereitung, der den hohen Anspruch des Christseins nicht aufgibt, aber die Menschen in ihrer Unvollkommenheit auf ihrem Weg begleitet und ein Ziel plausibel macht.

Der Text der deutschen Bischöfe: „Auf dem Weg zum Sakrament der Ehe" bietet dazu eine hilfreiche lehramtliche und pastorale Grundlage. Er geht nüchtern von der heutigen Realität aus und fordert gerade deshalb, die kirchlichen Normen argumentativ vorzutragen und ihren lebensdienlichen Charakter deutlich zu machen(10). Er spricht von der langen Partnerschaftsgeschichte vor der Ehe und davon, daß die Kirche in der Lebensphase der jungen Menschen zwischen Firmung und Trauung weitere Wege des Zugangs zu den jungen Erwachsenen erschließen und ausbauen müsse(11). Er spricht von der Aufgabe, die religiöse Dimension menschlicher Liebe, Partnerschaft und Ehe überhaupt erst wieder zu erschließen, und stellt auch nüchtern fest, die meisten Paare hätten nur eine vage Vorstellung davon, was das Sakrament der Ehe bedeute(12).

Ganz offenkundig genügen zur Bewältigung der hier skizzierten Aufgaben nicht die herkömmlichen Ehevorbereitungs- und Brautleutekurse, auch wenn sie in dem Gesamtprozeß eine wichtige Station und Chance darstellen. Die möglichen Teilnehmer solcher Kurse sind zu heterogen, sehr unterschiedlich religiös sozialisiert und motiviert, kommen mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen, Erwartungen und Geschichten ihrer Partnerschaft. Versuche, die Kurse auf die neue Aufgabe hin weiterzuentwickeln und umzugestalten, gibt es in fast allen deutschen Diözesen. Nach einer in der Diözese Eichstätt vor einigen Jahren angefertigten Diplomarbeit von Markus Wonka mit empirischen Erhebungen zu den Kursen haben diese im Lauf der Jahre viele Veränderungen erfahren, aber systematische Überlegungen zu Angemessenheit und Wirksamkeit der Angebote liegen nach seiner Erkenntnis kaum vor(13). Hier liegt ein offenbar bisher wenig bearbeitetes Feld für eine empirisch orientierte Pastoraltheologie.

Darüber hinaus müssen sich freilich Moral- und Pastoraltheologie auch mit Fragen befassen, die von einer historisch arbeitenden Soziologie an die Tradition kirchlicher Normen zur Sexualität gestellt werden. Die kirchliche Norm, daß die volle sexuelle Hingabe ihren Ort in der Ehe habe, konnte in einer Zeit viel leichter befolgt werden, in der es gewissermaßen keine „Jugend" gab. In der vorindustriellen Gesellschaft war der Übergang aus der Kindheit zum Erwachsenenalter relativ kurz; die langen und immer länger werdenden Ausbildungszeiten unserer Gesellschaft kannte man, von der studierenden Jugend abgesehen, nicht. Ehen wurden deshalb in der Regel viel früher geschlossen als heute.

Schließlich muß auch daran erinnert werden, daß die strenge kirchenrechtliche Reglementierung der Eheschließung erst 1563 vom Trienter Konzil vorgenommen wurde. Ob, wann und wie eine Ehe zustande kam, war vor der Einführung der strengen „Formpflicht" keineswegs so klar wie danach. Mir scheint deshalb durchaus die Frage erlaubt, ob heutige junge Paare, die mit dem gegenseitig erklärten Willen zusammenleben, sich auf Lebenszeit treu zu bleiben, nicht schon in einer Ehe leben, auch bevor sie zur kirchlichen Trauung kommen. Ich räume ein, daß das laienhaft gefragt ist, ich meine aber, daß man diese Frage stellen muß; daß man deshalb auch die moralische Bewertung „vorehelichen Zusammenlebens" junger Paare neu und differenziert bedenken muß.

Geburtenregelung

Läßt sich die kirchliche Grundnorm, daß die volle geschlechtliche Begegnung von Mann und Frau in den Schutzraum des Treuebundes der beiden Personen gehört, einsichtig begründen, so vermag ich das für das strikte kirchliche Verbot sogenannter künstlicher Mittel der Geburtenregelung nicht zu sehen. Die große Diskrepanz zwischen der lehramtlichen Position und der Praxis der meisten Paare heute, aber auch der Überzeugung vieler Theologen und Seelsorger stellt für die Kirche eine Tragödie dar und hat die Autorität des kirchlichen Lehramts schwer beschädigt. Die Entscheidung Papst Pauls VI. in der Enzyklika „Humanae vitae" (1968), bekanntlich gegen die große Mehrheit einer von ihm berufenen Kommission getroffen, hat die positiven Aussagen seiner Enzyklika über die hohe menschliche und christliche Bedeutung der Ehe völlig überlagert und verhindert bis heute ein unvoreingenommenes Hören großer Teile des Kirchenvolkes auf kirchliche Lehren zu Sexualität, Ehe und Familie.

Die Begründung für das Verbot „künstlicher Mittel" in der Enzyklika lautet:

„Indem die Kirche die Menschen zur Beobachtung des von ihr in beständiger Lehre ausgelegten natürlichen Sittengesetzes anhält, lehrt sie, daß ,jeder eheliche Akt' von sich aus auf die Erzeugung menschlichen Lebens hingeordnet bleiben muß" (Nr. 11).

Johannes Paul II. hat sich diese Aussage wiederholt zu eigen gemacht und bringt sie in Familiaris consortio in enge Verbindung mit der Nummer 50 von Gaudium et spes, wo diese Konkretisierung gerade nicht vorgenommen wird(14). Ich kann und will mich hier nicht in die komplexe moraltheologische Diskussion der Problematik begeben. Ich stelle vielmehr einige einfache Fragen, auf die ich beim Lehramt, auch bei Johannes Paul II., keine einsichtige Antwort finde.

Welcher Begriff von Natur ist in der Rede vom natürlichen Sittengesetz oder Naturgesetz gemeint? Alle Texte, auch die der beiden Päpste, argumentieren in Übereinstimmung mit dem Konzil mit der Person-Natur des Menschen und seiner Würde. Diese „Natur" ist aber die eines Leib-, Geist- und Kulturwesens. Es kann also im „Naturgesetz" nicht einfach die biologische Natur gemeint sein. Der Mensch greift als Kulturwesen ständig in naturhaft Vorgegebenes ein, er reguliert, kultiviert, begrenzt und pflegt es. Das biologisch Gegebene bildet Bedingungen seines Handelns, stellt aber von sich aus keine moralische Norm dar. Moralische Normen lassen sich naturrechtlich nur aus der Person-Natur des Menschen begründen; so etwa die einleuchtende Grundnorm, daß sexuelle Begegnungen nicht die Personwürde verletzen dürfen. Auf dieser Linie hatte das Zweite Vatikanum argumentiert.

Es leuchtet anthropologisch und schöpfungstheologisch ein, daß die Ehe offen sein muß für die Weitergabe des Lebens. Wieso daraus folgt, daß das für jeden ehelichen Akt gilt, leuchtet keineswegs ein. Wenn die Kirche ausdrücklich sagt, die Eheleute sollten in eigener Verantwortung über Zahl und Abfolge der Geburten entscheiden, warum sollen sie dann nicht in ihrer personalen Verantwortung auch über die dazu anzuwendenden Mittel entscheiden dürfen? In die ganzheitlich-personale und lebensgeschichtliche Sicht plötzlich ein quasi biologisches Argument einzuführen, stimmt zudem auch gerade biologisch nicht. Von der biologisch verstandenen Natur her ist keineswegs jeder sexuelle Akt offen für die Weitergabe des Lebens. Das gilt nicht nur für Akte während der unfruchtbaren Tage der Frau, die das Lehramt gelten läßt, sogar als Weg der Geburtenregelung empfiehlt; es gilt auch für alle sexuellen Begegnungen während einer Schwangerschaft und nach der Phase der Fruchtbarkeit, im Alter. Die Biologie des Menschen gibt also die Norm nicht vor, die die Kirche lehrt.

Eine ganzheitlich-personale Anthropologie gibt diese Norm erst recht nicht vor. Die Kirche lehrt heute selbst, abweichend von der früheren Rangordnung der Ehezwecke, die sexuelle Begegnung der Eheleute sei Ausdruck personaler Liebe, sie mache diese elementar erlebbar und stärke sie. Es ist nicht einzusehen, wieso diese Bedeutung und Wirkung ehelicher Sexualität von der Wahl der Methoden zur Empfängnisregelung abhängen soll, sofern diese einvernehmlich zwischen den Paaren erfolgt. Johannes Paul II. und Theologen, die seine Position verteidigen, argumentieren, die Wahl künstlicher Mittel verhindere die gegenseitig vorbehaltlose Hingabe der Eheleute, weil sie die Offenheit für die Zeugung neuen Lebens wegnehme(15). Dieses angeblich nicht biologische, sondern personale Argument gewinnt aber Evidenz nur aus der Annahme, von Natur aus sei jeder eheliche Akt offen für die Zeugung. Aber eben dies ist nicht einsichtig.

Man wird als Laie den Verdacht nicht los, es lebe in der lehramtlichen Position doch hartnäckig die alte, vielleicht auch zölibatär bedingte Abwertung bis Verachtung des Sexuellen fort. Dabei müßte doch auch Theologen, zumal im Blick auf die Unauflöslichkeit der Ehe, also auf die Forderung lebenslanger Treue, einsichtig sein, daß beglückende sexuelle Begegnungen zwischen Eheleuten ein starkes Eheband darstellen, das man als gute Gabe Gottes - Kant hätte gesagt, als List der Natur - schätzen sollte, ohne ständig den Zeugungszweck ins Spiel zu bringen. Menschliche Sexualität hat mehrere Sinndimensionen. Die der Fruchtbarkeit ist sicher eine zentral wichtige; sie darf prinzipiell nicht ausgeschlossen werden. Aber eine strikte Verbotsnorm für bestimmte Methoden der Empfängnisregelung läßt sich aus ihr nicht ableiten.

Bleibt das Argument von der immer gleichbleibenden Lehre der Kirche. Aber auch das ist nicht haltbar. In der Auslegung dessen, was „Naturrecht" bedeutet, hat das Lehramt erhebliche Wendungen vollzogen. Man braucht nur an Themen wie Menschenrechte und Religionsfreiheit zu erinnern. Die Wandlungen sind auch in der Sexualmoral unübersehbar. Augustinus hielt das, was heute von der Kirche als Zeitwahl in der Ehe empfohlen wird, für sündhaft. Dietmar Mieth faßte die Ergebnisse einer Untersuchung von Albert Ziegler SJ von 1981 zusammen, auch sie spiegeln den Wandel der kirchlichen Lehre über Ehe und Sexualität im Lauf der Jahrhunderte(16). Galten der Geschlechtsakt und die mit ihm verbundene Lust jahrhundertelang als notwendiges Übel, nur zu rechtfertigen um der Zeugung von Nachkommenschaft willen, so hieß es später, auch die geschlechtliche Lust sei gut, vorausgesetzt, sie werde nicht um ihrer selbst willen gesucht, was auch immer das heißt. Noch später dann hieß es, im sexuellen Akt dürfe auch die Zeugung ausgeschlossen werden, vorausgesetzt, man wähle dazu die unfruchtbaren Tage der Frau.

Wenn man weiß, was die strenge kirchliche Lehre unter früheren Generationen von Gläubigen, die sich dadurch im Gewissen verpflichtet fühlten, anrichtete, auch an Tragödien bewirkte, dann möchte man als Laie die Träger des Lehramtes auch fragen, ob sie einmal den Vorwurf Jesu bedacht haben, den dieser den gestrengen Schriftgelehrten seinerzeit machte: „Sie schnüren schwere Lasten und legen sie den Menschen auf die Schultern ..." (Mt 23,4). Ich vermag nicht zu erkennen, daß die Frage der Methoden der Geburtenregelung, und nur um diese geht es hier, zum „Depositum fidei" gehört, dessen verbindliche Auslegung Aufgabe des Lehramtes ist.

Unstreitig enthält die Offenbarung grundlegende sittliche Weisungen. Das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe und seine Ausfaltung im Dekalog bilden ihren Kern. Will man daraus konkretere Handlungsnormen für Lebensbereiche und Lebensführung gewinnen, dann genügt nicht die Berufung auf die Autorität des Lehramtes. Dann müssen die Eigengesetzlichkeiten der Lebensbereiche und die jeweiligen Umstände mit in Betracht gezogen werden, und also darf der gläubige Laie vom Lehramt Begründungen erwarten, die vernünftig nachvollziehbar sind. Ich kenne nur wenige Priester und noch weniger Laien, die die kirchliche Lehre in diesem Punkt als vernünftig nachvollziehbar akzeptieren. Jedenfalls müssen sich die Träger des Lehramtes ernsthaft die Frage nach dessen Reichweite stellen und müssen, je weiter sie sich in wandelbare Interpretationen wagen, überzeugende Argumente vorlegen, statt sich auf eine angeblich gleichbleibende Tradition zu berufen. Diese ist schon zu oft durch unhaltbare Festlegungen geschädigt worden.

Wiederverheiratete Geschiedene

Auch dieses Problem brauchen wir hier nicht im Detail darzustellen. Es ist hinlänglich bekannt und viel diskutiert17. Schon die Würzburger Synode hatte in ihrem Text „Christlich gelebte Ehe und Familie" das Pro und Contra der kirchlichen Praxis dargestellt. Auf ein Votum konnte sie sich nicht einigen, bat aber die Deutsche Bischofskonferenz und Rom um weitere theologische Klärung und um eine pastoral befriedigende Lösung. Bekannt ist auch der von Rom zurückgewiesene Versuch der drei Bischöfe von Freiburg, Rottenburg und Mainz aus den 90er Jahren, für seelsorglich individuelle Lösungen ein kirchliches Plazet zu geben.

Inzwischen ist die Frage, ob die Kirche nicht neue Antworten finden muß, in mehrfacher Hinsicht noch dringlicher geworden. Die Zahl der Ehescheidungen nimmt auch unter Katholiken weiter zu, auch bei jungen Ehen. Daß eine Ehe scheitern kann und die Paare dann den Weg der Scheidung wählen, ist in unserer Gesellschaft heute durchweg als Möglichkeit akzeptiert, und natürlich wirkt solche Akzeptanz mehr und mehr verhaltenssteuernd, sogar normbildend. Für viele Christen, deren Bindung an die Kirche ohnedies nicht allzu eng ist, werden deshalb Scheitern der Ehe, Scheidung, Wiederverheiratung Anlässe, sich von der Kirche ganz abzuwenden. Wie kann und soll die Kirche auf diese Realität antworten? Es nimmt auch die Zahl der Christen zu, die nach einer Scheidung in einer neuen Partnerschaft leben, auch in einer zweiten zivilen Ehe, die aber doch in der Kirche bleiben wollen. Sie leiden schwer unter ihrer Situation und fragen die Kirche nach pastoraler Hilfe und Begleitung. Diese ist aber nicht leicht zu leisten. Viele Seelsorger finden gar nicht die nötige Zeit dazu, andere sind keine guten Gesprächspartner, weil sie sich durch die vorgegebenen kirchlichen Normen gehemmt und unsicher fühlen.

Die zur Zeit vielfältig beobachtbare kirchliche Praxis ist denn auch nicht befriedigend. Es entzieht sich zwar der Kenntnis und dem Urteil Dritter, was Betroffene, beraten auch durch Seelsorger, in ihrem Gewissen entscheiden, und das ist gut so. Aber was von außen beobachtbar ist, wirkt widersprüchlich. Nacheheliches Zusammenleben von Paaren wird weithin in den Gemeinden stillschweigend geduldet, auch eine zivile Zweitehe; kirchliche Angestellte kommen erst durch diese, keineswegs durch das Zusammenleben an sich, in Schwierigkeiten. Kirchenamtlich wird häufiger als früher auf die Möglichkeit der Annullierung einer Ehe hingewiesen, aber die Praxis scheint von Diözese zu Diözese unterschiedlich, hier rigoros, dort eher lax gehandhabt. Eine Antwort auf die Scheidungsproblematik kann sie per se nicht sein.

Selbstverständlich weiß der gläubige Katholik, der mit und in der Kirche lebt, daß es in dieser leidigen Problematik keine einfache Antwort gibt. Die Unauflöslichkeit der Ehe ist im Evangelium selbst unmittelbar begründet. Die Eheleute versprechen sich lebenslange Treue, und sie sollen als Christen diese Treue durch ihr Leben bezeugen. Andererseits gibt es die Realität der Schuld und des Scheiterns an menschlichen Unzulänglichkeiten. Und es gibt, menschlich sehr verständlich, die Suche nach neuer Partnerschaft, zumal wenn Ehen früh zerbrochen sind. „Es ist nicht gut für den Menschen, allein zu sein", heißt es im Schöpfungsbericht. Aus neuer Partnerschaft ergeben sich in aller Regel auch neue Verpflichtungen, aus denen sich zu lösen auch die Kirche den Betroffenen nicht zumuten darf.

Es bleibt deshalb bei aller Schwierigkeit doch die Frage an die kirchlich Verantwortlichen, die ja auch von nicht wenigen Theologen diskutiert wird, warum nicht eine pastorale Praxis möglich sein soll, wie sie die orthodoxe Kirche kennt. Auch sie lehrt die Unauflöslichkeit der Ehe, gibt aber im Fall des Scheiterns dem heilsökonomisch-pastoralen Aspekt den Vorrang vor dem dogmatisch-rechtlichen. Die Schuld der Betroffenen wird nicht stillschweigend zugedeckt, vielmehr ist der kirchliche Segen für eine zweite Ehe nur unter bestimmten Kautelen möglich, unter Bußauflagen, auch unter zeitweiligem Ausschluß von der Eucharistie. Aber die Lehre, das Dogma wird nicht zu einem Rechtssatz, der dem Erbarmen und Verzeihen keinen Raum mehr läßt(18).

Man kann zumindest fragen, ob nicht eine solche Praxis, von der Kirche offensiv und überzeugend verkündet und vertreten, sowohl dem Evangelium als auch der menschlichen Realität besser gerecht würde als die strikte rechtliche Handhabung einer Norm. Es scheint dies übrigens das einzige Feld, in welchem die Kirche die christliche Norm mit absoluter Konsequenz rechtlich durchsetzt. Ein Priester kann laisiert werden, obwohl uns die dogmatische Lehre von der Priesterweihe sagt, sie verleihe dem Geweihten einen „Character indelebilis" (ein unzerstörbares Merkmal). Ich weiß, daß der Vergleich nicht ganz stimmt. Der Laisierte verliert diesen Charakter nicht, aber immerhin wird er vom strengen Versprechen des Zölibats gelöst, und es gibt viele Beispiele, wie solche Lösung dann eine glückliche und fruchtbare Ehe und auch erfolgreichen Dienst in der Kirche ermöglicht. Jedenfalls sind hier Recht und Barmherzigkeit besser vereinbart als im Fall der wiederverheirateten Geschiedenen.

Defizite in der Pastoraltheologie

Wie oben gezeigt, wird in den Verlautbarungen des kirchlichen Lehramtes die Aufgabe sehr wohl gesehen und artikuliert, die normativen kirchlichen Vorstellungen von Ehe und Familie positiv zu vermitteln mit den Realitäten der heutigen Gesellschaft, so daß sie zu pastoralen Hilfen für die Menschen werden können. Dies genauer zu beschreiben, Problemlagen und Möglichkeiten zu erfassen, ist Aufgabe einer empirisch arbeitenden wissenschaftlichen Pastoraltheologie. Das wird dort auch gesehen und beschrieben, aber bislang zu wenig konkret bearbeitet.

Eine Studie von Jörn Günther über geschiedene katholische Ehepaare diskutiert in ihrem theoretischen Teil ausführlich an verschiedenen Modellen das Verhältnis von Pastoraltheologie und empirischen Humanwissenschaften und wendet die entsprechenden Erkenntnisse in ihrem empirischen Teil an. Sie gewinnt so konkrete Impulse für die pastorale Praxis; die empirische Basis dieser Arbeit ist freilich angesichts der geringen Zahl der untersuchten Fälle sehr schmal(19).

Gerhard Marschütz beschreibt die Aufgabe in seiner Wiener Habilitationsschrift unter dem Aspekt einer „Humanökologie" der Familie(20). Den Begriff entnimmt er der Enzyklika „Centesimus annus" von Johannes Paul II. (1991):

„Die erste und grundlegende Struktur zugunsten der ,Humanökologie' ist die Familie, in deren Schoß der Mensch die entscheidenden Anfangsgründe über die Wahrheit und das Gute empfängt, wo er lernt, was lieben und geliebt werden heißt und was es konkret besagt, Person zu sein."(21)

Der Papst skizziert dort knapp die gegenwärtigen mentalen und gesellschaftlichen Bedingungen, die es der Familie schwer machen, Sitz einer „Kultur des Lebens" zu sein. Von diesem lehramtlichen Impuls ausgehend entwirft Marschütz die Umrisse einer Pastoraltheologie, die empirische und normative Einsichten interdisziplinär und integrierend vermittelt und so den realen Möglichkeiten „familialen Seinkönnens" eher gerecht wird als eine auf die offenbarungstheologische Perspektive verengte Verkündigung und Pastoral. Das ist ein Programm. Es bleibt aber der begründbare Eindruck, daß die Pastoraltheologie konkret dazu bis heute wenig leistet. Empirische Studien wie die von Günther scheinen selten. Ebenso selten scheint die Bereitschaft junger, wissenschaftlich arbeitender Theologen, sich auf diesem Feld zu betätigen.

Ich muß dazu eine Erfahrung berichten, die wir am „Zentralinstitut für Ehe und Familie in der Gesellschaft" der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt in den letzten Jahren gemacht haben. Durch die großzügige Spende eines privaten Sponsors waren wir in der Lage, ein Forschungsprojekt zu konzipieren, das wir unter der Überschrift „Christentum und Familienkultur" beschrieben und wozu wir eine Reihe von Promotionsstipendien ausgeschrieben haben. Wir konnten zu insgesamt neun Teilthemen vom ökonomisch-sozialen über den pädagogisch-psychologischen bis zum philosophisch-ethischen Bereich Bewerberinnen und Bewerber gewinnen und ihnen für drei Jahre ein gut dotiertes Stipendium gewähren. Aus dem Bereich der Pastoraltheologie bekamen wir trotz zweimaligen Versuchs (Ausschreibung im ganzen deutschsprachigen Raum) keine Bewerbungen. Ein Grund dafür mag sein, daß der wissenschaftliche theologische Nachwuchs insgesamt gering ist. Aber immerhin kommt eine Erhebung für die ab 2006 laufenden Promotionsvorhaben in der deutschen katholischen Theologie auf die erkleckliche Zahl von 1004, für die Pastoraltheologie auf 96. Ausgesprochen empirisch angelegte Arbeiten scheinen allerdings selten. Unseren Theologen fehlt weithin der Zugang zu empirischer Forschung(22).

In persönlichen Gesprächen mit Moral- und Pastoraltheologen konnten wir aber auch nicht selten die Meinung hören, der Bereich Ehe und Familie sei „lehramtlich vermintes Gelände", auf welches die Professoren ihre jungen Leute nicht gern schickten, um ihnen nicht von vornherein Karrierenachteile aufzuladen. Wie immer man die angedeuteten Gründe gewichten und bewerten mag, es gibt jedenfalls ein großes Feld, auf dem Theologen durch empirische Forschung die Pastoral für Ehe und Familie kritisch begleiten und ihr dringend notwendige Hilfen vermitteln müßten. Als ein solches Feld scheint sich uns vor allem die breite und intensive Arbeit der kirchlichen Beratungsstellen anzubieten.

Kirchliche Beratung - Vorposten am Puls der Zeit

Die Kirche unterhält in Deutschland flächendeckende Beratungsmöglichkeiten in Ehe-, Familien- und Lebensfragen; dazu bieten alle Diözesen laufend Ehevorbereitungskurse an. Man darf annehmen, daß die in diesem Bereich Tätigen einen riesigen Schatz von Erfahrungen aus Jahrzehnten besitzen und gute Kenner der Probleme sind. Begleiter dieses wichtigen Zweigs kirchlicher Ehe- und Familienpastoral sehen in der Beratung ein „Auge und Ohr der Kirche" und sprechen von einem seismographischen Potential. Staatliche Stellen interessieren sich für diese Tätigkeit und fördern sie. Selbstverständlich findet sie auch kirchenamtlich hohe Anerkennung(23).

In einem Referat auf dem ersten Beratungskongresses des „Bundesforums Katholische Beratung" (BKB) im Oktober 2007 in Köln verortete Kardinal Karl Lehmann die beratenden Berufe an bedeutender Stelle:

Sie „stehen immer schon am Schnittpunkt und an der Wegkreuzung von Kirche und Gesellschaft. Wie ein Seismograph zeigen sie sehr sensibel an, wo die neu gewonnene Freiheit des Menschen mit ihren Chancen und Risiken umzuschlagen droht in neue Abhängigkeit. Die Beratungsdienste helfen durch dieses Aufspüren neuer Not der Kirche, das jeweils veränderte Antlitz des konkreten Menschen besser zu finden."(24)

Bischof Leo Nowak nannte auf einem Kongreß der Katholischen Bundesarbeitsgemeinschaft für Beratung die Beratungsstellen Vorposten am Puls der Zeit und sah in ihnen die hohe Chance, die Zeichen der Zeit zu erkennen(25). Ein Einblick in die internen Bemühungen der Beratungsstellen und ihrer Zusammenschlüsse lassen große Anstrengungen erkennen, die notwendigen fachlichen Standards von Beratung zu sichern und zu verbessern: durch theologisch-kirchliche Begleitung, durch Kooperation mit profanen Wissenschaftlern, durch Entwicklung und Anwendung neuer Programme, durch Erfahrungsaustausch, Kooperation und kritische Selbstprüfung.

Um so nachdrücklicher stellt sich die Frage, ob und wie das, was diese „Seismographen" erfahren und speichern, von der Kirche wahrgenommen, aufgenommen und verarbeitet wird; ob und wie es in die allgemeine Ehe- und Familienpastoral einfließt. Interessieren sich Theologen und Seelsorger für die Arbeit und die Erfahrungen in den Beratungsstellen? Gibt es regelmäßige Gespräche zwischen den Verantwortlichen der Pastoral und den Beraterinnen und Beratern? Vor allem möchte ich hier meinen aus Literaturrecherche und Gesprächen gewonnenen Eindruck festhalten, daß sich die Pastoraltheologie bisher ein zentral wichtiges Feld für empirische Forschung und deren Auswertung in pastoralen Konzepten entgehen läßt. Jedenfalls müßte die Wissenschaft der Pastoraltheologie in stärker empirischer Orientierung und in Verbindung mit einschlägigen Humanwissenschaften einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, die Diskrepanz zwischen der kirchlichen Botschaft von Ehe und Familie und dem, was die Menschen heute leben, zu überwinden.

Als Fazit meiner Überlegungen halte ich fest: Ich habe den gut begründbaren Eindruck, daß sich die Kirche in ihrer Verkündigung und Pastoral zu Ehe und Familie noch entschiedener auf die heutigen Realitäten in unserer Gesellschaft einlassen und den Mut haben muß, ihre normativen Positionen zu überprüfen, manche auch überzeugender zu begründen; und daß sie dabei die Hilfe einer empirisch arbeitenden Pastoraltheologie braucht, die diese bisher zu wenig leistet.

Die hier vorgetragenen Überlegungen sind unter anderem Ergebnis einer dreijährigen Leitung des Zentralinstituts für Ehe und Familie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, die ich 2005, obwohl schon länger emeritiert, infolge eines personalen Engpasses übernahm. Meine Tätigkeit in dieser Funktion hat mich die Dringlichkeit der Fragen für die Pastoral der Kirche noch einmal schärfer sehen gelehrt.

Stimmen der Zeit (2009) 219-233

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