Halt und Haltung und die Kunst, andere Überzeugungen zu ertragen

Dass unterschiedliche Glaubensüberzeugungen innerhalb einer Religion, aber auch unterschiedliche Religionen nebeneinander in Frieden leben können, scheint in den USA leichter zu sein. Margot Käßmann lebte 2010 für fünf Monate in Atlanta.

Halt und Haltung und die Kunst, andere Überzeugungen zu ertragen
Ein chassidisches Paar in New York.© ULU_BIRD / iStock / GettyImages

Als Jugendliche war ich zum ersten Mal in den USA, für ein Jahr als Schülerin an einem Internat. Für mich war sehr neu, dort Jugendlichen jüdischen Glaubens zu begegnen. Die Kapelle der Schule haben wir alle abwechselnd genutzt. Ich wurde gefragt, was ich als Deutsche zum Holocaust zu sagen hätte – offen gestanden hatte ich mit 16 nicht darüber nachgedacht.

Jahre später war ich zu einem Kongress in den USA, hielt einen Vortrag und wurde anschließend von einer Frau angesprochen. Sie erklärte, sie sei Jüdin, nicht gläubig, aber „cultural jew“. Das hat mich sehr ins Nachdenken gebracht. Was heißt das, jüdisch sein, aber gar nicht religiös? Ich denke, das ist bis heute etwas, das andere nicht wirklich begreifen: Sich jüdisch zugehörig fühlen, heißt nicht unbedingt, religiös zu sein. Und vielleicht ist das auch das Dilemma, das Jüdinnen und Juden fühlten, als die Nationalsozialisten sie kategorisierten: Ihr seid Juden! Aber sie fühlten sich als Deutsche, als Liberale oder Konservative, als religiös oder säkular.

Als ich 2010 für fünf Monate in den USA war, hatte ich Zeit für intensivere Begegnungen. Einen Shabbat lud mich eine liberale jüdische Gemeinde in Atlanta ein. Ein Dozent an der Universität, an der ich zu Gast war, hatte das vermittelt. Sie hatte sich von der Ursprungsgemeinde abgespalten, weil sie Homosexualität nicht als Sünde ansah. Wir haben einen wunderbaren Festabend gefeiert. Ich wurde freundlich aufgenommen, die Shabbatfeier war sehr entspannt, es war ein Gefühl von völlig unverkrampftem Miteinander. Dass ich Christin aus Deutschland war, fanden manche interessant, andere nicht, und genau das fand ich gut so.

Ein paar Wochen später hat mich die jüdisch-orthodoxe Gemeinde von Atlanta eingeladen, dieses Mal vermittelt über eine Frau aus Deutschland, die dem Bruder, der in der Gemeinde eine Rolle spielte, von meinem Aufenthalt in Atlanta erzählt hatte. Dort habe ich jüdisches Leben der anderen Art kennengelernt. Eine Frau sagte mir, die Christen in den USA würden ein Haus in der Nähe der Schule ihrer Kinder suchen, die jüdischen Familien ein Haus in der Nähe der Synagoge. Und das wurde auch deutlich. Am Shabbat liefen in diesem Viertel alle zu Fuß – in den USA eine absolute Ausnahme –, jeder schien jeden zu kennen, es herrschte eine sehr familiäre, fast dörfliche Atmosphäre mitten in der Großstadt.

In der Synagoge waren Männer und Frauen durch ein Gitter getrennt. Eine Frau übergab ihren neugeborenen Sohn ihrem Ehemann über das Gitter hinweg. Er ging mit dem Kind nach vorn, der Rabbiner nahm es in den Arm, es kam ein anderer Mann mit Tasche – ich habe eine Beschneidung nach uraltem Ritus erlebt. Das Kind schrie, die Gemeinde klatschte. Sehr fremd das alles.

Am Mittag war ich zum Essen beim Rabbiner eingeladen. Eine absolut koschere Doppelküche wie diese hatte ich nie vorher gesehen: ein Bereich für Milchprodukte, ein Bereich für Fleischprodukte. Ich habe bewundert, wie viel Arbeit es für eine Hausfrau ist, alles separat zuzubereiten, selbst das Geschirr zu trennen. Fremd hieß aber ja nicht beängstigend, ich war eher neugierig, zu verstehen, wie das gehandhabt wird.

Beim Essen fragte mich dann ein Mann: „Warum sollte ich mich eigentlich dafür interessieren, dass Sie einen von uns für Gottes Sohn halten?“ Ich war so verblüfft, dass ich mich daran bis heute erinnere. Denn es ist ja eine interessante Frage. Meine Antwort war, dass es doch wichtig sei, sich füreinander zu interessieren, damit Religionen zum Frieden und nicht zum Konflikt beitragen. Mein Gesprächspartner fand das nicht besonders relevant.

Nach dem Essen ging es zurück in die Synagoge. Ich habe gelernt, dass hier die jüdische Gemeinschaft viel mehr ist als eine Glaubensgemeinschaft. Es ist eine Lebensform, ein sozialer Kontext, in dem Kinder aufwachsen und Halt und Haltung finden. In den USA scheint es leichter, so verschiedene Haltungen nebeneinander zu ertragen. Vielleicht in Zeiten von Donald Trump nicht mehr. Aber die Idee, dass unterschiedliche Glaubensüberzeugungen innerhalb einer Religion, aber auch unterschiedliche Religionen nebeneinander in Frieden in einem Land leben können, ohne sich gegenseitig die Liebe zu ihrem Heimatland abzusprechen, die bleibt für mich faszinierend.

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