Hygiene-DemonstrationenMissbrauchte Freiheit

So manche 1989-Demonstrantin reibt sich die Augen, wenn sie auf den sogenannten Hygiene-Demonstrationen die Schilder mit der Aufschrift „Wir sind das Volk“ sieht. Damals gingen die Menschen für die demokratischen Freiheitsrechte eines ganzen Volkes auf die Straße – und riskierten viel. Heute pochen Menschen auf ihr Recht, zu einem Virus eine abweichende Meinung zu haben – und gefährden damit andere. Hier wird Freiheit gründlich missverstanden.

Ich bin froh und dankbar, in einem Land leben zu dürfen, in dem die individuel­len Freiheitsrechte geschützt sind. In Deutschland dürfen wir denken, glauben und sagen, was wir wollen. Unsere Rede­, Versammlungs­- und Religionsfreiheit sind gesetzlich verankert und auch für die Ge­richtsbarkeit ein hohes Gut.

Aber ich habe den Eindruck, in letzter Zeit verschiebt sich etwas. Manche meinen, die Freiheitsrechte nur für sich selbst be­anspruchen zu können. Da demonstrieren Leute für ihre Freiheit, keine Maske zu tra­gen. Sie tragen keine, riskieren bewusst, andere zu infizieren. Damit stellen sie ihre eigenen Ansichten über den Gesundheits­schutz anderer. Und das ist für mich ein Missbrauch von Freiheit.

Wieso werden Menschen aggressiv gegen diejenigen, die überzeugt sind, eine Maske schütze nun einmal alle in Coronazeiten? Ich muss sagen, da kommt meine Toleranz an Grenzen. Tolerare meint ja ertragen. Ich ertrage, dass andere anderer Mei­nung sind. Aber die Grenze ist da, wo sie aufgrund dieser Meinung die Gesundheit anderer gefährden, die bisherigen Erfolge bei der Eindämmung von Neuerkrankun­gen mit COVID-19 in Frage stellen, ja das gesamte Gesundheitssystem an Grenzen bringen könnten.

Und da sind diejenigen, die erklären, man dürfe hierzulande nicht mehr frei seine Meinung äußern. Wütend erklären sie, es gäbe eine „Lügenpresse“, alles werde dik­tiert, sie würden mundtot gemacht. Aber genau diese Leute machen alle anderen fertig, im Netz, durch Mails, Hassposts, Bedrohungen denen gegenüber, die ihre Meinung nicht teilen. Hallo? Wo ist denn meine Freiheit, zu sagen, zu schreiben, dass ich ihre Meinung nicht teile?

Martin Luther hat geschrieben: „Der Chris­tenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan.“ Ein funda­mentaler Satz der Reformation. In Fragen des Glaubens oder auch der eigenen Über­zeugung darf kein Mensch gezwungen werden. Anders ausgedrückt: Die Gedan­ken sind frei! Das ist eine große Errungen­schaft der Reformation: Du darfst selbst nachlesen, selber denken!

Luthers berühmter Satz hat allerdings einen zweiten Teil: „Der Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Freiheit ist also nicht nur ein Recht für mich selbst, das ich in Anspruch nehme. In einer demo­kratischen Gesellschaft ist sie auch eine Verpflichtung, die Freiheit der anderen mitzudenken.

Was ist mit der Freiheit der Polizisten, die Demonstrationen auflösen müssen und sich dabei vielleicht mit Corona in zieren? Was ist mit der Meinungsfreiheit von Jour­nalistinnen, die bedroht und angepöbelt werden als „Lügenpresse“?

Wer demonstriert, will sich zeigen, sich erklären, das bedeutet das Wort demon­strare. Dann muss er auch Gesicht zeigen – mit Maske natürlich ;­) – und erläutern, wie er mit anderen zusammenleben will. Verantwortung für unser Land haben auch Demonstranten. Nur gegen etwas sein, ist allzu simpel. Freiheit ist ein hohes Gut für alle, nicht nur für einzelne. Wer Freiheit egomanisch nur für sich selbst einklagt, missbraucht sie.

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