Sieben Milliarden Menschen

Die Weltbevölkerung wird laut Vereinten Nationen im Herbst 2011 die Grenze von sieben Milliarden Menschen erreichen. Sie ist damit innerhalb von 13 Jahren um eine Milliarde gewachsen. Im Jahr 1960 lebten erst drei Milliarden Menschen auf der Erde. Für das Jahr 2050 ist eine Zahl von etwa 9,3 Milliarden zu erwarten.

Diese Zahlen verweisen auf einen dramatischen Tatbestand, der oft viel zu wenig wahrgenommen wird - zumal wenn man bedenkt, daß sie noch weit höher wären, wenn es in den letzten Jahrzehnten keine Bevölkerungspolitik gegeben hätte. Viele globale Probleme werden sich damit verschärfen, angefangen von Armut, Hunger und Urbanisierung bis hin zum Ressourcenverbrauch und Klimawandel. Allerdings sind diese globalen Zahlen nur bedingt aussagekräftig, denn hinter ihnen verstecken sich höchst unterschiedliche, ja teilweise sogar gegenläufige Tatsachen. Nur eine differenzierte und regionalspezifische Sichtweise erlaubt daher ein verantwortungsvolles Handeln.

Dies beginnt mit den Zuwachsraten. Sie liegen in den Entwicklungsländern (ohne China) bei 1,7, in den Industrieländern dagegen bei 0,2, in Europa bei 0,0 Prozent. Am höchsten ist sie in den allerärmsten Ländern, etwa in Afrika südlich der Sahara mit 2,5 Prozent, was zu einer Verdoppelung der Bevölkerung in 28 Jahren führen würde, wenn die Rate nicht sinkt. In Lateinamerika liegt sie bei 1,3 und in Ostasien bei 0,5 Prozent. Aber selbst innerhalb einzelner Länder gibt es krasse Unterschiede. So ist etwa die Bevölkerung Indonesiens von 1961 bis 2010 von 97 auf 240 Millionen angewachsen. Der Bevölkerungszuwachs hat sich jedoch dank erfolgreicher Familienplanung von 2,4 in den 70er Jahren auf heute 1,3 Prozent verringert. Das größte Problem ist jedoch die Bevölkerungsverteilung. Fast 60 Prozent der Indonesier leben auf der Insel Java mit nur knapp 7 Prozent der Landfläche. Die Bevölkerungsdichte beträgt 120 Einwohner pro Quadratkilometer, in Java sind es dagegen fast 1000 (in Deutschland: 230). Umgekehrt leben in Papua (Westneuguinea) weniger als zehn Einwohner pro Quadratkilometer.

In den Industrieländern (besonders in Europa), zunehmend aber auch in Schwellenländern wie China ist das Hauptproblem dagegen eine stagnierende oder rückläufige Bevölkerungszahl bei steigender Lebenserwartung. Dies bringt erhebliche Probleme mit sich, im wirtschaftlichen Bereich vor allem für den Arbeitsmarkt, die Rentensysteme und die Gesundheitsversorgung. Zuwanderung in größerem Umfang könnte eine Entlastung bringen, was aber auf große Widerstände stößt, nicht zuletzt weil dies die Probleme der Integration und der kulturell-religiösen Vielfalt verstärken kann.

Die Bevölkerungsentwicklung ist aber nicht nur ein quantitatives, sondern auch ein qualitatives Problem. Je nach Wirtschaftsweise, Lebensstil und technologischer Entwicklung bietet die Erde mehr oder weniger Menschen einen zuträglichen Lebensraum. Hauptsächlicher Risikofaktor ist das Wohlstandsmodell der reichen Länder; denn wenn alle Menschen in gleichem Maße Ressourcen verbrauchen und die Umwelt belasten würden, wäre die Erde schon heute "überbevölkert". Da dieses Modell große Anziehungskraft ausübt und andere Länder mit gutem Recht einen ähnlichen Wohlstand anstreben, geht von ihm eine gefährliche Dynamik aus. Letztlich geht es dabei um ein Verteilungsproblem zwischen reich und arm. Einziger ethisch verantwortbarer Ausweg ist ein ressourcen- und emissionsarmes Wirtschaftsmodell für alle. Dazu braucht es technologische Innovationen für eine weit höhere Ressourceneffizienz. Ebenso wichtig sind aber neue Leitbilder, was Wohlstand und Lebensstil betrifft.

Ganz andere Probleme können durch Bevölkerungspolitik entstehen. So gibt es in China und Südasien etwa 100 Millionen Frauen weniger, als "natürlicherweise" zu erwarten wäre (missing women). Dies ist eine Folge geschlechtsspezifischer Abtreibungen und Kindestötungen. Zumindest in Teilen Chinas hat dies teilweise zu einem enormen Männerüberschuß geführt, was ein erhebliches Konfliktpotential für die Zukunft schafft.

Viele Menschen und auch die Religionen stehen diesen Entwicklungen recht hilflos und oft sprachlos gegenüber. Dies gründet auch im kollektiven Gedächtnis der Menschheit - in armen noch weit mehr als in reichen Ländern. Bis in die jüngste Geschichte der Menschheit bestand das Hauptproblem nämlich darin, den Fortbestand von Bevölkerungen zu sichern, der durch Naturkatastrophen, Krankheiten und Kriege immer wieder gefährdet war. Erst im 19. Jahrhundert kam es dank moderner Hygiene und Medizin zu einer gegenläufigen Entwicklung. Damit sind bisher nicht gekannte Herausforderungen entstanden, die andere Antworten und Lösungen verlangen als in der Vergangenheit.

Dies gilt auch für die katholische Kirche. Schon vor 20 Jahren hat Kardinal Joseph Ratzinger zu Recht festgestellt: "Auch zum Weltbevölkerungsproblem ist vom kirchlichen Lehramt bisher, soweit ich sehe, noch nicht viel Hilfreiches gesagt worden" (Die Zeit, 29.11.1991). Ein Blick in die Soziallehre der Kirche zeigt, daß sich seitdem daran kaum etwas geändert hat.

Die Bevölkerungsentwicklung und die damit verbundenen Probleme gehören sicher zu den "Zeichen der Zeit" (Pastoralkonstitution "Gaudium et spes", Nr. 4). So wenig es einfache Antworten gibt, wie schon die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Probleme zeigt, so wenig darf die Kirche die Menschen dabei allein lassen oder sich auf unrealistische Positionen zurückziehen. Ein hilfreicher Beitrag wird vor allem zwei Aspekte berücksichtigen müssen. Zum einen muß man im Blick haben, daß das Bevölkerungsproblem "unter ethischem Gesichtspunkt zunächst nicht eine Frage der Sexualethik, sondern der Sozialethik" (Bischof Franz Kamphaus) ist. Ein Zweites hängt damit eng zusammen: Die Bevölkerungsfrage muß konsistent mit den zentralen Themen der Sozialverkündigung verknüpft werden - vor allem mit der Option für die Armen und der Bewahrung der Schöpfung.

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